9.
Seine Majestät, der Kunde
Hans-Jürgen: Die Diagnose beginnt mit dem Kundengespräch an der Theke; da ist Holger mit mir wahrscheinlich einer Meinung. Wenn ein Kunde …
Nein, ich will anders anfangen. Ich möchte mit einer Kundin beginnen. Diese Kundin wird im ersten Gespräch etwa Folgendes sagen: »Mein Auto läuft nicht richtig. Das macht im Leerlauf …« – und sie ahmt ein schnatterndes Geräusch nach. »Und wenn Sie losfahren?«, will ich wissen. Antwort: »Es bleibt, ist aber nicht mehr so deutlich zu hören.« Aha. Prima. Jetzt habe ich schon eine annähernde Vorstellung. Da könnte eine Fehlzündung im Spiel sein, da könnte ein Zylinder ausgefallen sein, mit dieser Angabe kann man jedenfalls arbeiten.
Und jetzt der Mann. Er kommt zum Empfang und hört sich dann etwa so an: »Mein Auto läuft nur auf drei Zylindern. Das müssen die Zündkerzen sein. Schauen Sie sich die doch mal an.«
Holger: Kenne ich, Hans-Jürgen. Oft haben sich die Männer tatsächlich schon ein klares Bild von dem Defekt gemacht und geben ihre Vermutung als Diagnose aus. Selbstsicherheit ist ja gut und schön, aber in diesem Fall kann sie uns auf die falsche Fährte locken. »Ich habe ein Geräusch an meinem Wagen, es muss die Kardanwelle sein.« – »Aha. Sollen wir uns jetzt die Kardanwelle vornehmen?« – »Sie machen doch die Diagnose!« – »Aber Sie haben gesagt, es ist die Kardanwelle …« – und schon steht man da. Als Kunde sollte man seine Worte bei der Annahme also gut wählen, denn mit seiner Aussage beginnt die Diagnose. Für uns steht am Anfang immer die Frage: Wie empfindet der Kunde den aufgetretenen Fehler?
Hans-Jürgen: Und auf diesem Gebiet sind Frauen einfach besser. Sie setzen sich so gut wie nie ein festes Bild in den Kopf. Ihnen liegt auch nichts daran, uns gegenüber ihre Kompetenz unter Beweis zu stellen. Frauen sagen in aller Regel nur, was sie hören, spüren, bemerken, was ihnen aufgefallen ist.
Holger: Und das macht es leichter, sich in den Fall hineinzuversetzen. Man kann sich schon fast die Probefahrt sparen, weil Frauen uns einen sinnlichen Eindruck liefern, mit dem wir etwas anfangen können. Einer Frau gut zuzuhören, bringt uns jedenfalls oft schon ein ganzes Stück weiter. Solange es sich um ein verdächtiges Geräusch handelt, kommt man bei Männern hingegen um die Probefahrt nicht herum. Tritt dieses Geräusch auf, kann man meist alles, was sie sich vorher zusammengereimt haben, vergessen.
Hans-Jürgen: Geht mir genauso. Und dazu kommt: Viele Männer machen sich im Internet schlau, bevor sie in die Werkstatt kommen. Die wissen dann schon, woran es liegen muss, und damit fängt für uns das Rätselraten an: Richte ich mich nach der Einschätzung des Kunden, oder lasse ich mich von der Notwendigkeit leiten, den Fehler zu ergründen und zu beheben?
Holger: Mit anderen Worten: Zur Diagnose gehört eine ordentliche Portion Menschenkenntnis. Es gibt auch Männer, die sich mit der eigenen Beurteilung zurückhalten. Aber wenn wir so einen richtigen Experten vor uns haben, lässt er uns an seinem Wissen teilhaben und erwartet, dass wir baff sind. Also fragen wir uns grundsätzlich bei jedem, der unsere Werkstatt betritt: Wie ist er drauf? Um welche Gattung Mensch handelt es sich, mit welchem Auto kommt er an, in welchem Zustand befindet es sich, und wie wichtig ist ihm sein Fahrzeug? Wenn wir die Autotür öffnen, einen Blick in den Innenraum werfen und feststellen, dass man nur mit einem Rasenmäher durchkäme, wissen wir Bescheid: Der hat nicht viel für sein Auto übrig, der wird auch kaum eine hilfreiche Diagnose stellen können.
