3.
Computer lügen nicht?
Hans-Jürgen:
Klingt alles schön altmodisch, was wir hier verbreiten …
Holger:
Klingt altmodisch, ist es aber nicht. Die ganze Elektronik, mit der wir es heute zu tun haben, kann Sinneswahrnehmungen nicht ersetzen. Natürlich haben wir Diagnosegeräte. Ich lasse mir moderne Werkzeuge allerhand kosten, und Diagnosecomputer und Auslesegeräte gehören selbstverständlich dazu. Aber mit Stecker rein und Info vom Display ablesen ist es nicht getan. Der Computer sagt mir vielleicht: Der und der Sensor ist kaputt, aber das ist erst der Anfang, meine fünf Sinne muss ich trotzdem einsetzen. Was der Computer mir erzählt, ist für mich allenfalls ein Hinweis.
Hans-Jürgen:
Einen Fehler auszulesen ist nämlich nur Teil der Diagnose. Das ist ja die Crux heute: Viele denken, die modernen Autos sind so verdammt schlau, die sagen uns alles, die liefern zum Fehler die Diagnose gleich mit, und wir brauchen dann nur noch Teile auszutauschen …
Holger:
Nein! Da zeigt der Computer zum Beispiel an: Lambdasonde kaputt. Wahr ist: Im Abgas ist zu viel Sauerstoff. Aber ist die Lambdasonde deswegen kaputt, wie mir der Fehlerspeicher weismachen will? Setze ich jetzt womöglich im blinden Vertrauen auf den Computer eine neue Lambdasonde für 100, 200 oder 300 Euro ein und rufe den Kunden an und sage: »Wissen Sie, die Lambdasonde war auf jeden Fall kaputt, die haben wir schon mal ausgetauscht, aber es muss noch etwas anderes sein …«, weil der Fehler nämlich immer noch da ist? Alles Quatsch. Die Lambdasonde misst den Restsauerstoff im Abgas, und da braucht vorne bloß eine Dichtung undicht zu sein, schon haben wir die Erklärung für einen erhöhten Restsauerstoffwert.
Die eigentliche Frage lautet: Warum macht die Lambdasonde denn Ärger? Und um das hinterfragen zu können, muss man das System Auto verstehen. Gerade bei uns in der freien Werkstatt kommen ja viele unterschiedliche Autos und Modelle zusammen. Da geben wir ’ne Menge Geld aus, um auf alle Pläne und technische Daten zugreifen zu können. Und dann werden systematisch die Bauteile und ihre Funktionen und Signale gemessen und der Fehler so logisch eingekreist. Das ist erst mal die Grundbedingung. Dazu kommen natürlich Erfahrung und das Achtgeben auf die eigenen Sinne.
Bei unserem Beispiel mit der Lambdasonde kann die altmodische Sinneswahrnehmung die Fehlersuche verkürzen. Eine Messung der Signale, die die Sonde sendet, zeigt aber auch, ob sie arbeitet und ersetzt werden muss. Ich würde sagen: Grob geschätzt 95 Prozent der in Deutschland ausgewechselten Lambdasonden hätten nicht erneuert werden müssen, wenn man den Fehler systematisch gesucht und dabei die Sonde einzeln gemessen hätte. Oder eben seinem Gehör vertraut hätte.
Hans-Jürgen:
Insgesamt bin ich aber bei dir, Holger, hier würde schon ein besseres technisches Verständnis weiterhelfen. Bei diesem Vorgehen wird nämlich komplett vergessen, dass alle Bauteile eines Autos Parameter haben. In unserem Fall wären das die Werte, die die Lambdasonde ans Steuergerät sendet. Wenn die Lambdasonde nicht ordnungsgemäß regelt, kann ich diese Parameter aufrufen, gebe dann ein paarmal Gas und stelle vielleicht fest: Aha, da sind eben doch Signale zu sehen. Es kommen also Spannungswerte raus. Und wenn sich die Sonde im nächsten Moment nicht mehr bewegt, dann liegt es daran, dass sie am Anschlag arbeitet und die Regelgrenze erreicht ist. Mehr Spannung kann sie eben nicht rausgeben. Bevor ich die Lambdasonde austausche, muss ich also unbedingt prüfen, ob sie noch Ausschläge produziert. Wenn ja, kann sie gar nicht kaputt sein.
