17.
Hetzjagd durch die Türkei
Hans-Jürgen:
Drei Stunden schlafen, so lautet der Beschluss. Holger und ich stellen unseren Wecker auf kurz vor elf – und das ist ein Fehler.
Holger:
Der erste unverzeihliche Fehler, den wir uns in diesem Buch leisten. Wahrscheinlich auch der letzte.
Hans-Jürgen:
Woran man sieht: Wir stehen zu unseren Fehlern … Aber jetzt wird’s ernst. Um elf Uhr klopfen wir an die Zimmertüren der anderen und ernten Reaktionen wie: »Seid ihr bescheuert!« oder: »Habt ihr sie noch alle!« Und dann: »Ihr Idioten habt vergessen, die Uhr umzustellen!« Auweia. In Griechenland ist es eine Stunde früher. Jetzt sind alle wach. Um die Kollegen halbwegs zu besänftigen, statten wir dem nächsten Bäcker einen Besuch ab, kaufen den halben Laden leer, verstauen alles als Proviant in unseren Autos, und um elf Uhr – jetzt nach griechischer Zeit – geht’s weiter.
Holger:
In Griechenland mussten wir zur Abwechslung unser eigenes Auto reparieren. Auf halbem Weg nach Istanbul fing der Motor zu stottern an, offenbar war ein Zünder ausgefallen, und jetzt blieb uns nichts anderes übrig, als unsere Hetzjagd zu unterbrechen. Wir hielten auf einem Rastplatz am Hang neben einem Baum voller Liebesbriefe, so groß wie Taschentücher, machten uns im Motorraum zu schaffen, und währenddessen fuhren die anderen Teams an uns vorbei, hupend und johlend; man weiß ja inzwischen, wie erheiternd ein Missgeschick der Autodoktoren aufs Publikum wirkt.
Und danach auf dem schnellsten Weg nach Istanbul, wobei wir, wie bisher schon, mehrere Reparaturen stillschweigend übergehen.
Hans-Jürgen:
Der türkische Grenzbeamte machte keine Schwierigkeiten, stempelte uns aber unsere Autos in den Reisepass. Das ist im Hinblick auf spätere Ereignisse wichtig zu wissen, denn jetzt konnten wir nicht mehr ausreisen, ohne dass die Autos wieder ausgetragen würden; andernfalls hätten wir sie verzollen müssen, und zwar zum Listenpreis des Neuwagens.
Holger:
Abends Ankunft in Istanbul mit hängender Zunge, und jetzt war erst mal Party angesagt. Bisher hatte es geheißen Vollgas, Vollgas, Vollgas, aber jetzt saßen wir in einer Teppichkneipe auf Kissen am Boden zum ersten Mal gemütlich zusammen und ließen auftischen. Was waren wir fertig! Aber von einer wachsenden Heiterkeit beflügelt, bestellt Hans-Jürgen nach einer Weile für jeden ein Gläschen Altinbasch Raki, woraufhin der Kellner in seiner Weisheit vorschlägt, in diesem Fall doch gleich eine ganze Flasche zu nehmen. Unsere Antwort: »Na klar.«
Ob das eine gute Idee war? Wir überlassen die Entscheidung unseren Lesern. Jedenfalls haben wir die Flasche zügig geleert, und Hans-Jürgen – das muss man ihm lassen – macht zum Schluss beim Aufstehen noch eine halbwegs gute Figur. Ich hingegen komme mir wie ausgeschaltet vor. Ich will mich Hans-Jürgen anschließen, rempele die Tischplatte an, und da rutscht alles herunter, Teller, Schalen, Gläser, alles kullert über den Boden, es ist ein turbulenter Abgang, aber was soll ich sagen – er ist mir nicht mal peinlich. Es folgt eine unruhige Nacht …
Hans-Jürgen:
… und ein großartiger nächster Tag. In Istanbul gab es für alle ein Wiedersehen, und wir hatten auf dem Sammelplatz unseren eigenen Stand.
Holger:
Ja, es war unglaublich. Alle 300 Teilnehmer trafen sich auf dem Gelände zwischen Blauer Moschee und Hagia Sophia, der ganze Platz war voll mit wüst aufgemöbelten alten Karren, und mittendrin, im eilig aufgestellten Pavillon, auf den das Team noch schnell ein Schild mit unserem Logo geklebt hat, die erste Autodoktoren-Werkstatt auf türkischem Boden! Irgendein türkischer Politiker, den wir nicht kannten, begrüßte den gesamten Tross. Und dann ging’s los.