Kurzum, Kunden einschätzen zu können bringt uns echt weiter. Sollte man bei der Annahme nicht in eigener Person dabei gewesen sein, auf jeden Fall den Kunden noch mal anrufen und nachfragen! Der Kontakt zum Kunden ist genauso wichtig wie der Kontakt zum Auto.
Hans-Jürgen: Jetzt geht die Geschichte aber weiter, Holger. Was nicht selten vorkommt. Der Wagen, in diesem Fall ein älterer Peugeot, steht fertig im Hof, der Kunde kommt ihn abholen und sagt: »Ich habe an meinem Wagen gerade eine Beule entdeckt, die vorher nicht drin war. Das muss Ihnen passiert sein.« Ich gehe raus – was sehe ich? Der linke Kotflügel vorn war total verdellt. Das kann doch nicht sein … Jetzt haben wir bei uns zum Glück überall Videoaufzeichnung, drinnen wie draußen. Ich suche die fragliche Aufzeichnung raus, schaue sie mir mit dem Kunden zusammen an und sehe: Seine Frau kommt mit dem Auto auf den Hof gefahren, und der Kotflügel ist bereits Marke Wellaform. »Sehen Sie das?« Er stutzt. »Ja … Dann muss ich mal mit meiner Frau reden.« Das war vorher nicht! – wie oft habe ich diesen Satz in den letzten 40 Jahren schon gehört …
Holger: Immerhin lag hier keine böse Absicht vor. Bei uns ist mittlerweile auch alles mit Kameras ausgestattet. Seither sind die schönen Zeiten der hitzigen Wortgefechte vorbei – »Waren wir nicht!« – »Waren Sie doch!« Ich möchte nicht wissen, wie viele Schäden ich früher bezahlt habe, die vorher schon dran gewesen waren. Natürlich gehe ich immer davon aus, dass der Kunde uns nicht verkackeiern will, dass er die Beule in diesem Moment tatsächlich zum ersten Mal sieht.
Es kommt aber auch vor, dass dir jemand mit voller Absicht einen Schaden anhängt. Uns ist es passiert, dass eine Kundin sich bei uns im Hof ins Auto setzt, den Rückwärtsgang einlegt, Gas gibt, mit dem Heck voll gegen die Wand knallt, dann zu uns ins Büro kommt und zu meinem Sohn sagt: »Ihr habt mein Auto kaputt gefahren.« Haben wir uns das Video angeguckt – tja, Pech gehabt. Aber solche Vorkommnisse nagen an deinem Menschenbild …
Hans-Jürgen: Holger, du bist zu sensibel! Aber im Ernst … Kürzlich erst hat Holger einen langjährigen Kunden aus seiner Werkstatt rausschmeißen und die Polizei einschalten müssen. Da war plötzlich eine Mauer auf seinem Grundstück beschädigt, es lagen sogar noch Scherben von einem Mercedes-Rücklicht rum, er wusste aber von nichts. Guckt er sich also das Video an und sieht, wie ein Kunde beim Zurücksetzen die Mauer rammt, den Vorwärtsgang einlegt, Gas gibt und verduftet. Holger ruft den Mann an, der kommt vorbei und leugnet. Streitet alles ab, und tatsächlich – an seinem Rücklicht ist nichts zu sehen. Da hatte sich der Kerl ein gebrauchtes Rücklicht besorgt und eingebaut und geglaubt, er käme mit dieser Nummer durch. Unfassbar.
Holger: Traurig, dass wir zu unserem eigenen Schutz überall Kameras haben müssen.
Damit sind wir beim Thema Ehrensache. Stehen wir zu dem, was wir tun? Übernehmen wir Verantwortung für das, was wir leisten? Hans-Jürgen und ich machen das. Auch uns unterlaufen Fehler, aber alles, was schiefgelaufen ist, wird bei uns aufgedeckt, mit dem Kunden besprochen und wiedergutgemacht. Und ich garantiere: Jeder Kunde mit einer Reklamation, die ich bearbeite, ist glücklich und kommt wieder.
