18.
Bitteres Ende der Orient-Rallye
Holger: Jetzt wird es spannend. Wir erreichen die Hafenstadt Mersin. Es ist der zehnte Tag unserer Reise, und noch wissen wir nicht, wie es weitergeht, ob es überhaupt weitergeht. Die Israelis werden uns auf keinen Fall ins Land lassen, die weigern sich strikt, so viel steht fest. Jetzt erfahren wir, dass es einen neuen Plan geben soll: Mit Fähren soll es nach Ägypten und von dort aus durch den Sinai nach Jordanien weitergehen. Bislang ist das aber nicht mehr als ein Gerücht, und so beziehen wir erst mal unser Hotel.
Dieses Hotel entpuppt sich als ein Puff. Oder zumindest als Hotel, das zur Kontaktanbahnung und auch für den Vollzug genutzt wird. In der Rezeption stehen Sofas, und auf den Sofas sitzt eine größere Anzahl hübscher, junger Frauen, unbeteiligt und wie zufällig, sie unterhalten sich miteinander, und zunächst denken wir uns nichts dabei. Dann beobachten wir, wie einzelne Männer hereinkommen und über die Treppe nach oben verschwinden, woraufhin jeweils eine der jungen Frauen ihnen mit dem Zimmerschlüssel in der Hand folgt. Na ja, was soll’s, wir fühlen uns bei dem sonnigen Wetter und dem leckeren Essen in Mersin wohl und werden auch die bevorstehenden zwei oder drei Nächte in einem Puff überleben.
Hans-Jürgen: Inzwischen telefoniert Lars mit dem Auswärtigen Amt in Berlin, und das rät dringend von der Einreise in Ägypten ab: »Da hat es gerade Anschläge auf koptische Kirchen gegeben …« Sollen wir unter diesen Umständen unsere Autos überhaupt verschiffen, vorausgesetzt, der Veranstalter kann überhaupt Schiffe auftreiben? Wir schieben die Entscheidung auf, weil die Lage immer noch unübersichtlich ist.
Am nächsten Morgen melden sich die Leute vom Cherokee-Team bei uns im Hotel: Diesmal haben sie Batterie-Probleme. Der Generator des einen Jeeps ist ausgefallen. Es ist unsere letzte Reparatur auf dieser Reise, und auch diesmal können wir nur eine Behelfslösung anbieten: Sie kriegen unsere vollgeladene Ersatzbatterie, und einer der anderen Jeeps übernimmt die leere Batterie des betroffenen Cherokees, um sie unterwegs aufzuladen. Wenn sie die Batterien ständig wechseln, dürften sie auch mit defektem Generator bis Jordanien kommen – »Aber keine Lüftung und kein Radio einschalten!«
Holger: Den Rest dieses Tages verbringen wir im Hafen. Die Sonne brennt, das Warten zerrt an den Nerven, nichts tut sich, und irgendwann entscheiden wir uns, die Sache hier und jetzt abzubrechen. Die Risiken erscheinen uns unkalkulierbar, wir ziehen uns lieber zurück, bevor wir in einen regelrechten Schlamassel reingezogen werden, und wie sich später herausstellen wird, ist dies eine weise Entscheidung. Also, wir werden von hier aus zurückfliegen. Und was geschieht mit unseren Autos? Lars schlägt vor, sie zu verschenken. Es finden sich auch Abnehmer unter den anderen, genauso entnervten Teilnehmern, die Autos wären wir also los, und jetzt muss nur noch ein letztes Problem gelöst werden: Die Fahrgestellnummern unserer Autos müssen aus Hans-Jürgens Pass ausgetragen und in den Pass des neuen Besitzers eingestempelt werden – und zwar zügig, unser Rückflug von Antalya aus ist schon gebucht.
Hans-Jürgen: Tja, leichter gesagt als getan. Wir sind fast wahnsinnig geworden. Eigentlich soll das Übertragen in dem großen Zollgebäude stattfinden, wo alle Teams auf ihren Stempel warten und ein ziemliches Durcheinander herrscht. Ich gebe also meinen Pass ab, und dann – passiert nichts mehr. Der Pass ist hinter irgendeiner Tür verschwunden und kommt und kommt nicht zurück.
Holger: Hans-Jürgen war meganervös.
Hans-Jürgen: Für mich gibt es nichts Schlimmeres, als wenn ich im Ausland meinen Pass aus der Hand geben muss. Das Ding ist einfach weg, ich finde keinen Ansprechpartner. Horror. Unser Dolmetscher ist untergetaucht, ich laufe von einem Zollfritzen zum anderen, aber niemand von dem ganzen türkischen Personal fühlt sich zuständig – eine ekelhafte Situation, schon gerade in Anbetracht der allgemeinen Anspannung. Da kommt plötzlich ein Zollbeamter auf uns zu: »Kommt mit. Ich weiß, wo ihr eure Stempel kriegt.« Mir fällt ein Stein vom Herzen. Irgendwie fördert er meinen Pass wieder zutage, und wir fahren zusammen durch den halben Hafen – der Typ, der unsere Autos übernimmt, ist auch dabei.
