7.
Der nicht weniger verhexte Mercedes 300 SL
Holger: Zurück zu den dramatischsten Stunden im Leben eines Kfz-Mechatronikers. Man soll es nicht glauben, aber – es gibt Autos, die Werkstätten gleich reihenweise hinters Licht führen. Vielleicht der übelste Vertreter dieser Spezies war ein Mercedes 300 SL Cabrio, Baujahr 1989. Also aus der Anfangszeit der Digitalisierung.
Hans-Jürgen: An diesem Fahrzeug hatten sich bereits etliche andere versucht, nicht zuletzt eine Mercedes-Werkstatt. Alles zusammengenommen hatten unsere Vorgänger schon Ersatzteile im Wert von ungefähr 6000 Euro eingebaut. Da war also viel neue Technik drin, trotzdem spielte der Wagen nach wie vor verrückt.
Holger: Es geht schon gleich gut los. Wir setzen uns rein, lassen den Motor an, und er gurgelt nur schlapp vor sich hin. Plötzlich pendelt der Drehzahlmesser hin und her, weil der Wagen von sich aus stoßweise Gas gibt, als wäre ein nervöser Fahrer am Werk, der seinen Motor in kurzen Abständen ungeduldig aufheulen lässt. Dann trete ich aufs Gas, der Wagen kommt in Fahrt, und der Fehler ist weg. Nichts, einwandfreies Fahrverhalten. Höchstens, dass der Motor etwas schwammig wirkt, jedenfalls nicht 100 Prozent Leistung bringt. Also, tut uns leid – das wird etwas länger dauern, den müssen wir ausführlich Probe fahren.
Hans-Jürgen: Ich schnappe mir das Auto und fahre los. Landstraße, Autobahn, alles in allem über 1000 Kilometer. Das Verrückte ist: Unser Cabrio zeigt sich die ganze Zeit von seiner besten Seite. Mit jeder Verkehrssituation kommt es problemlos zurecht, nicht die geringste Beanstandung. Ich kann also nichts finden, bringe den Wagen zurück, stelle ihn Holger vor die Tür, der will am späten Nachmittag damit im Stadtverkehr rumfahren …
Holger: … ich setze mich also rein, und nach drei Minuten bleibe ich mitten auf einer Kreuzung in Köln liegen. Der Wagen wiegt knapp 3 Tonnen, gefühlt 10 Tonnen, ich kriege ihn jedenfalls nicht aus eigener Kraft von der Fahrbahn weg, schiebe, schwitze, fluche, da halten tatsächlich etliche Fahrer an und steigen aus. Als Autodoktor liegen zu bleiben, wirkt auf andere Menschen offenbar irrwitzig komisch, jedenfalls bepissen sich die Leute vor Lachen – hätte ja keiner damit gerechnet, jemals einem der Autodoktoren aus der Verlegenheit helfen zu dürfen! Ich also in einem hochexplosiven Zustand, aber gemeinsam kriegen wir das Fahrzeug von der Straße. Sofort nehme ich mein Handy, wähle Hans-Jürgens Nummer, er geht dran, und ich lege los: »Hast du sie noch alle? Willst du mich verarschen? Du erzählst mir, dass der Wagen wie am Schnürchen läuft, und ich fahre keine 200 Meter damit, bleibe mitten auf der Kreuzung liegen und kann mir auch noch die Kommentare anhören …!« Und Hans-Jürgen: »Unmöglich.« Das ist alles. Gut, ich steige wieder ein, starte den Wagen, der Motor springt an, ich fahre los … und der Fehler ist weg.
In den nächsten Wochen wiederholte sich dieses Spiel: Der Fehler trat unvermittelt auf und war dann wieder für Stunden oder Tage verschwunden. Kurz und gut, ich habe unendlich viel Zeit mit diesem Auto verbracht. Meine Frau hatte schon keine Lust mehr, damit zu fahren – so ein alter SL ist ja nicht sonderlich bequem.
Irgendwann stoße ich beim Messen auf einen kaputten Kabelstrang, schneide die Isolierung auf und sehe den Salat – das Innere total zerlegt. Ich hab also Hans-Jürgen angerufen: »Ich hab’s! Ich hab’s!« Ja denkste, auch mit neuem Kabelstrang bleibt alles beim Alten. Als Nächstes entdecke ich einen Defekt an der Drosselklappe, jubele schon wieder innerlich, erneuere einen der beiden Drosselklappen-Potenziometer – aber der Fehler ist immer noch da. Und irgendwann kommt der Mensch an einen Punkt, da will er nicht mehr. Meist lasse ich ein Auto dann für ein, zwei Tage stehen und kümmere mich nicht mehr drum. Jetzt aber bin ich so weit, mit diesem Katastrophenmobil überhaupt nichts mehr zu tun haben zu wollen. Die Kundin ist verständlicherweise entsetzt. »Seit drei Monaten haben Sie meinen Wagen jetzt schon – was ist denn nun damit? Der Sommer ist in Kürze vorbei, und vorher würde ich gern noch mal damit fahren!« Tja …
Drosselklappe
Am folgenden Sonntag ziehe ich mich in die Werkstatt zurück, um mich ein letztes, ein allerletztes Mal still für mich mit dem Mercedes zu beschäftigen. Ich messe zum hundertsten Mal mit meinem Laptop, und plötzlich denke ich: Leck mich … Kann das denn sein? Da muss jemand zwei Kabel vertauscht haben, und zwar das des Ansaugluft-Temperatursensors und das des Nockenwellen-Sensors! Die Stecker sind tatsächlich identisch, die Kabel allerdings unterscheiden sich farblich voneinander …
Und das war die Lösung. Durch diesen Irrtum hatte das Steuergerät falsche Informationen bekommen. Von einer gewissen Betriebstemperatur an müssen die Informationen für Einspritzung und Zündung nicht mehr plausibel gewesen sein, woraufhin das Steuergerät seinerseits unplausibel reagierte. Also etwa zur Unzeit Gas gab.