Hans-Jürgen: Du kommst mit deinem Laden ja nicht weit, Holger, wenn du nicht ehrlich bist. Es macht die Runde, wenn du jemanden betuppst. Der Kunde hat ein schlechtes Gefühl, fährt das nächste Mal in eine andere Werkstatt, und die sagen: »Mein Gott, was hat denn die Vorgängerwerkstatt mit Ihrem Wagen angestellt?«
Holger: So ist es. Folgender Fall kommt mir gerade in den Sinn: Uns wird ein Audi mit defekter Kardanwelle gebracht. Die Diagnose hat der Kunde selbst gestellt, aber gut, wir führen den Auftrag wunschgemäß aus. Dieser Kunde kommt von weit her, besucht gerade seine Freundin in Köln und hat die Gelegenheit genutzt. Später holt er den Wagen wieder ab, und anderntags laufe ich durch die Werkstatt und entdecke in einer Ecke ein Blech. Ein Abschirmblech, das die Hitze, die der Auspuff abstrahlt, von der Kardanwelle abhält. Fehlt dieses Blech, geht die Kardanwelle nach spätestens 30000 Kilometern kaputt.
Ich wende mich also an den Mitarbeiter, der die Kardanwelle erneuert hat. »Du hast vergessen, dieses Blech einzubauen.«
»Nee, das gehört nicht dazu.«
»Von wem soll das Blech denn sonst sein?«
»Weiß ich auch nicht.«
Okay, wir werden sehen. Auf dem Blech ist eine Produktionsnummer eingestanzt. Ich lasse in unserem Programm nachschauen, welchem Fahrzeugtyp diese Nummer zugeordnet werden kann, und komme über den Fahrzeugtyp zum Kunden. Aha, passt zu dem Audi mit der Kardanwelle, kann also nur unser von fern angereister Freund sein. Ich hätte jetzt hingehen und das Blech wegschmeißen können. Habe ich aber nicht. Ich habe den Kunden angerufen: »Wir haben an Ihrem Fahrzeug ein Blech vergessen. Sind Sie noch in Köln?« – »Ja.« – »Können Sie Dienstagmorgen vorbeikommen?« – »Klar.«
Er kommt, ich gucke unters Auto, Blech fehlt – Blech eingesetzt, erledigt. Zum Schluss habe ich mich entschuldigt und ihm eine Autogramm-Tasse von uns geschenkt … Harmonischer Reparaturverlauf.
Und darum geht es. Um die Gefühle des Kunden. Meine Kunden sollen ein gutes Gefühl haben. Und außerdem: Ich fühle mich ja selbst nicht wohl, wenn ich bescheiße. Also wenn die Situation nicht hundertprozentig eindeutig ist, entscheide ich zugunsten des Kunden. Denn ein Kratzer kann jedem passieren. Der Monteur verschiebt seine Werkzeugkiste, ein Draht guckt raus, schon ist der Kratzer im Lack. Meine Leute kriegen keinen Anschiss, wenn ihnen so was passiert. Und Ehrlichkeit ist gar nicht so schwer. Am Anfang mag sie Überwindung kosten, aber mit der Zeit wird sie dir zur Gewohnheit. In jedem Fall ist Ehrlichkeit für mich nicht bloß ein beliebiger Geschäftsgrundsatz, an den ich mich widerwillig halte – sie entspricht meiner vollen Überzeugung.
Hans-Jürgen: Geht mir ganz ähnlich. Wenn du was erfindest, um dir Ärger zu ersparen – bei der nächsten Begegnung verplapperst du dich sowieso. Es ist nämlich viel zu anstrengend, sich ständig auf seine kleinen Betrugsmanöver zu konzentrieren. Da bleibe ich lieber bei der Wahrheit. Im Übrigen: Wir machen unseren Job gern. Wenn du aber etwas mit Leidenschaft betreibst, wenn du mit dem Herzen dabei bist, liegt es dir sowieso fern zu schummeln.
Holger: Und das Geld kommt von selbst, wenn dein Geschäftsgebaren redlich ist. Das gibt’s noch obendrauf. Fazit: Allen ist gedient, solange es in einer Werkstatt mit rechten Dingen zugeht, und auch das Auto läuft wieder.