11.
Früher Science-Fiction, heute Alltag
Holger:
Wer hat das Wort, Hans-Jürgen – du oder ich?
Hans-Jürgen:
Du.
Holger:
Okay. Nehmen wir an, ich hätte ein Auto neuster Bauart vor der Tür stehen. Ich verlasse das Haus, ich nähere mich meinem Auto, und das Erste, was es macht, ist, mich zu scannen. Es weiß jetzt, wer da kommt, und denkt sich etwa Folgendes: Aha, das ist der Holger. Der ist jemand, der gewöhnlich schnell anfährt … und im nächsten Moment wählt es das entsprechende Getriebeprogramm für Schnellstarter aus. Der Holger liebt die flotte Gangart ganz unbedingt auch bei längerer Fahrt – also heizt es gleichzeitig die Abgasregelung vor, damit sich seine schadstoffmindernde Wirkung so rasch wie möglich einstellt. Im selben Moment fährt auch das Navigationssystem hoch, weil mein Auto ebenfalls weiß: Der Holger will vom ersten Augenblick an auf sein Navi zurückgreifen können. Sodann entriegelt es selbstständig die Fahrertür, und kaum hat Holger Platz genommen, fährt es den Sitz in die richtige, die komfortabelste, ergonomisch ideale Position. Und was ist mit den Außenspiegeln? Die stellt es natürlich auch selbstständig auf meinen Blickwinkel ein, genauso wie das Head-up-Display schon beim ersten Blick durch die Frontscheibe in meinem Blickfeld liegt.
Dies alles hat das Auto von sich aus gemacht, noch bevor ich auf den Startknopf drücke. Das nächste Mal aber ist es meine Frau Elke Parsch, die sich ihm nähert. Und jetzt muss es umdenken, denn die Elke fährt vorsichtig. Die ist auch eine Umweltbewusste. Also passt sich das Auto einem anderen Fahrstil an und wechselt die Gangart – von sportlich auf gemütlich –, rückt ihr natürlich ebenfalls den Sitz zurecht und bedenkt obendrein die höhere Kälteempfindlichkeit meiner Frau – schon schaltet sich die Sitzheizung auf der Fahrerseite ein. Und so weiter und so fort, alles wie im Raumschiff Enterprise: Man kommt rein, man nimmt Platz, und sämtliche Systeme sind schon hochgefahren. Unglaublich faszinierend.
Hans-Jürgen:
Wenn man darüber nachdenkt, was so ein Auto alles von sich aus klärt und regelt, noch bevor man drin sitzt … Und wir sprechen hier nicht von der Mercedes-S-Klasse, sondern von Autos vom Typ Golf. Anderes Beispiel: Wir kommunizieren heute mit unseren Fahrzeugen über Apps. Während meine Frau mit meinem Auto durch die Stadt fährt, kann ich zu Hause den Ölstand kontrollieren, den aktuellen Kilometerstand abrufen und vieles mehr checken. Wobei die Informationen, die ich erhalte, natürlich auch ans Werk gehen.
Holger:
Jetzt könnte man natürlich einwenden: Wie schrecklich! Wir werden auf Schritt und Tritt kontrolliert! Ja, richtig. Aber Tatsache ist: Wir müssen mit der Entwicklung mithalten. Und wenn wir ehrlich sind: Was diese Autos können, begeistert uns im höchsten Maße. Muss dieser ganze Aufwand sein? Nein, sicher nicht. Aber geil finden wir ihn trotzdem.
Hans-Jürgen:
Holger, lass uns für einen Augenblick zurück in die 70er-Jahre gehen. Du erinnerst dich: Gegen Ende dieses Jahrzehnts kam der Mercedes 300 Diesel raus. Der hatte sensationelle 95 PS
! Der hatte eine Einspritzanlage mit Stempelpumpe, die Druck aufbaute und im richtigen Moment den Kraftstoff mit 120 bar einspritzte! – ebenfalls sensationell. Und was haben wir heute? Einen 3-Liter-Dieselmotor mit 340 PS
und einem Einspritzdruck von bis zu 2000 bar!
