8.
Scheitern ist keine Option
Hans-Jürgen: Wann ist dir eigentlich die Erleuchtung bei diesem Mercedes gekommen, Holger?
Holger: In besagter stillen Stunde, als ich noch einmal an den Anfang zurückgegangen bin … Es ist ja so: Du entwickelst in deinem Kopf eine Reparaturgeschichte, und wenn du so weit gegangen bist wie wir in diesem Fall, verschwimmt der ganze Prozess irgendwann in deinem Gedächtnis, weil eins zum anderen kommt. Geh dann noch mal an den Anfang zurück. Rekapituliere jeden einzelnen Schritt. Was ist dir als Erstes, was als Zweites, was als Drittes aufgefallen? Und plötzlich dämmerte mir, dass ich ganz zu Beginn, drei Monate zuvor, schon auf den verdächtigen Nockenwellen-Sensor gestoßen war. Dummerweise hatte mir kein Schaltplan zur Verfügung gestanden –, aber ich hatte mir die Kabelfarbe dieses Sensors angeguckt, war dem Kabel nachgegangen und hatte geprüft, ob das Signal auch wirklich ankam. Ja, es kam an. Also hatte ich diesen Sensor als Fehlerquelle ausgeschlossen. Hätte ich einen Schaltplan gehabt, wäre mir wahrscheinlich aufgefallen: Die Farbe dieses Kabels ist falsch! Sie stimmt mit der im Plan vorgesehenen Farbe nicht überein! Mit anderen Worten: Das Signal kam an – nur war es eben nicht das richtige.
Darin hatte mein Fehler bestanden. Fehler in Anführungszeichen, denn ohne Schaltplan war die Kabelfarbe unmöglich zu bestimmen. Bei meiner Rekapitulation bin ich dann wieder auf diesen Nockenwellen-Sensor gekommen, habe noch einmal alle Parameter ausgelesen, habe mir das Kabel genauer angesehen, habe schließlich dieses Kabel gegen das des Ansaugluft-Temperatur-Sensors getauscht – und war am Ziel.
Also, die Erleuchtung … Sie kommt dir dann – und ich behaupte: immer nur dann –, wenn du zum Anfang zurückkehrst. Wenn du alles, was danach geschehen ist, aus deinem Gedächtnis verbannst und dich so dumm stellst, wie du im allerersten Moment warst. Wenn du deine anfängliche Unbefangenheit zurückgewinnst und noch einmal mit neuen Augen an die Sache herangehst.
Fassen wir zusammen. Bei diesem Mercedes 300 SL bin ich tatsächlich an meine Grenzen gestoßen. Ich war echt sauer. Ein Auto, das sein Geheimnis nicht preisgeben will, macht mich verrückt. Wenn du das erlebst – erst das wochenlange Herumrätseln, dann die Frustration, schließlich die Kapitulation vor Augen –, gibt es nur eine Erfolg versprechende Strategie: aussteigen. Den Wagen stehen lassen. Warten. Und zwei, drei Tage später weitermachen. Den Fall noch mal von vorn aufrollen, bis sich der Impuls, die zündende Idee, wider alle Erwartung einstellt. Also sich von dem Ärger erholen und dann mit unbefangenem Blick erneut an die Arbeit gehen.
Hans-Jürgen: Scheitern ist für die Autodoktoren jedenfalls keine Option … Ich kann mich nicht entsinnen, Holger, dass wir einmal in dem Sinne gescheitert wären, dass wir den Fehler nicht gefunden hätten.
