6.
Was sich so alles zwischen Mensch und Auto abspielt
Holger:
Was sagt uns die Polo-Geschichte, Hans-Jürgen?
Hans-Jürgen:
Keine Diagnose ohne Kontaktaufnahme.
Holger:
Genau. Wie jeder weiß, sind Autos keine seelenlosen Maschinen. Und man kann keine Diagnose stellen, ohne mit dem Auto in direkten Kontakt zu treten. Bei mir läuft das so: Wenn ich keine Lösung finde, ziehe ich mich mit dem Auto sozusagen in die Einsamkeit zurück. Dann muss ich ungestört sein, dann gibt es nur noch uns beide, und dann fühle ich mich in das Auto hinein. Das geht nicht im normalen Tagesbetrieb. Ich brauche Ruhe, es darf keiner um mich herum sein, und dann nehme ich mir bisweilen einen Stuhl und setze mich vor das Auto – merkwürdigerweise davor, nicht dahinter, nicht daneben, als müsste ich ihm in die Augen sehen, wenn ich mit ihm rede – und vertiefe mich in den Fall. Konzentriere mich. Lasse den Patienten auf mich wirken. Taste ihn in Gedanken ab. Sortiere in meinem Kopf, was ich bis dahin über ihn in Erfahrung gebracht habe. Mache mir ein möglichst vollständiges Bild von seinem inneren Zustand. Und habe dabei oft genug das Gefühl, dass bei dieser Beschäftigung etwas von dem Auto zurückkommt. Als wäre es bereit, zu kooperieren. Nun gut, es soll nicht übertrieben spirituell klingen, aber …
Hans-Jürgen:
… aber es ist eine Tatsache, dass es bei dir so funktioniert. Ich selbst bin zwar kein Autoflüsterer, aber der direkte Kontakt ist für mich genauso wichtig. Das hat sich noch nicht überall herumgesprochen. Es kommt immer wieder vor, dass mich jemand anruft, der mir erzählt, welche Macke sein Auto hat, und mich um eine Ferndiagnose bittet. Ich höre mir dann seine Erzählung am Telefon an und sage zum Schluss: »Bringen Sie mir den Wagen vorbei, ich gucke nach.« Antwort: »Aber ich wohne in Braunschweig!« – »Sehen Sie«, sage ich, »das ist der Grund, weshalb ich Ihnen nicht helfen kann. Ich kann auf die Entfernung keine Fehleranalyse vornehmen.«
Holger:
Es ist wirklich so, dass es um die sinnliche Erfahrung der körperlichen Präsenz eines Autos geht. Alle Sinne müssen an der Fehlerdiagnose mitwirken. Auch ein Video reicht nicht. Da hat einer während der Fahrt mit dem Handy aufgenommen, was ihn am Motorgeräusch seines Wagens stört, und spielt im Kundengespräch den Soundtrack für mich ab – auch das nützt nichts, auch das kann man sich sparen. Ich brauche den direkten Kontakt, um ein Gefühl für das Auto zu bekommen. Und ich bin sicher: Zwischen Mensch und Auto spielt sich etwas ab, wenn man sich auf diese – fast möchte ich sagen: intime – Begegnung einlässt.
Hans-Jürgen:
Das andere ist unsere langjährige Erfahrung. Wenn einer meiner Monteure in der Werkstatt einen Fehler sucht und nicht draufkommt, bin ich die letzte Instanz. Dann komme ich vorbei und frage: »Was hast du bisher gemacht?« Ich höre mir das an, zähle eins und eins zusammen, verknüpfe diese Informationen und sage dann: »Hast du schon das und das geprüft?« – »Nein.« Aha. Er macht’s, und der Fehler ist behoben. Die Vorarbeit hat er bereits geleistet – ich brauche nur noch meine Schlussfolgerungen daraus zu ziehen.
Holger:
Natürlich befragt man ein Auto auch direkt durch die Messungen, die man vornimmt. Aber das Entscheidende ist etwas, das ich als Impuls bezeichnen möchte. Irgendwann, plötzlich und unerwartet, gibt es einen Impuls. Du bist selbst überrascht, du denkst im ersten Moment: Nee, kann unmöglich sein … oder doch?, prüfst nach – und das war’s. Das ist die Lösung. Aber diesen Impuls erlebst du niemals, wenn du dich mit deinem Patienten nicht unterhältst, ihm keine Aufmerksamkeit schenkst, dich nicht hundertprozentig auf ihn einlässt.