Holger:
Und ohne Vorglühen. Ohne Warten, bis das rote Lämpchen aufleuchtet. Und ohne Rütteln und Schütteln beim Anspringen. Auf Knopfdruck ist ein Dieselmotor heute da, man hört ihn kaum und hat auf Anhieb volle Leistung.
Hans-Jürgen:
Und dieser Motor spritzt nicht nur ein Mal ein. Im selben kurzen Moment erfolgt eine mehrfache Voreinspritzung, dann die Haupteinspritzung und schließlich eine mehrfache Nacheinspritzung – nur zu dem Zweck, damit wir in den Genuss eines sanften, sauberen Motorlaufs kommen und die Abgaswerte niedrig halten können. Mittlerweile sind wir sogar so weit, dass die Einspritzanlage eines Diesels den schmutzigen Feinstaub vorne einsaugt und hinten durch den Auspuff als saubere Luft wieder von sich gibt. Heutige Autos stoßen tatsächlich weniger Feinstaub aus, als sie einsaugen! Man müsste also nur tausend moderne Dieselfahrzeuge durch die Stadt jagen, und anschließend würden alle wieder saubere Stadtluft atmen.
Holger:
Das größte Thema im Zusammenhang mit Verbrennungsmotoren ist heute jedenfalls die Abgasaufbereitung. Und die ist aufwendig und hoch kompliziert – wie alles andere auch. Dadurch haben wir an einem Fahrzeug natürlich zahllose neue Fehlerquellen. Hoch kompliziert ist die Regelung der elektrisch angesteuerten Ventile, der variablen Verstellung der Nockenwelle oder der höheren Öffnungszeiten der Einlass- und Auslassventile; dazu kommen noch jede Menge Steuergeräte und Sensoren und Aktoren … Das muss man sich so vorstellen: 40 bis 50 Steuergeräte sind es in einem normalen Mittelklassewagen, 110 bis 150 in einem Auto der Oberklasse, und alle kommunizieren miteinander, ein System greift in das andere, alles ist mit allem verknüpft, die Hydraulik mit der Pneumatik und die Elektrik mit allem anderen. Kurzum – was sich die Ingenieure an technischen Lösungen einfallen lassen, entlockt mir nicht selten den Stoßseufzer: Leute, das ist kein Ausstellungsstück! Das ist doch ein Auto! Das ist doch täglich im Einsatz und nicht nur auf super-asphaltierten Autobahnen! Das geht doch kaputt!
Hans-Jürgen:
Geht auch tatsächlich kaputt. »Nach zwei Jahren habe ich schon den ersten Defekt …«, heißt es dann – ja, klar, aber früher hast du noch den Choke gezogen und bist mit 110 Kilometern pro Stunde bei 15 Liter Spritverbrauch in die Eifel gefahren. Heute bist du mit 220 Stundenkilometern unterwegs und bleibst mit deinem Verbrauch trotzdem unter acht Litern!
Holger:
Und nun denke man mal an die Belastungen, denen dieses Hightech-Kunstwerk namens Auto im Alltagsbetrieb ausgesetzt ist. Wie gut hat es demgegenüber ein normaler PC
! Der steht erschütterungsfrei in einem geschützten Raum bei gleichmäßiger Zimmertemperatur und gleichbleibender Luftfeuchtigkeit. Aber in einem Auto haben wir ganz andere Umweltverhältnisse, da schwankt die Außentemperatur zwischen –20 und +40 Grad, und wenn die Sonne draufknallt, herrscht im Innenraum eine Hitze von 60 oder 70 Grad –, trotzdem muss die Technik funktionieren, trotzdem muss das Display anzeigen.
Hans-Jürgen:
Das muss man sich mal vorstellen, Holger: Ein PC
, den man solchen Bedingungen aussetzen würde, wäre in kürzester Zeit hinüber. Man mache nur einmal den Versuch und rüttele seinen Rechner durch und versetze ihm laufend heftige Stöße … Wie robust muss ein Auto sein, wenn man allein bedenkt, in welchem Zustand heute unsere Autobahnen sind. Im Pkw merkt man kaum etwas davon, weil jede Erschütterung zig-fach gedämpft beim Fahrer ankommt, aber wenn ich mit meinem Wohnmobil unterwegs bin, muss ich befürchten, dass sich die Schränke von den Wänden lösen – oder die Steuergeräte abfallen. Aber eher kommen die Schränke runter, als dass die Steuergeräte durch die Gegend fliegen.
