26.
Großartig chaotisch – unsere Lehrjahre
Holger: Ich bin schon mit zehn Jahren auf dem Gelände unserer Tankstelle Auto gefahren. In diesem Alter Autos umsetzen, das war normal. Streng genommen hätte das Gelände mit Ketten abgesperrt sein müssen, aber solche Vorschriften haben ja damals keinen Menschen interessiert.
Hans-Jürgen: Wenn du heute einen Auszubildenden hast, lässt du ihn ohne Führerschein nicht fahren. Als ich in die Lehre kam, wurde ich vom Chef gefragt: »Kannst du Auto fahren? Ja? Dann zeig mal …« – und prompt durfte ich auf dem Firmengelände rangieren und einparken.
Holger: Damit sind wir bei deiner Lehre …
Hans-Jürgen: … und die ist mir praktisch in den Schoß gefallen. Ich wusste nämlich anfangs gar nicht, was ich werden wollte. Raumausstatter? Oder Starkstromelektriker? Vielleicht doch eher Kfz-Elektriker? Als Starkstromelektriker hätte man hohe Masten erklimmen müssen, dieses Berufsziel ließ ich deshalb gleich wieder fallen … Dann stehe ich eines Tages mit einem Kumpel vor dem Schaufenster eines Autohauses in Dormagen, wir träumen – wieder einmal – von Autos, da kommt der Inhaber heraus. »Interessiert ihr euch für Autos?« – »Ja, schon …« – »Wollt ihr keine Lehre bei mir machen?« – »Ja, warum nicht …« – »Dann kommt mal rein.« Damit stand fest: Es läuft auf Kfz-Elektriker hinaus. Zwei Monate habe ich dort gearbeitet, dann bin ich zu einem Betrieb in der Kölner Innenstadt gewechselt, weil das Dormagener Autohaus gar keine Kfz-Elektriker ausbilden durfte. Aber die neue Werkstatt im Severinsviertel war eine Bruchbude. Ein rumpelndes Eisentor, eine baufällige Betriebshalle, das Ganze eine halbe Ruine, vom Krieg übrig geblieben – die konnte man eigentlich nur abreißen. Na gut, habe ich gedacht, bevor du gar nichts hast … Und gleich am zweiten Tag ging’s mit den Überstunden los. Ich war genau zur richtigen Zeit gekommen, denn das Gebäude wurde tatsächlich abgerissen, um ein neues an seine Stelle zu setzen, und dabei durften wir Lehrlinge mithelfen.
Wir mussten nicht, wir durften! Stahlträger aufbauen, Fliesen kleben, Mauern hochziehen – alles nach der Arbeitszeit, manchmal aber auch schon tagsüber, und dann liefen die verschiedenen Tätigkeiten parallel ab: Die einen reparierten Autos, die anderen rissen unterdessen Wände ein, ein abenteuerliches Durcheinander.
Holger: Das steht nicht im Berufsbildungsplan, würde es heute heißen.
Hans-Jürgen: Klar. Aber ich fand’s großartig. Wieder abends länger machen, wieder Überstunden einlegen, wieder Überstundengeld kassieren – 15 DM die Stunde –, und so habe ich mauern gelernt, verputzen gelernt, Leitungen verlegen gelernt, eben alles, was auf einer Baustelle an Arbeit anfällt. Und wenn mir meine Kinder heute mitteilen: »Papa, hier im Badezimmer müsste was gemacht werden …«, dann kann ich das, dann weiß ich, wie’s geht. Aber unser Chef war so frei, uns auch zu völlig anderen Tätigkeiten heranzuziehen. Er hatte eine Motorjacht auf dem Rhein, die wollte er an Land holen, und da haben wir das Schiff mit vereinten Kräften aus dem Wasser gehievt und vom Rheinhafen in die Firma transportiert und auf Pflöcke gesetzt, bevor es ans Lackabkratzen und Schleifen und Lackieren ging. Zum Abkratzen haben wir die halbrunde Seite von Glasscherben genommen … durften nach getaner Tat aber auch unseren Chef sonntags auf seinen Fahrten rheinauf, rheinab im Motorboot begleiten.
