23.
Eine Tankstelle war mein Schicksal
Holger: Dies ist, in wenigen Worten, meine Lebensgeschichte: Als junger Mann saß ich unter einem Baum, da schlug ein Kugelblitz neben mir ein, und im nächsten Augenblick hörte ich eine Stimme aus den Wolken, die diese Worte zu mir sprach: »Holger Parsch, von nun an wirst du Autos reparieren!« Und so war es. Ich musste nicht mal eine Ausbildung absolvieren. Ich war der himmlischen Stimme augenblicklich gehorsam, und siehe, ich brauche ein defektes Auto nur zu berühren, schon funktioniert es wieder …
Nein, Spaß beiseite. Alles zurück auf null und noch mal von vorn. Also …
Meine Kindheit war weiß-blau. Weiß waren die vier Großbuchstaben, und blau war das auf die Spitze gestellte Quadrat oben am Mast, mit dem sich unsere Tankstelle weithin sichtbar als solche zu erkennen gab. Die Großbuchstaben bildeten natürlich das Wort ARAL . In einer meiner frühesten Erinnerungen sehe ich die Familie Parsch vor mir – meine Schwester, meine Mutter, mein Vater und ich –, wie sie sich alle vier auf der Tankstelle zu schaffen machen, während unter dem ARAL -Schild am Mast ein riesiger Fußball mit mexikanischem Sombrero schwebt; Demnach muss es 1970 gewesen sein, zur Zeit der Fußballweltmeisterschaft in Mexiko, als ich vier oder fünf Jahre alt war. Mit anderen Worten: Ich bin zwischen Zapfsäulen und Autos groß geworden, mit Benzingeruch in der Nase, und ich mag diesen Geruch bis heute. Aber der Reihe nach.
Mein Vater ist Kölner. Er war sehr streng erzogen worden, was man kaum glauben wollte, wenn man seinen Vater als Opa kannte. Ich habe den Vater meines Vaters jedenfalls nur als ganz, ganz lieben Menschen erlebt, aber als mich vor 15 Jahren eine Neugier auf meine Herkunft überkam, habe ich ein bisschen in meiner Verwandtschaft nachgeforscht, und da trübte sich das Bild meines Opas kräftig ein. Wer bin ich?, habe ich mich damals gefragt. Woher kommt meine Kraft, und was steckt alles in mir?, wollte ich wissen, und da zeigte sich, dass mein Opa früher ein aggressiver Charakter mit Sympathien für die Nazis gewesen war. Wie viel von ihm mochte in mir stecken?
Mein Vater ist im Krieg aufgewachsen, musste aber nicht an die Front; dafür war er zu jung, elf Jahre alt bei Ende des Kriegs. Anfang der 50er-Jahre machte er eine Lehre als Tankwart und wurde seither Pumpenschwengel genannt, weil man den Kraftstoff damals mit der Hand aus großen Stahltanks in den Autotank pumpte. Dann lernte er bald meine Mutter kennen, die aus Schlesien vertrieben und nach Köln geflohen war, und beide beschlossen, sich selbstständig zu machen – mit einer ARAL -Tankstelle im Kölner Süden, in Bayenthal. Zu meiner Geburt habe ich also quasi eine Tankstelle geschenkt bekommen.
Es war ein glücklicher Umstand, dass unsere Wohnung nur wenige Häuser von unserer Tankstelle entfernt lag. Mein Vater verließ das Haus um sieben Uhr morgens, meine Mutter ging mit uns Kindern zwei Stunden später ebenfalls rüber, dann blieben wir den ganzen Tag dort, und ich war im Paradies. Die Tankstelle war mein Reich, mein Revier, mein Fuchsbau und meine Bühne, da habe ich gespielt und gebastelt und geschraubt und Kunden bedient, denn damals übernahm der Tankwart das Betanken noch selbst, auch unsere Tankstelle war eine Bedien-Tankstelle, und vor allem vor Weihnachten fiel dabei für den kleinen Holger ein üppiges Trinkgeld ab.