Holger:
Gut, Hans-Jürgen, das ist die eine Seite der Medaille. Die andere Seite ist, dass du über der Reparatur heutiger Autos wahnsinnig werden kannst. Es braucht nur ein Steuergerät ’nen Schnupfen zu haben, gleich drehen alle anderen Steuergeräte durch. Diese Systeme sind furchtbar empfindlich, das ist die Schattenseite des Fortschritts. Aber – wer die Nachteile nicht in Kauf nehmen will, kann sich ja einen Dacia kaufen.
Hans-Jürgen:
Schönes Beispiel: moderne Bremsen. Sogenannte SBC
-Bremsen. Also elektrohydraulische Bremsen. Die haben gar keine Beläge mehr. Jede Bremse ist eine komplette Hydraulikeinheit. Und diese Dinger sind heimtückisch. Ein Fehler, eine Nachlässigkeit kann den Mann in der Werkstatt sämtliche Finger kosten.
Man muss sich klarmachen, dass eine solche Bremse mit herkömmlichen Bremsen kaum etwas gemeinsam hat. Was du hier mit dem Fuß an Bremsdruck spürst, hat nämlich nichts mit dem Druck zu tun, den du tatsächlich ausübst. Das heißt, der Fahrer hat gar keinen direkten Kontakt zur Bremse mehr; das gewohnte Bremsdruckgefühl wird durch einen Simulator erzeugt. Sensoren und Aktoren suggerieren dem Fahrer, dass er das Bremspedal mit mehr oder weniger Kraftaufwand betätigt – in Wirklichkeit aber wird der Bremsvorgang von einem Rechner gesteuert. Ein Steuergerät errechnet den nötigen Druck für jede Radbremse gesondert, und ein Druckspeicher erzeugt den Bremsdruck. Natürlich hat das Vorteile; so lässt sich der Bremsdruck besser dosieren, weil er von Rad zu Rad variiert, je nach Straßenverhältnissen, Witterungsbedingungen und Verkehrssituation. Noch schöner: Sobald der Regensensor Feuchtigkeit meldet, hebt das Steuergerät die Bremse ein bisschen an, damit sie warm und trocken bleibt. Alles mit dem Ziel, den Bremsweg um zwei, drei Meter zu verkürzen.
Holger:
Aber, aber, aber … Okay, reparieren kann man eine SBC
-Bremse immer noch. Aber nicht, indem man sich mit Schlüssel und Schraubenzieher am Rad zu schaffen macht und die Bremse einfach zurückdrückt. Bevor man sich der Bremse auch nur nähert, muss das Auto darüber in Kenntnis gesetzt werden, dass es sich in einer Werkstatt befindet, weil ein menschliches Wesen sich mit seiner Bremse befassen will und die Hydraulik deshalb vorübergehend Pause hat. Anders gesagt: Man muss das Steuergerät zunächst über einen Tester in Service-Stellung bringen – sonst kann es passieren, dass die Sensorik plötzlich eigenmächtig zurückfährt und die Kolben der Bremse mit hohem Druck herausschießen. Wer dann seine Finger dazwischen hat, ist sie los.
Hans-Jürgen:
Das Dumme ist nämlich: Leichtsinn wird heute bestraft. Denn moderne Autos sind verwöhnt. Sie erwarten, dass man es ihnen recht macht, jederzeit und auf der Stelle – die Prinzessin auf der Erbse ist nichts dagegen. Und das betrifft nicht nur die Werkstatt, das gilt auch für den Fahrer.