Holger:
Stimmt. Elektronik riecht und rappelt nicht, und wenn es um Elektronik geht, wird gemessen und abgelesen. Aber wie gesagt: Computerdaten liefern nur Hinweise, und wenn wir mit wachen und mit gut ausgebildeten Sinnen an unseren Job herangehen, spart der Kunde unter Umständen viel Geld.
So, und damit erst mal Schluss mit Geräuschen. Das Leben hat noch mehr zu bieten, nämlich zum Beispiel den einen oder anderen verdächtigen Geruch. Der kann, wie bei uns Menschen, mehrere Ursachen haben. Er kann zum Beispiel im Bereich der Klimaanlage entstehen. Er kann von Öldämpfen oder vom Abgas herrühren. Manchmal riecht’s auch nach Benzin, und sollte es verbrannt riechen … dann schaut mal hinten am Auspuff nach. Hat sich da vielleicht eine Plastiktüte verfangen?
Hans-Jürgen:
Wenn ein Kunde über sein Auto sagt: »Ich hab Abgase im Innenraum«, ist nach meiner Erfahrung übrigens Skepsis geboten. Ich öffne dann die Haube und hänge erst mal meine Nase über den Motor, gebe ein paarmal Gas, schnüffele und stelle häufig fest: Das ist kein Abgas, das sind Öldämpfe aus dem Kurbelgehäuse. Ein großer Unterschied. Aber für den Kunden ist es dasselbe – es stinkt halt.
Und dann kommt es vor, dass ich bloß um ein Auto herumzugehen brauche, um zu wissen: Der verliert Kraftstoff. Dann gucken mich alle an – »Wie, der verliert Kraftstoff?« – »Ja, irgendwo muss eine Kraftstoffleitung undicht sein.« Wie ich darauf komme? Tja, es reicht, wenn nur irgendwo unterm Auto ein Tröpfchen an einer Kraftstoffleitung hängt – schon habe ich den Geschmack von Benzin auf der Zunge. Ich schmecke Benzin, noch ehe ich es rieche.
Holger:
Machst du Witze, Hans-Jürgen?
Hans-Jürgen:
Nein, durchaus nicht. Ist so.
Holger:
Also gut, weiter im Programm. Das Hören steht ganz oben, dann kommen das Riechen, meinetwegen auch das Schmecken und – ebenfalls ganz wichtig – das Fühlen, das Spüren, das Ertasten. Weil ein defekter Wagen sich irgendwie anders anfühlt, weil da Vibrationen auftreten, die nicht auftreten dürften. In unserem Gewerbe kennen wir ja das Popometer. Das funktioniert so: Du sitzt im Auto und registrierst mit deinem hochsensiblen Hinterteil, wie sich ein Wagen verhält – nicht anders als ein guter Rennfahrer. Michael Schumacher brauchte nur durch eine Kurve zu fahren und wusste ganz genau: Da stimmt was mit meiner Hinterachse nicht. Der war mit seinem Rennwagen verschweißt, und uns geht es nicht anders – wir setzen uns rein, fahren los und spüren die kleinste Vibration, kriegen mit, wenn der Wagen beim Beschleunigen kaum merklich in eine Richtung zieht, registrieren, wenn das Lenkrad beim Bremsen leicht schlackert. Und genauso können wir uns durch Tasten vergewissern, ob wir einen Defekt übers Gehör korrekt lokalisiert haben – an einer defekten Stelle treten ja oft Vibrationen auf, die dort nichts zu suchen haben. In jedem Fall geht es die ganze Zeit um Gefühle.
Hans-Jürgen:
Weißt du noch, Holger? Der Mini mit den defekten Antriebswellen … ? Beim Beschleunigen hat man gemerkt: Der wackelt vorn. Aber nur beim Beschleunigen! Bei dem Auto ist zuvor schon dies und jenes versucht worden. Es waren auch schon Gelenkwellen erneuert worden, alles ohne Erfolg. Wir fahren also mit dem Mini, spüren die Vibrationen und wissen, in welche Richtung wir zu denken haben, denn – die Gelenkwellen können es nicht sein. Gelenkwellen sind immer, beim Beschleunigen wie beim Bremsen, in der gleichen Position, das Wackeln kann also nicht daher rühren. Aber wenn man den Wagen hinten schwer belegt oder kräftig Gas gibt, geht er vorne hoch, und in diesem Fall kann nur das innere Gelenk einer Antriebswelle ein Wackeln verursachen … Experimentelle Diagnostik.