Weißt du noch, Hans-Jürgen? Dieser Opel, der auf dreieinhalb Zylindern lief? Ein Fall, der mir bis in alle Ewigkeit in Erinnerung bleiben wird. Ein Kunde bringt uns einen Opel Omega, 2 Liter, Benziner. Der Mann hatte sich einen neuen Auspuffkrümmer gekauft und eigenhändig eingebaut, allerdings mit dem Effekt, dass sein Wagen von Stund an so unruhig lief, als würde ein Zylinder nicht sauber mitlaufen. Sein Verdacht fiel natürlich gleich auf den Krümmer. Er bringt sein Auto also zu Opel, erzählt die Krümmergeschichte, die gucken sich den Krümmer an, finden nichts und bauen ihn wieder ein – erneuern aber nebenbei die komplette Auspuffanlage. Nur dass das Übel damit keineswegs behoben ist. Schließlich landet der Wagen bei uns, wir schauen nach, und … wirklich rätselhaft. Nichts zu sehen.
Tja, es ist grundsätzlich falsch, sich darauf zu verlassen, was andere vorher schon gemacht haben. Sollte man nie tun. Wenn die Leute uns erzählen: Das und das und das ist bereits repariert oder ausgetauscht worden … Unsinn, kannst du alles vergessen. Du musst mit deinen Überlegungen ganz von vorn anfangen! Du musst so tun, als hätte der betreffende Wagen nie eine Werkstatt gesehen! Denn wenn man nicht bis zum Ausgangspunkt zurückgeht, weil andere Werkstätten ja schon dies und jenes gemacht haben, übersieht man mit großer Wahrscheinlichkeit das Entscheidende.
Wie sind wir bei diesem Omega vorgegangen? Wir haben zunächst den Krümmer abgebaut, ihn zur Seite gelegt und den Wagen ohne Krümmer laufen lassen – aha, wer hätte das gedacht? Der Motor lief wunderbar, nichts zu beanstanden. Folglich mussten wir uns den Krümmer gründlicher vornehmen. Außen war nichts zu sehen. Und innen? Wir haben das Endoskop eingesetzt, sind damit in den Krümmer gefahren – und machen eine Entdeckung: Tief drinnen ist ein Gussfehler passiert. Es handelt sich um einen Billig-Krümmer aus dem Internet, und da sitzt tatsächlich ein Knubbel an der Innenwand, der das Durchlassloch teilweise blockiert, sodass sich die Abgase an dieser Stelle stauen … Fehler gefunden.
Was ich damit sagen will: Verlassen kann man sich nur auf die eigenen fünf Sinne. Und manchmal muss man sich reinknien. Ausdauer beweisen. Die Fähigkeit zu komplexem Denken an den Tag legen. Und so lange tüfteln und grübeln und kombinieren, bis man die Lösung hat.
Hans-Jürgen:
Das technische Wissen nicht zu vergessen, denn ohne gründliche technische Kenntnisse hilft alles Tüfteln und Grübeln nichts. Deshalb komme ich noch einmal auf die Lambdasonde zurück.
Was macht eine Lambdasonde? Ihre Aufgabe ist, den Schadstoffausstoß zu verringern. Zu diesem Zweck vergleicht sie permanent den Restsauerstoffgehalt im Abgas mit dem Sauerstoffgehalt der Außenluft und leitet den ermittelten Wert an ein Steuergerät weiter. Dieses Steuergerät wiederum beeinflusst die Gemischbildung und sorgt für die Anpassung der Einspritzmenge. Nun arbeitet die Lambdasonde aber nur innerhalb eines gewissen Bereichs; in Extremsituationen gerät sie an die Regelgrenze und kann dann gar nicht anders, als im Diagnosecomputer einen Fehler anzuzeigen. »Ich bin am Anschlag, ich weiß nicht weiter«, will sie dem Fehlerspeicher damit sagen. Aber viele Monteure verstehen: »Ich bin kaputt«, und tauschen sie kurzerhand aus. Nur – die neue Sonde kann es auch nicht besser als die alte.