Neulich hatte ich einen Mercedes in der Werkstatt, den der Besitzer preiswert erstanden hatte. Er kam zu mir, weil das Steuergerät seiner SBC
-Bremse abgelaufen war. Die komplette Hydraulikanlage hat nämlich eine Lebensdauer von 15, höchstens 20 Jahren – oder 200000-mal bremsen –, danach leuchtet eine Warnlampe auf, und das Ding muss umgehend ausgetauscht werden. Nun hätte es den Mann 1500 bis 2000 Euro gekostet, die Bremsanlage erneuern zu lassen, kleinere Reparaturen wären dazugekommen, und im Endeffekt hätten die Kosten den Kaufpreis überstiegen. »Wissen Sie was?«, habe ich ihm gesagt. »Investieren Sie keinen Cent. Lassen Sie Ihr Auto einstampfen.«
Und so müsste ein ehrlicher Rat in diesem Fall lauten. Jetzt gibt es natürlich theoretisch die Möglichkeit, das Ablaufdatum der Bremse auf Wunsch des Kunden zurückzusetzen. Das ist möglich, aber kriminell. »Denken Sie nicht mal daran«, habe ich meinem Kunden gesagt. »Der Ausführende würde dann mit einem Bein im Knast stehen, und Sie als Auftraggeber hätten sich ebenfalls strafbar gemacht.«
Soviel ich weiß, hat er das Auto anschließend tatsächlich verschrottet.
Holger:
Aber, Hans-Jürgen – schon ein simpler Batteriewechsel verlangt heute Spezialwissen! Einem modernen Auto ist ja nur mühsam begreiflich zu machen, dass es eine neue Batterie hat! Nehmen wir an, die alte Batterie gibt allmählich ihren Geist auf. Sobald das Steuergerät das mitkriegt, schaltet es andere, weniger wichtige Systeme nach und nach ab, bis der Wagen eines Tages auch nicht mehr anspringt. Jetzt setzt du eine neue Batterie ein und willst losfahren. Aber nichts da – dein Auto beharrt stur darauf, dass seine Batterie leer sei, und bewegt sich nicht vom Fleck … Also muss man ihm klarmachen: Liebes Auto, du hast gerade eine neue Batterie bekommen, es ist das gleiche Modell wie die alte, sie hat dieselbe Leistung wie vorher – also mach dir keinen Stress und passe die neue Batterie bitte an dich an … Erst dann fahren alle Systeme wieder hoch, und der Wagen setzt sich in Bewegung.
Hans-Jürgen:
Kurzum, und damit wollen wir das Kapitel beschließen: Immer anfälligere Autos bedeuten immer mehr Arbeit für die Werkstätten – von denen wiederum erwartet wird, dass sie technisch auf dem Laufenden sind, jede Menge Schulungen besucht haben, über eine technische Hotline verfügen und im Besitz kostspieliger, moderner Werkzeuge sind. Das können viele Werkstätten nicht mehr leisten. Wenn man dann noch aufhört dazuzulernen, Lehrgänge zu besuchen, sich fortzubilden – dann wird es schwierig. Fünf Jahre sind in unserem Job eine Ewigkeit. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt wird zwar nicht das Rad, es wird aber sehr wohl das Auto neu erfunden, und wer diese Entwicklung verpasst, gefährdet seine berufliche Existenz.
Holger:
Ein Beispiel noch, Hans-Jürgen. Darf ich …? Also, apropos moderne Werkzeuge. Was mir gerade dazu einfällt, ist die Reparatur einer Frontscheibe. Früher war das eine simple Angelegenheit, du hast die alte rausgenommen, die neue eingeklebt, und fertig. Aber heutzutage sitzt oben in der Scheibe eine Kamera für den Spurassistenten, und jetzt gibt es ein kleines Problem: Innerhalb ihres Rahmens hat die neue Frontscheibe nämlich ein paar Millimeter Spiel nach links oder rechts. Früher hätte das niemanden gestört, aber heute bedeuten 3 Millimeter Spiel auf eine Entfernung von 50 Metern – das heißt, so weit die Kamera eben guckt – womöglich eine Abweichung von mehreren Metern! Wenn man jetzt nicht millimetergenau arbeitet, könnte das Blickfeld der Kamera beträchtlich verrutschen und den Spurassistenten am Ende dazu bringen, dich in die Leitplanke zu setzen. Folglich setzt man heute keine Frontscheibe mehr ein, ohne sie mithilfe spezieller Tafeln exakt zu kalibrieren. Dieses Kalibriersystem aber kostet ein kleines Vermögen. Womit ich sagen will: Du musst dich nicht nur ständig weiterbilden – du bist auch gezwungen, laufend zu investieren. Wir sind also nicht zu beneiden …