Holger:
So, und erst in dem Augenblick, wenn wir zum Schraubenzieher greifen, kommen endlich auch die Augen zu ihrem Recht; bis dahin aber müssen wir uns auf Gehör und Gefühl verlassen können. Das Sehen liefert eben oft nur eine Bestätigung für das, was uns Ohr und Nase oder Fingerspitzen und Popo bereits gesagt haben – es sei denn, es handelt sich um Karosserie- oder Lackschäden. Das heißt: Begutachtet wird mit den Augen – aha, an der Wasserpumpe hängt tatsächlich ein Tropfen. Also zur Bestätigung dafür, dass unsere Vermutung zutrifft und das betreffende Teil wirklich kaputt ist. Denn Fehldiagnosen unterlaufen auch uns, und bevor es ans Teileaustauschen geht, bevor der Kunde tief ins Portemonnaie greifen muss, wollen wir hundertprozentig sicher sein.
Jetzt gibt es an Autos natürlich jede Menge Stellen, wo man mit bloßem Auge nicht hinkommt, ohne alles auseinanderzunehmen. Aber wozu haben wir uns dieses wunderbare Endoskop zugelegt? Ein großartiges Spezialwerkzeug für den Fall, dass kein Hören, kein Fühlen und kein … Schmecken hilft, sondern nur Gucken, Hingucken, Reingucken. Wie bei dem Mercedes, der irgendwo oben rechts an der Windschutzscheibe undicht war.
Wo genau, das war zunächst nicht auszumachen. Die vorige Werkstatt hatte bereits die ganze Frontscheibe mit Silikon abgedichtet. Klar, die wollten dem Kunden eigentlich kostengünstig helfen. Weil dann aber immer noch Wasser eintrat, hatten sie vorgeschlagen, das Dach zu erneuern. Wäre teuer geworden, denn der Wagen hatte ein geteiltes Glasdach – im vorderen Teil fest montiert, im hinteren als Schiebedach. Gut, so weit kam es nicht, aber auch wir hatten unsere liebe Not mit diesem Wagen – die undichte Stelle konnte winzig klein sein, und das war sie auch. Sollten wir das vordere Glasdach ausbauen? Das war eingeklebt, das hätte beim Rausnehmen beschädigt werden können, das hätte wieder eingeklebt werden müssen – viel Arbeit also, hohe Kosten, lieber nicht. Mein Sohn hat dann den ganzen Himmel abgenommen, und am Ende fiel unser Verdacht auf ein Löchlein am Rand des Glasdachs, ein Bearbeitungsloch vielleicht, das mit einem kleinen Gummipfropfen verschlossen war. Hatten wir die undichte Stelle entdeckt?
Mit bloßem Auge nicht zu beurteilen. Um sicherzugehen, sind wir mit dem Endoskop von der Seite durch den Zwischenraum zwischen dem Doppelblech des Dachs an diese Stelle gefahren und haben gesehen: Genau dort hatte sich Dreck angesammelt, nämlich Rückstände vom Wasser, das hier eingedrungen war. Jetzt hatten wir Gewissheit. Wir haben uns dann die Zeit genommen, den Pfropfen mit einer Pinzette vorsichtig rauszuziehen, einen neuen zu besorgen und den mit einem Spritzer Silikon genauso behutsam wieder reinzufriemeln – fertig …
In kniffligen Fällen wie diesem zeigt sich, was für ein tolles Werkzeug ein Endoskop ist. Und es fühlt sich für uns auch sehr gut an, wenn wir dem Kunden hinterher sagen können: »So, das hat jetzt zwar alles in allem 500 Euro gekostet, aber Ihr Wagen ist wieder hundertprozentig dicht. Bei der Vertragswerkstatt hätten sie Ihnen das komplette Dach rausgenommen, einen vollen Tag berechnet, und Sie hätten noch mal 1000 Euro mehr drauflegen müssen.«
Womit wir beim Thema markengebundene Vertragswerkstätten wären …