Warum ein solches Bauteil also nicht erst mal prüfen? Warum nicht die Parameter aufrufen und fragen: Hey, Lambdasonde, was machst du, wenn ich dir was wegnehme? Oder was zugebe? Vielleicht blüht sie dann plötzlich auf, und ich merke: Sie ist gar nicht kaputt! Warum aber geht sie dann in einem Bereich an den Anschlag? Vielleicht, weil sie zu viel Luft bekommt? Oder weil sie zu wenig Luft bekommt? In jedem Fall müsste man dann an anderer Stelle nach der Ursache suchen, nicht bei der Lambdasonde selbst.
Holger:
Richtig. Man muss sich grundsätzlich fragen: Welches technische System liegt hier überhaupt vor? Viele machen sich gar keine Gedanken darüber. So gibt es zum Beispiel Werkstätten, die keine Vorstellung davon haben, wie eine Klimaanlage funktioniert. Die wissen nur: Da ist der blaue Anschluss, da ist der rote Anschluss, das ist die Niederdruckseite, das ist die Hochdruckseite – wenn sie es überhaupt wissen –, da klemme ich mein Gerät dran, und so kann ich die Flüssigkeit austauschen. Aber was genau technisch abläuft, dass man kalte Luft gar nicht herstellen, sondern nur Wärme abführen kann, die physikalischen Hintergründe eben … Längst nicht alle unsere Kollegen sind in diesem Bereich bewandert. Die stecken den Stöpsel rein, sagen: »Aha, daran liegt’s«, tauschen das Teil aus, und das war’s.
Nun gut, Hans-Jürgen, wir sind auch keine Götter. Aber ich kann von mir behaupten, dass es mich leidenschaftlich interessiert, woraus sich ein Auto zusammensetzt, wie die einzelnen Teile arbeiten und warum sie welchen Zweck erfüllen. Diese Neugier geht so weit, dass ich nicht einmal vor riskanten Selbstversuchen zurückschrecke. Sie hinterlässt selbst heute noch manchmal Schrammen und blutige Finger. Neulich zum Beispiel … Es ging damit los, dass wir unseren neuen Nussschalen-Blaster auspackten, ein geniales Gerät, mit dem man aber auch Verkokungen beseitigen kann.
Hans-Jürgen:
Wenn ich dazu kurz bemerken darf, Holger: Im Prinzip könnte man für solche Arbeiten auch einen Sandstrahler nehmen. Aber im Bereich des Motors würde man bei Sand einen Kolbenfresser riskieren, denn Sand ist einfach zu hart. Wenn du hingegen Nussschalengranulat nimmst, gehst du kein Risiko ein. Wenn sich davon ein paar Krümel in den Zylinder verirren, ist es nicht weiter tragisch.
Holger:
So, wir halten dieses wunderbare Gerät zum ersten Mal in unseren Händen und müssen es natürlich umgehend ausprobieren: Welche Wirkung hat das Ding? Mit welcher Kraft spritzt das Granulat da raus? Also halte ich die Hand vor die Mündung, drücke ab, das Zeug schießt raus, ich jaule auf, und meine Hand ist mit roten Flecken gesprenkelt … Meine Hochachtung! Dieses Teil werde ich nie wieder auf meine Hand richten. Später erzählen wir dem Hersteller von unserem Selbstversuch, und der ist entsetzt: »Seid ihr verrückt? Damit haben wir zu Testzwecken sogar mal einen kleinen Baum gefällt!«
Hans-Jürgen:
Natürlich lag eine Bedienungsanweisung bei, ein richtiger Wälzer. Aber den haben wir gleich zur Seite gelegt – wir lesen doch keine Bedienungsanleitungen …
Holger:
Wir sind eben praxisorientiert. Das mag nicht so ganz dem Berufsbild der Berufsgenossenschaft entsprechen, aber solange unsere Mitarbeiter nichts abkriegen, nehmen wir uns gewisse Freiheiten. Kurzum: Wir sind mit Leib und Seele dabei. Und wenn wir uns bei den Dreharbeiten auf die Finger hämmern und das Blut am Handgelenk runterläuft, dann sagt Lars, unser verehrter Produzent: »Tut doch wenigstens ein Pflaster drauf.« Nee, Quatsch, überflüssig. Ein Spritzer Bremsreiniger tut’s auch. Bremsreiniger stoppt Blutungen im Handumdrehen – wie Hans-Jürgen bestätigen kann.