Wir hatten wieder bekannt machen lassen: Wer ein Problem hat, der soll kommen – und die Schlange vor unserem Zelt nahm kein Ende. Wir sind im Schnelldurchgang, unter Hochdruck, von einem Auto zum anderen gesprungen, wir waren im Reparaturfieber, wir waren in unserem Element – was gibt es Schöneres als diese endlose Reihe von störrischen Kisten, die aus dem letzten Loch pfeifen, blubbern, rasseln und quietschen? Wir haben, kurz gesagt, Notfallchirurgie gemacht – »Ja, hier ist eine Magnetkupplung kaputt, aber scheißegal, man braucht gar keine Magnetkupplung, eine fette Schraube von links und eine von rechts tut’s auch … Starte mal! – Na bitte, läuft doch! Wunderbar – der Nächste bitte!« –, da ruft plötzlich der Muezzin.
Ich halte inne. Ich blicke auf. Es wird still um mich her, und jetzt höre ich nur noch diese Stimme von der Blauen Moschee, die aus den Weiten des Weltalls zu kommen scheint, und dann setzt ein zweiter Muezzin von einer anderen Moschee ein. Für mich hört es sich an wie ein Duett der Muezzins, und mir laufen die Tränen, ich denke: Mein Gott, was darfst du auf dieser Reise alles erleben …! Istanbul ist eine moderne Stadt, aber mit einem Schlag ist die Gegenwart wie weggefegt, und die Tradition, der alte Orient verschafft sich Gehör. Hans-Jürgen und ich, wir gucken uns an, und wenn ich Wasser in den Augen habe, geht’s bei ihm auch los. Dann verstummen die beiden Muezzins, die Realität hat uns wieder, und der Trubel geht weiter.
Hans-Jürgen:
An diesem Tag haben wir zwischendurch Dosenfutter zu uns genommen. Es gab nichts zu essen, also haben wir den Bunsenbrenner angemacht und eine Ravioli-Dose aufgewärmt – schmeckte eklig, aber im Schatten der Blauen Moschee vor einem Gaskocher sitzen und Ravioli löffeln, das hatte auch seinen Reiz. »Die schmecken doch gar nicht so schlecht …« – »Hast recht, Holger. Die sind eigentlich ganz genießbar.«
Unvergesslich.
Holger:
Leider müssen wir weiter. Der nächste Treffpunkt heißt Ankara, und jetzt stellen wir fest: Die Türkei ist schon eine andere Welt. War in Istanbul noch Europa spürbar, konnte man das jetzt kaum noch behaupten. In Ankara treffen sich alle auf einem ausgedienten Flugplatz, und jetzt sickert durch: Mit Jordanien könnte es schwierig werden. In Syrien haben sich die Schießereien zu einem regelrechten Krieg ausgeweitet, da werden wir nicht durchkommen, aber der Veranstalter versucht, Boote zu organisieren, mit denen wir über Zypern nach Israel fahren können. Allerdings könnten die Israelis uns Schwierigkeiten machen. Einen Versuch ist es nichtsdestoweniger wert … Also, noch besteht Hoffnung.
Hans-Jürgen:
Wahr ist, dass das ganze Unternehmen von jetzt an in der Luft hängt. Aber das interessiert noch keinen. Viel wichtiger ist, einen 124er-Mercedes-T-Modell wieder flottzumachen, bei dem die Hinterachse ausgerissen ist. Genauer gesagt: die Halterung, mit der die Hinterachse an der Karosserie befestigt ist. Die ist an einem der beiden Fixpunkte rausgebrochen. Stundenlang liegen wir unter diesem Auto und versuchen mit 12 Volt, die Achse wieder anzuschweißen – vergeblich. Mittlerweile ist es stockfinstere Nacht.
Holger:
Was habe ich gemacht? Ich bin rumgelaufen und habe die einzelnen Teams gefragt: »Hat jemand eine lange Schraube?« Die waren alle noch wach, irgendwo weiter hinten legten Bekloppte sogar mit ihrem Auto einen Burnout hin, und endlich treffe ich auf einen, der sein Reserverad mit genau so einer Schraube, wie ich sie brauche, aufs Dach montiert hat. »Kann ich die haben?« – »Ja, kannste haben.« Und dann haben wir im Scheinwerferlicht der umstehenden Autos ein Loch durch die Karosserie in die Hinterachse gebohrt und beides mit dieser schönen Schraube zusammengeschraubt, vor großem Publikum, versteht sich. Bei der Probefahrt zeigte sich dann: Besonders fest sitzt die Achse nicht, sie fühlt sich etwas schwammig an, und weil sie nicht mehr gummigelagert ist, werden auch keine Vibrationen mehr absorbiert – aber das Team kann damit weiterfahren.
Hans-Jürgen:
Und, Holger, nicht zu vergessen: der kaputte Auspuff. Diesem Team haben wir mit Schlauchschellen und aufgeschnittenen Bierdosen einen neuen Auspuff gebastelt, aber die Bierdosen mussten ja erst mal geleert werden, und als der Auspuff fertig war, waren die Bierdosen auch leer.