Holger: Von uns darf man immer eine Lösung erwarten. Wobei wir unterscheiden müssen. Wenn wir die Filme drehen, steht die Diagnostik an erster Stelle. In diesem Fall nehmen wir Fahrzeuge, die nach einer Rundreise durch diverse andere Werkstätten unverändert kaputt zu uns kommen, genauestens unter die Lupe und analysieren, prüfen, durchleuchten. Das ist unser Job als Autodoktoren, und auf dem Gebiet haben wir eine Trefferquote von 100 Prozent. Etwas anders sieht die Sache aus, wenn im Werkstattalltag repariert werden muss. Das lehnen wir manchmal ab. Oder wir sagen dem Kunden klipp und klar: Ja, wir werden den Fehler finden, aber es können dabei viele Arbeitsstunden zusammenkommen. Mag sein, dass wir eine Stunde brauchen, mag aber auch sein, dass wir zwanzig benötigen. Wie sollen wir vorgehen? Denn bezahlen musst du, lieber Kunde … weil wir ein Wirtschaftsunternehmen sind.
Hans-Jürgen: Erinnerst du dich, Holger? Der Alfa Romeo mit der Kurbelwelle war so ein Fall, wo wir den Kunden für die Reparatur an eine Fiat-Werkstatt verwiesen haben. Dafür hatten wir uns aber bei der Diagnose allerhand einfallen lassen.
Holger: Ja, eine ganz merkwürdige Geschichte. Hatten wir noch nie erlebt. Immer, wenn dieser Wagen in eine Rechtskurve fuhr, fiel die Kupplung aus. Genauer gesagt: Man musste das Kupplungspedal zweimal durchdrücken. Beim ersten Mal ereignete sich rein gar nichts, beim zweiten Mal war der Kupplungsdruck plötzlich da. Dieses Phänomen trat nur in Rechtskurven auf – in Linkskurven funktionierte die Kupplung einwandfrei. Man ahnt schon, dass dies einer der seltenen Fälle war, in denen Hören-Riechen-Schmecken-Fühlen nicht weiterführen würde. Was haben wir gemacht? Um herauszufinden, woran es lag, haben wir den Parkplatz vor meiner Werkstatt leer geräumt. Also alle Autos weg, damit Hans-Jürgen mit dem Alfa im Kreis fahren konnte, immer rechtsherum. Dann haben wir die Motorhaube abgebaut, um mir Bewegungsfreiheit zu verschaffen, denn meine Aufgabe war, im Motorraum sitzend während der Fahrt das Getriebe im Auge zu behalten. Das war kein alltäglicher, das war auch kein ungefährlicher Job. Am Ende hockte ich auf dem Motorblock, einen Sturzhelm auf dem Kopf, mit Klebeband irgendwie an der Karosserie befestigt, den Kotflügel fest umklammert und den Blick starr nach unten gerichtet, während Hans-Jürgen seine Runden drehte. Und da zeigte sich: Die Kurbelwelle hatte Spiel. Durch die Masseträgheit wanderte sie in Rechtskurven ein Stück nach links und drückte die Kupplung auf diese Weise auseinander. Das heißt, der Weg, den das Ausrücklager zurücklegen musste, war zu groß. Erst mit dem zweiten Kupplungsdruck wurde das Lager so weit rübertransportiert, dass es in der richtigen Stellung war … Die ungewöhnliche Testmethode hatte sich also bewährt, aber ich war kurz davor, in meinen Helm zu kotzen.
Hans-Jürgen: Und diesen Schaden haben wir nicht repariert. Wir hätten den Motor ausbauen und zerlegen müssen, um die Kurbelwelle neu zu lagern, aber das verstehen wir nicht als unsere Aufgabe, das sollen sie bei Fiat machen. Was aber die Diagnose angeht, kann sich der Kunde darauf verlassen: Wenn wir einmal angefangen haben, ziehen wir das Ding bis zum Happy End durch. Da kitzelt uns auch der Ehrgeiz – andernfalls wäre ich nicht Stunde um Stunde in einem Mercedes 300 SL durch die Gegend gefahren, der uns sein Geheimnis auch nach 1000 Kilometern noch nicht verraten wollte.
So, Holger, haben wir das Thema Diagnose damit erschöpfend behandelt?
Holger: Es fehlt noch was.
Hans-Jürgen: Richtig. Es fehlt noch was. Nämlich Seine Majestät, der Kunde. Ganz wichtig. Nächstes Kapitel?
Holger: Nächstes Kapitel.