Dieses Trinkgeld hing mit dem benachbarten Stadtteil Marienburg zusammen. Dort lebten die Reichen, dort gab es Konsulate und Botschaften, und mein Vater war dafür bekannt, die Nobelkarossen der feinen Herrschaften abzuholen, zu waschen, zu betanken und ihnen picobello wieder vor die Tür zu stellen. Außerdem aber war auch der Großmarkt in der Nähe, gleich an der viel befahrenen Bonner Straße gelegen, und die Autos der Händler hatte mein Vater, geschäftstüchtig, wie er war, gleichfalls in sein Serviceprogramm aufgenommen. Gerade mal 18 DM hat er verlangt und dafür jedes Auto einmal die Woche von Hand gewaschen, mit destilliertem Wasser innen und außen gesäubert und anschließend poliert. Was mein Vater nicht schaffte, machte meine Mutter, während meine Schwester und ich den Zapfhahn bedienten.
Autos waren von Anfang an mein Lebenszweck. Wenn Papa ins noble Marienburg fuhr, um pflegebedürftige Fahrzeuge abzuholen, durfte ich ab und zu mitfahren, und je nachdem, welches Auto dran war, machte man wunderbare Bekanntschaften. In einem Porsche 911 habe ich gelernt, was Beschleunigung ist, und heute würde ich sagen: In diesen Lehrjahren der Lust muss ich mir eine ziemlich üble Form der Abhängigkeit eingefangen haben – jedenfalls tut mir Beschleunigung bis heute gut. Wenn ich mich dieser Tage in einen Tesla setze und Gas gebe, katapultiert er mich in meine frühen Jahre zurück, dann werde ich buchstäblich wieder zu diesem Kind auf dem Beifahrersitz eines Porsche 911. Unsere Kundschaft war so gesehen natürlich ein Glücksfall. Nicht nur die Diplomaten hatten fette Autos, auch die Geschäftsleute vom Großmarkt, und nichts ging für mich damals über Mercedes und Porsche.
Die Schule brauche ich nicht zu erwähnen. Mein Leben fing nach der letzten Unterrichtsstunde an, mit diesem Rundum-glücklich-Paket aus Autos betanken und Geld verdienen. An einem einzigen Vorweihnachtstag habe ich als Zehnjähriger mal mit einem Freund zusammen 52 DM eingenommen. Das war richtig, richtig viel Geld, damit hätte ich die Süßigkeiten aus dem Angebot unserer Tankstelle locker bezahlen können, statt sie zu klauen, aber für mich mussten Bonbons nach Mundraub schmecken.
Hans-Jürgen: Wenn ich mal unterbrechen darf, Holger – so ausführlich haben wir ja noch nie darüber gesprochen … Du hast also offenbar auch sehr früh die Bedeutung von selbstverdientem Geld für ein angenehmes Leben begriffen. Ging mir genauso. Ich war als Kind schon kräftig und habe als Zehn-, Elfjähriger mein eigenes Geld damit verdient, auf Baustellen Schubkarren voll Sand durch die Gegend zu fahren. Mir konnten sie die Schubkarre nie voll genug machen, es durfte sich sogar noch ein Nachbarskind vorne draufsetzen, ich wollte unbedingt schuften, denn für drei Karren gab es eine Deutsche Mark! Damals habe ich verstanden, dass Arbeiten sich lohnt, und nach dieser Devise habe ich gelebt – gute Arbeit, gutes Geld. Eine einfache Rechnung.
Holger: Ja, aber bei mir regte sich schon bald noch ein ganz anderer Trieb. Ich musste schrauben, ich musste basteln, ich musste experimentieren, ich musste vor allem – Unfug anstellen, je irrwitziger, desto besser. Schon eine meiner ersten Aktionen ging übel aus. Ich repariere in unserer Werkstatt neben der Tankstelle mein Fahrrad, will die Kette kürzen, schlage Kettenglieder raus, und eins davon fliegt zielstrebig in den Brennraum eines Zylinderkopfs, der dort herumliegt.