Der Rest ist schnell erzählt. Die Gesellenprüfung habe ich bestanden, ohne groß zu büffeln; ich war mir meiner Sache sicher, der Erfolg flog mir zu. Es folgte die erste Meisterprüfung, zwei Jahre später die zweite, zum Elektrikermeister, und 1982 hatte mein alter Chef die brillante Idee, mich mit ins Geschäft zu nehmen und was Gemeinsames auf die Beine zu stellen. Also gingen wir daran, uns im Süden von Köln etwas Neues aufzubauen, und jetzt zahlte sich aus, dass der Betriebsbildungsplan während meiner Lehrzeit keine Rolle gespielt hatte: Wir haben den Bau des kompletten Gebäudes allein gestemmt, weshalb ich heute vom kleinsten Schräubchen weiß, wo es sitzt.
Kurz und gut – ich war immer eher praxisorientiert. Ich habe meine Erkenntnisse immer durch praktische Arbeit gewonnen. Und wenn ich heute vor einer Aufgabe stehe, von der ich nicht genau weiß, wie ich sie angehen soll, dann sage ich mir: Du weißt es NOCH nicht. Aber hinterher wirst du es wissen …
Und jetzt du, Holger.
Holger: Okay. Mich juckt’s in den Fingern, mal wieder zu reparieren, deshalb will ich von meinem ekelhaften Werkstattleiter erzählen. Nach Lehre und Bundeswehr habe ich nämlich meine ersten Berufserfahrungen in einer Ford-Niederlassung gemacht – und bin dort zum ersten Mal im Leben an meine Grenzen gestoßen. Wenn du Kollegen hast, die einen jungen Mann wie mich als Konkurrenten betrachten, ist es schon bitter genug, aber wenn der Werkstattmeister dann auch noch ein wahrhafter Kotzbrocken ist … Ein Jahr lang habe ich mich richtig durchbeißen müssen, bevor mich die anderen Mechaniker akzeptierten, wobei ich eigentlich gut mit Menschen zurechtkomme.
Jedenfalls, der Werkstattleiter der Elektrikabteilung und die Gesellen waren eine verschworene Bande; die ließen mich ein ums andere Mal auflaufen. Jetzt kam es in dieser Zeit zu einer großen Rückrufaktion – alle Ford Skorpios sollten neue Tachometer erhalten. Dieser Austausch ging so vonstatten: Jeder neue Tacho wurde zunächst zum Hersteller VDO gebracht und dort eingestellt, weil er den aktuellen Kilometerstand des alten Tachos aufweisen musste, bevor wir ihn einbauen konnten. Für den Aus- und Einbau der Tachos bei uns waren 1,5 Stunden vorgesehen, und VDO nahm für jeden Tacho 50 DM  – das war also eine recht kostspielige Angelegenheit.
Eines Abends habe ich einen Tacho mit nach Hause genommen, auseinandergeschraubt und festgestellt: Ist doch ganz einfach! Den Kilometerstand kann ich auch selbst einstellen, dafür brauchen wir die Dinger gar nicht zu VDO zu bringen! Anderntags kommt der nächste Skorpio rein. »Bau den Tacho schon mal aus und bring …« – »Nee, nicht nötig, kann ich selber machen.« – »Wie, selber machen?« – »Ja, ich weiß, wie’s geht.« – »So ein Quatsch!«
Stur, wie ich bin, nehme ich mir den Tacho vor, stelle den Kilometerstand ein und bin in drei Minuten damit fertig. »Hier, können wir einbauen.« – »Zeig mir mal, wie du das machst.« – »Nö, tu ich nicht.« Na gut, haben sie mich machen lassen, und von jetzt an ging jeder Tacho durch meine Hände. Pro Tacho durfte ich eine halbe Stunde abrechnen, und bei drei Stück am Tag waren schon wieder anderthalb Stunden auf meinem Konto. Dieses Kunststück fanden sie nun doch einigermaßen beeindruckend, und irgendwann habe ich die günstige Gelegenheit genutzt und den Kollegen die Meinung gesagt: »Ich finde nicht fair, wie ihr mich behandelt. Jetzt drehe ich den Spieß um und zeige euch nicht, wie’s geht. Wir können aber auch sagen: Jetzt ist mal gut mit den Schikanen, von nun an wird hier keiner mehr fertiggemacht … Jungs, ich bin kein Supermann. Ich will einfach nur lernen.«
Hans-Jürgen: Kenne ich. Ich habe zeitweilig beim Bosch-Dienst in Aachen gearbeitet, und der Werkstattleiter dort konnte mich nicht leiden – ich war ihm zu schnell. Einmal schickt er mich zu Mercedes, wo ich einen Kabelstrang beim Transporter austauschen soll, und zwei Stunden später bin ich zurück. »Was machst du denn hier?« – »Alles erledigt.« – »Nee, so geht das nicht. Dafür werden acht Stunden veranschlagt.« – »Ich bin aber fertig. Der Wagen ist vom Werkstattleiter abgenommen.« – »Kann nicht sein.« So ging es die ganze Zeit, aber Rumbummeln war nicht mein Stil. Also, der mochte mich nicht und ich ihn auch nicht.