Holger:
Und weiter ging’s. Bisher hatten wir keinen Tag Ruhe gehabt, aber jetzt wurde es zum ersten Mal gemütlich, und zwar in Göreme, das jeder zumindest von den Tourismus-Werbeplakaten kennt: eine bizarre Landschaft aus spitzen, ausgehölten Felskegeln. Hier gab es Höhlenhotels, eines davon, Spelunke geheißen, haben wir bezogen, und es war wunderschön – jedes Höhlen-Hotelzimmer mit Dusche und lauter Spiegeln an den Felswänden. Abends haben die Jungs einträchtig vor ihrer Höhle gesessen und Bier getrunken, und morgens rief sich in aller Frühe der Muezzin wieder in Erinnerung. Man hört diese Stimme im Schlaf, und im ersten Augenblick fragt man sich, wo man ist, aber dann dämmert es einem – ach ja, Türkei, Muezzin, du bist doch auf der Reise –, und wieder stellt sich dieses Glücksgefühl ein, etwas Außergewöhnliches erleben zu dürfen …
Hans-Jürgen:
Eigentlich sollten wir auch dem Leser hier eine Ruhepause gönnen.
Holger:
Hans-Jürgen, wie stellst du dir das bitte vor?
Hans-Jürgen:
Vielleicht Fuß vom Gas nehmen und im Spazierfahrtmodus durch diese atemberaubende Landschaft fahren. Unser nächstes Ziel ist die Hafenstadt Mersin am Mittelmeer, aber vorher, in den Ortschaften, hängen in den Metzgereien die abgezogenen Körper der geschlachteten Tiere offen rum, und auf der Landstraße bleiben wir einmal in einer riesigen Schafherde stecken. Dann wird es kälter, und vor uns liegt das Taurusgebirge, wo die 3000er in den Himmel ragen …
Holger:
… und genau da will ich auch hin, weil Lars hier ein Problem kriegt: Das Fenster seines Autos auf der Fahrerseite klemmt, das hängt auf halb sieben und lässt sich nicht mehr hochfahren. Jetzt ist sowieso eine Zwangspause angesagt. Nicht nur, weil wir am Straßenrand reparieren müssen, sondern auch, weil wir zum Tee eingeladen werden. Aber der Reihe nach.
Wir bemerken sie natürlich gleich, die drei Männer, die auf Steinen ums Feuer sitzen. Weiter oben muss ein Dorf sein, man sieht die ersten Hütten, man sieht später auch Frauen, die große Brennholzbündel auf dem Rücken tragen und im Gänsemarsch den Weg nach oben einschlagen, die ganze Szenerie grau in grau. Eine sehr fremde Wirklichkeit, aber zunächst gehen wir auf die winkenden Männer nicht ein, wir sind ja mit Reparieren beschäftigt. Na ja, reparieren ist gut … Wir ziehen die Türverkleidung ab und schweißen den Fensterheber einfach fest. Wir nehmen eine 12-Volt-Batterie und zwei Überbrückungskabel, schließen sie an der Batterie an, klemmen auf dem anderen Ende der Plusleitung einen Nagel ein, und los geht’s: Wenn man nun das schwarze Kabel auf Masse legt und mit dem im roten Kabel eingeklemmten Nagel an die zu schweißende Stelle hält, entsteht ein Kurzschluss, und der Nagel funktioniert wie eine Elektrode. Dann brutzelt es, dann entsteht ein Lichtbogen, mit dem man tatsächlich schweißen kann – so eine kleine Batterie hat nämlich einen ordentlichen Wumms.
Unterdessen haben die Männer am Feuer ihre Einladung mehrfach wiederholt, und als wir fertig sind, gehen wir rüber und setzen uns dazu. Sie schenken uns Tee in Blechtassen ein. Einer der Männer spricht Deutsch. Wir erfahren, dass er in Duisburg gelebt hat, aber für irgendeine Schandtat aus Deutschland ausgewiesen worden war, nachdem er zehn Jahre im Gefängnis gesessen hatte. Er gibt das freimütig zu, er bedauert seine Tat, und dann kommt heraus: Er hatte einen Menschen getötet. »Die Deutschen haben mich rausgeschmissen, das war auch richtig so, und seither lebe ich hier in den Bergen.« Uns fröstelt etwas, aber der Tee tut gut, und um uns zu revanchieren, schenken wir einem kleinen Jungen unseren letzten FC
-Köln-Fußball – er weiß aber nichts damit anzufangen, vielleicht ist Fußball hier nicht so populär. Dann stehen wir auf, bedanken uns, verabschieden uns und fahren weiter Richtung Mittelmeer. Wirklich, eine sehr fremde Welt.