Wir steigen aus, wir kommen in ein klimatisiertes Büro und werden von einem arroganten Kerl, Typ Pascha, in lamettabehängter Uniform hinter einem riesigen Schreibtisch in Empfang genommen. Wobei von Empfang keine Rede sein kann. Seine genervte Miene sagt alles: Was wollte ihr hier? Mich belästigen …? Auch das noch, und jede Minute sollen die erhofften Schiffe in den Hafen einlaufen … Aber der Mann begreift die Sachlage, knallt seinen Stempel in unsere Pässe, und wir haben die Autos endlich definitiv vom Hals. Jetzt schnell zurück in den Hafen zu den anderen, die finalen Filmbilder drehen und Abschied nehmen.
Letzte Amtshandlung in Mersin: ein Abschlussinterview mit uns. Unser Wort zum Sonntag gewissermaßen. Etwas Zusammenfassendes und Definitives, ein Schlusswort … Die Kamera läuft, der Redaktionskollege von Lars fragt uns nach unseren Eindrücken, unseren Erfahrungen, und da ist es mit meiner Selbstbeherrschung vorbei. Schon beim ersten Satz schießen mir die Tränen in die Augen, ich weiß gar nicht, wie mir geschieht, aber jetzt stehe ich da und stammele und schluchze und suche nach Worten.
Holger: Die Frage war, was diese Reise für uns bedeutet. Da rasseln dir dann alle Erlebnisse der letzten zwölf Tage noch einmal durch den Kopf, alle schön, alle anstrengend, alle einmalig, doch jetzt ist Schluss, das große Abenteuer ist zu Ende, und die Gefühle überwältigen dich – klar, dass ich genauso vor Rührung geweint habe wie Hans-Jürgen. Ja, und das war’s.
Hans-Jürgen: War’s noch nicht, Holger. Dass wir das Flugzeug in Antalya nur mit Ach und Krach erreicht haben, brauchen wir vielleicht nicht zu erwähnen, aber – für die anderen ging das Abenteuer ja weiter.
Holger: Gut. Hier also der Ausgang des Unternehmens, soweit wir das Drama aus der Ferne verfolgt haben. Abends liefen drei Fähren in den Hafen ein, nahmen sämtliche Autos an Bord und machten sich gegen drei Uhr morgens auf den Weg nach Nordzypern. Wie es aussah, waren das also gar keine Hochseeschiffe, sie ähnelten eher alten Flussfähren, wie sie auf dem Rhein oder der Donau verkehren, und hatten auf offenem Meer entsprechend zu kämpfen.
Hans-Jürgen: Ein Teilnehmer schrieb: »Treibholz schwimmt schneller, als diese Fähren fahren.«
Holger: Nach einer Rundreise durch Nordzypern sollte es dann mit denselben Schiffen ins ägyptische Port Said weitergehen, aber dort sind sie nie angekommen. Die Ägypter haben sie nicht reingelassen. Also mussten alle wieder umdrehen. Nach Tagen an Bord, mit 200 Mann auf jedem Schiff, kaum noch was zu essen, kaum noch was zu trinken, kein Wasser mehr für die wenigen Toiletten, mussten sie umkehren. Angeblich hat die Crew sogar ihre letzten Lebensmittel mit den Passagieren geteilt. Und endlich zurück in der Türkei, bekamen alle ihre Schrottkisten wieder.
Hans-Jürgen: Eine Odyssee. Ein kleiner Teil der Rallye-Autos fand übrigens auf eigener Achse seinen Weg zurück nach Deutschland, darunter auch der Mercedes von Holger und mir, aber – in welchem Zustand kam unser Flaggschiff in Köln an! Die Dusche abgerissen, die Lampen abmontiert, die Solarpaneele runtergerissen, alles angeblich während der gescheiterten Überfahrt auf der Fähre geplündert – hey, das können wir brauchen, das reißen wir uns unter den Nagel … Aber egal. Wenn ich zusammenfassen soll: Wir sind viele Stunden Auto gefahren. Wir haben viele Stunden unter Autos gelegen. Wir mussten immer wieder Zeit aufholen. Von gründlichem Ausruhen konnte zu keinem Zeitpunkt die Rede sein. Selbst abends haben wir noch bis zur letzten Minute geschraubt, dann die Augen zugemacht, und am nächsten Morgen ging’s weiter …
Holger: ... wir haben, kurz gesagt, geackert wie die Bekloppten, und heute würde ich mich auf ein derartiges Unternehmen nicht mehr einlassen. Aber es war eine großartige Erfahrung, und es hat uns als Team und als Freunde zusammengeschweißt.