Hans-Jürgen: Wobei man wissen muss: Dieser Fehler war uns von Anfang an beim Fehlerauslesen angezeigt worden! Da stand: Nockenwellen-Sensor. Wir hatten damals gleich den Hersteller angerufen, und der hatte uns beruhigt: »Machen Sie sich nichts draus. Der Fehler steht schon mal drin, das kommt vor, bedeutet aber nichts.« Nachdem wir die Kabel getauscht hatten, war im Computer allerdings nichts mehr von Nockenwelle zu lesen gewesen …
Holger: Alles unfassbar. Nie auf andere hören! Am Ende hieß es: Zwei Stecker tauschen – und das Auto lief wieder einwandfrei. Also 6000 Euro umsonst versenkt. Aber was dann kommt, wenn du den Fehler endlich gefunden hast, ist Gänsehaut. Gänsehaut von Kopf bis zu den Zehen. So ein Erfolg feiert sich in mir ab, da steht alles auf Triumph, und jeder Nerv signalisiert Glückseligkeit. Für solche Augenblicke mache ich meinen Job. Für das Triumphgefühl und die extrem breite Brust, die ich dann kriege.
Aber lassen wir den Fall noch einmal in aller Ruhe Revue passieren. Die erste Aufgabe in solchen Fällen lautet immer: Du musst rauskriegen, wann der Fehler auftritt. Bei welcher Betriebstemperatur, bei welcher Geschwindigkeit, bei welchem Wetter? Auf abschüssiger oder ansteigender Straße oder bei Schräglage? Alle diese Umstände gilt es in Betracht zu ziehen und zu einem Gesamtbild der Situation zusammenzusetzen, damit der Fehler reproduziert werden kann. Und die zweite Frage lautet dann: Warum tritt der Fehler auf? Bei unserem Mercedes allerdings waren diese Fragen gar nicht zu beantworten gewesen, weil der Defekt willkürlich auftrat. Es war kein System und keine Logik in seinem Verhalten zu erkennen gewesen. Die Fehlerquelle wurde daher eher zufällig entdeckt, und ich will noch einmal genauer auf die Ursache eingehen.
Ein Steuergerät hat man sich als programmiertes Kennfeld vorzustellen. Darunter versteht man, theoretisch gesprochen, die grafische Darstellung von veränderlichen Parametern in einem Diagramm. Verständlicher ausgedrückt könnte man sagen: Das Kennfeld ist das Gedächtnis eines Autos, oder besser: sein Bewusstsein. Dieses Kennfeld gleicht nun permanent alle Informationen ab, die es erreicht – vergleichbar mit dem Bewusstsein eines Skifahrers, der das Gelände checkt, das er vor sich hat. Er registriert das Gefälle, er merkt sich vereiste Stellen, er kalkuliert außerdem ein, dass sich gerade ein anderer Skifahrer nähert, und diese drei Informationen bestimmen sein Verhalten, wenn er jetzt losfährt. Ein Kennfeld funktioniert im Prinzip genauso. Es kombiniert alle verfügbaren Informationen, gleicht sie miteinander ab und richtet das Verhalten des Motors danach aus – ein hochkomplexer Vorgang, aber alle modernen Fahrzeuge arbeiten so.
Die Informationen, die ein Steuergerät empfängt, sind natürlich anderer Art als die des Skifahrers. Da zählt beispielsweise die Temperatur – sagen wir: 20 Grad –, da zählt das Gewicht der angesaugten Luft – sagen wir: 2,5 Kilo –, da zählt das Signal des Drosselklappen-Potenziometers – sagen wir: 1,2 Volt – und andere Einflüsse mehr. Diese Daten fließen alle in einem Punkt zusammen, und aus der Kombination sämtlicher Daten wird sowohl die Zündung gesteuert als auch die Kraftstoffmenge errechnet, die in einem bestimmten Moment eingespritzt werden muss. Dieser Vorgang spielt sich rasend schnell permanent ab, damit jederzeit ein optimales Gemisch gegeben ist.
Drosselklappen-Potenziometer
Aus dem Kennfeld bezieht das Steuergerät, kurz gesagt, alle nötigen Informationen. Erhält das Steuergerät nun falsche Informationen, wie es bei unserem Mercedes der Fall war, reagiert es begreiflicherweise irritiert und stellt irgendetwas Unsinniges an. Es gibt Gas, obwohl der Motor gar nicht auszugehen droht, oder es fährt den Motor runter, obwohl das Gaspedal durchgetreten ist, es agiert sozusagen, als hätte der Motor einen epileptischen Anfall, und genau das hatten wir mit diesem 300 SL erlebt.
Hans-Jürgen: Wieso er trotzdem 1000 Kilometer Probefahrt durchstehen konnte, ohne schlappzumachen? Offenbar hat ihn das Stop-and-Go im Stadtverkehr mehr gestresst als zügiges Autobahnfahren. Na ja, Ende gut, alles gut. Und die leidgeprüfte Besitzerin ist auch noch zu ihrer spätsommerlichen Ausfahrt im offenen Cabrio gekommen.