Jetzt muss man wissen: Dieser Zylinderkopf gehörte zu dem Manta, mit dem mein Papa Rennen fuhr. Ich schenke dem verlorenen Kettenglied weiter keine Beachtung, und irgendwann baut mein Papa den Zylinder ein, startet, der Motor kreischt auf, und dann ist nur noch ein Rattern, Rasseln, Knirschen zu hören. Hinterher hält er mir drohend diesen Zylinderkopf hin: »Hast du zufällig in letzter Zeit dein Fahrrad repariert?« – »Ja …« Es kam aber nichts nach. Er hat kein Wort mehr darüber verloren. Kleinere Katastrophen dieser Art fielen für meinen Vater unter Künstlerpech, und den Zylinderkolben mit den Einschlägen hatte ich jahrelang als Souvenir in meinem Zimmer stehen.
Jetzt war es am Wochenende bei uns üblich, auf einen Campingplatz im Westerwald zu fahren. Mein Vater hat dort den Rasen gemäht, ich habe die Gegend inspiziert, und dabei bin ich auf eine lang gezogene Anhöhe gestoßen, über die eine Straße verlief, von oben bis ganz unten ins Tal. Diese Straße schrie nach Seifenkisten und Wettrennen. Ich war damals neun, und auf dieses Jahr datiere ich den Beginn meiner Schrauberkarriere, denn jetzt wurde es ernst.
Ich habe daheim auf der Tankstelle eine Flex genommen, aus einem alten Kinderwagen die beiden Achsen mit den Rädern rausgeschnitten, die Achsen unter ein Schalbrett montiert, wie man es zum Einschalen von Fußböden oder Deckenverkleidung benutzt, einen Recaro-Sitz draufgeschraubt, und dann bin ich damit im Westerwald Rennen gefahren. An Konkurrenten herrschte kein Mangel. Zusammen mit anderen Kindern meines Alters sind wir also quasi im Sturzflug diese Straße hinuntergerast, eine richtig lange, herrlich abschüssige Strecke, mit geschätzten 60 Sachen und ohne Helm. Unten stand einer von uns, der musste die Kreuzung bewachen und Autos nötigenfalls so lange aufhalten, bis wir vorbei waren – wir konnten ja nicht bremsen –, und dann ging es über die Kreuzung bis ins Tal und auf der anderen Seite einen holprigen Waldweg wieder hoch, um im Wald auszurollen, und wenn du zu schnell angeschossen kamst, hast du dich spätestens dort überschlagen. Was haben wir gekämpft! Einer besaß ein Kettcar, das war immer ein bisschen schneller als ich, das hat mich wahnsinnig gefuchst, deshalb war mir das Risiko vollkommen egal. Auf der Kreuzung unten herrschte sowieso kaum Verkehr …
Dabei kann man meine Kindheit und Jugend als eine einzige Verletzungsserie bezeichnen. Schon beim Bau meiner Seifenkiste hatte ich mir an einer Achse, die nicht sauber entgratet war, den rechten Unterarm aufgerissen – die Narbe sieht man heute noch. Später habe ich mir mit einem Bonanza-Rad ein Loch ins Bein gehauen. Diesem Rad hatte ich eine längere Gabel verpasst, und diese Gabel ist blöderweise bei einem riskanten Manöver gebrochen – gut, das war dann eben so, lag der Junge also schon wieder zwei Wochen im Krankenhaus. Als Nächstes habe ich mir eine Schere ins Knie gerammt, die ich im Bett vergessen hatte – ich war in diese Schere regelrecht reingesprungen –, dann habe ich mir die Schulter ausgekugelt und irgendwann das Fersenbein gebrochen, weil ich einem Jungen helfen wollte, dessen Modellflugzeug sich im Baum verfangen hatte. Ich klettere hoch, ich falle runter – und 14 Tage später bricht sich mein Vater den Fuß beim Fußballspielen, sodass wir eine Weile lang alle beide an Krücken herumgehumpelt sind.