Holger: Wird manchem so ergangen sein. Klar, du kommst aus der Ausbildung, und in der Niederlassung wissen sie natürlich ganz genau, wo es bei Ford hapert – da ist es ein Leichtes, dich auflaufen zu lassen. Mich hat diese Rückrufaktion gerettet. Es musste ja wahnsinnig viel umgerüstet werden, und dann kam einer nach dem anderen an: »Hör mal, kannst du mir mal eben den Tacho einstellen?« – »Klar, kein Problem.« Unter der Bühne wurde weitergearbeitet, und ich habe mich oben ins Auto gesetzt – Tacho raus, ruck, zuck eingestellt, Tacho rein –, und nach fünf Minuten hatte ich wieder eine halbe Stunde mehr auf der Uhr … War anfangs eine harte Zeit, aber ich habe viel gelernt, vor allem den Umgang mit Menschen.
Hans-Jürgen: Mitleid ist umsonst, Missgunst will erarbeitet sein.
Holger: Das stellt man immer wieder fest … So, und nach diesen zwei Jahren bei Ford hat mein Vater die Tankstelle aufgegeben. Damals wurde auf Selbstbedienung umgestellt, und da lohnte es sich nicht mehr für ihn. Danach hat er in der Schreinerei meines Onkels Autos und Maschinen instand gesetzt, und ich bin zur Meisterschule gegangen.
Zwei Jahre später schlug dann eine Schicksalsstunde. Ich komme abends ins Wohnzimmer, wo Mama und Papa sitzen, und zeige stolz meinen Meisterbrief in die Runde. Jetzt muss gefeiert werden, Papa entkorkt eine Flasche Champagner, und im Lauf des Abends rückt er mit einem Vorschlag heraus, den er sich wahrscheinlich längst in seinem Hinterkopf zurechtgelegt hatte: »Wollen wir nicht was gemeinsam machen?« Mir war’s recht. Gemeinsam einen Neuanfang wagen, eine Superidee. Ein halbes Jahr später wurden wir auf unserer Suche nach einer Werkstatt fündig. Es war eine kleine Werkstatt, nur 160 Quadratmeter Hallenfläche, aber für den Anfang genau das Richtige, und mit einem Mal führten Mama, Papa und Holger einen Familienbetrieb. Für Holger gab’s sogar eine Einliegerwohnung.
Ausbilden durfte ich mit meinen 22 Jahren noch nicht, aber kühne Träume ließen sich schon jetzt verwirklichen. Und so habe ich als Erstes einen Motor-Diagnosetester für 40000 DM angeschafft, ein riesengroßes Teil, der Mercedes unter den Testern, nämlich ein Sun MCS  2000 mit digitalen Displays – der machte in der kleinen Werkstatt richtig was her. Mein Vater war von dieser Idee zunächst wenig angetan gewesen. »Muss das sein?«, hatte er mich stirnrunzelnd gefragt. Aber ich war mir meiner Sache sicher. »Ja, Papa, das muss sein. Ohne dieses Teil brauchen wir erst gar nicht anzufangen, da werden wir nie wirklich groß …«
Und mit der Zeit wuchs unser Unternehmen tatsächlich. Der erste Mitarbeiter kam dazu, dann ging es mit der Lehrlingsausbildung los, und irgendwann erfuhr ich, dass der Besitzer meiner jetzigen Werkstatt keine Lust mehr hatte. »Willst du das Ding nicht haben?«, fragte er mich. Und ob ich wollte! Klar, 80 Prozent des Inventars habe ich hinterher weggeschmissen, aber es ging mir um den Standort, und genau deshalb war es die richtige Entscheidung.
Heute sind wir elf Leute, und mein Vater mischt mit seinen 83 Jahren immer noch in der Werkstatt mit. Er verdient auf diese Art etwas Geld, aber das ist gar nicht ausschlaggebend. Meine Söhne sind mittlerweile ebenfalls in meine Firma eingetreten, und mein Vater ist einfach gerne den ganzen Tag mit uns zusammen. Verständlich, nach all den wilden gemeinsamen Jahren.