Es war eine Katastrophe. Bei unserem Hausarzt war ich Stammgast, meine Krankenakte war so dick wie ein Brockhaus-Lexikon, und ich war mir sicher: Spätestens mit 21 wirst du im Rollstuhl sitzen. Was mich in keiner Weise gehindert hat, bei nächster Gelegenheit wieder blutverschmiert auf unserer Tankstelle zu erscheinen, zum Beispiel, weil ich mir beim Kopfsprung in einen See die ganze Vorderseite aufgeschnitten hatte. Und jedes Mal musste meine Mutter ihre Arbeit auf der Tankstelle unterbrechen, um mich zum Arzt zu fahren. Einmal lag ich innerhalb eines Jahres dreimal für längere Zeit im Krankenhaus, meine Eltern sind fast verrückt geworden, und meine Mutter erinnert sich, einmal von einem meiner Freunde gefragt worden zu sein: »Ist Holger zu Hause oder liegt er im Krankenhaus?«
Hans-Jürgen: Wie war das bei dir, Holger … Ich bin nach solchen Vorfällen jedenfalls regelmäßig von meinem Vater verprügelt worden. Oder von meiner Mutter, wenn der Vater gerade nicht da war. Bei uns reichten geringfügige Verstöße gegen die Tagesordnung, schon setzte es was. Es war uns zum Beispiel verboten, am Rhein zu spielen. Aber zum Rhein war es ein Katzensprung – wo haben wir gespielt? Am Rhein. Ich weiß nicht, wie man Vater dahintergekommen ist, wahrscheinlich brauchte er nur die durchweichten Schuhe und die nassen Klamotten zu sehen, jedenfalls gab’s auch dafür die übliche Tracht Prügel. Oder: Nicht weit von unserem Haus lag ein See, ziemlich tief, mit einer Baubude am Ufer. Die haben wir zerlegt, und man weiß ja: Holzwände schwimmen. Wir also die Wände ins Wasser geschmissen und den ganzen Tag damit über den See gefahren. Natürlich sahen wir hinterher lecker aus, es geht mit der Flößerei ja auch mal schief. Abends schrie meine Mutter bei unserem Anblick auf, und wieder war eine Abreibung fällig. Heute weiß ich: Es geht auch ohne Prügel. Aber damals hielt man Schläge für ein wertvolles Erziehungsmittel.
Holger: Ich weiß. Ich habe von meinem Vater auch viel Prügel bezogen. Zum Beispiel … Ich fand Feuerwerk immer schön. Junge und Feuer, das passt ja gut zusammen. Nun besaß mein Vater eine Leuchtkugelpistole. Die Munition dieser Pistole habe ich auseinandergenommen, das Pulver in ein Döschen für Fischfutter der Marke Tetramix gefüllt und meinen Sprengkörper sorgfältig mit Tesafilm verklebt. Jetzt fehlte mir eine Zündschnur. Nie um einen Einfall verlegen, habe ich eine Zeitung genommen, habe sie angefeuchtet, das Pulver draufgestreut, das Ganze zur Schnur zusammengedreht und das eine Ende in mein Döschen gesteckt. Okay, habe ich gedacht, diese Höllenmaschine bringst du nicht auf dem Balkon zur Explosion, die zündest du besser im Garten. Unten angekommen halte ich ein Streichholz dran, aber es zischt nur kurz, es tut sich nichts, ich also gleich das nächste Streichholz entzündet – da merke ich: Die Schnur brennt sehr wohl, nix wie weg!, aber im selben Moment explodiert meine Bombe, und ich bin mit Splittern gespickt. In der Hand, in den Beinen, im Po – am ganzen Körper Splitter von diesem Plastikdöschen!
Ich laufe ins Haus zu meiner Schwester. Die macht gerade eine Krankenschwesternausbildung und legt mir einen Notverband an. Abends kommen meine Eltern heim. Eigentlich wollen sie ins Theater, aber das können sie vergessen. Mein Vater macht den Verband ab, besieht sich meine Hand und knallt mir eine; eins hinter die Löffel, das war immer die erste Reaktion. Und dann ins Auto gesetzt und ab ins Krankenhaus, wo sie mir jedes Plastikstück einzeln rausoperieren mussten.
Was habe ich nicht alles angestellt! Lange Zeit hatte ich Angst, ein Kind zu bekommen, wie ich es war. Aber wie viel Freiheit man gehabt hat … Wie viel Zeit man für sich hatte … Wie viele Möglichkeiten sich immer wieder auftaten …