Daisy wurde vom Sonnenlicht geweckt – und von einem Kitzeln in der Nase. Sie nieste und setzte sich im Bett auf, wobei sie Napoleons Schwanz aus ihrem Gesicht schob. Sonnenstrahlen strömten durch das Dachfenster über ihr. Goldene Staubkörnchen schwebten durch die Luft und setzten sich auf das Laken.
Allmählich kamen die Einzelheiten der vergangenen Nacht wieder zurück. Sie erinnerte sich, wie Artemis sie eine Wendeltreppe hinaufgeführt hatte und in ein Turmzimmer mit weichem Teppichboden. Sie erinnerte sich, wie Miss Tufton aufgetaucht war und ihr unter leisem Summen ein dampfend heißes Bad eingelassen und die weißen Laken auf dem frisch bezogenen Bett zurückgeschlagen hatte.
Und dann war da nur noch Schlaf gewesen, der sie wie eine sanfte Welle mit sich riss.
Als sie die Füße aus dem Bett schwang, sah Daisy, dass sie ein altmodisches weißes Nachthemd trug. Ihre eigenen Kleider lagen gewaschen und gebügelt auf einem Sessel. Sie tappte über den kuscheligen grünen Teppich und stellte fest, dass es sich um Moos handelte, das mit weißen Blüten übersät war. Marienkäfer krabbelten ihres Weges, und Daisy musste aufpassen, auf keinen von ihnen draufzutreten. An der Wand wuchs üppiger Blauregen und rankte sich um den Spiegel, aus dem Daisy ihr eigenes erschrockenes Gesicht entgegenblickte. Sie hatte eine Schramme an der Stirn und eine weitere an der Hand, an der sie saugte, während sie sich im Raum umsah. Abgesehen vom Sessel und dem Bett gab es nicht viele Möbel, dafür aber eine kuriose Sammlung an Muscheln, Kieselsteinen, Federn und Fossilien, die in den Regalen verstreut lagen, ein Stapel Bücher auf einer Kommode und – das Beste von allem – ein altes Messingteleskop, das aus dem Dachfenster ragte und auf die unsichtbaren Sterne gerichtet war.
Darunter befand sich ein Fenster, das wie das Bullauge eines Schiffes aussah und den Blick auf einen weiteren Apfelgarten freigab. Dahinter lag der See, groß und blau und leuchtend, dann die weitläufige grüne Wiese und an deren Ende das in der Sonne funkelnde Gewächshaus. Schwärme von Sittichen flogen über den Himmel und ließen sich auf den Bäumen nieder wie grüne Flitter in einer Schneekugel. Napoleon stellte die Pfötchen auf die Fensterbank und maunzte.
Es war , dachte Daisy, also doch kein Traum.
Sie ließ sich kaum Zeit, den letzten Knopf ihres Rocks zu schließen, setzte Napoleon auf ihre Schulter und lief die Treppe hinunter.
Das Trällern von Opernmusik und das Klappern von Pfannen leiteten sie über drei Etagen die Treppe hinunter. Auf der ersten befanden sich das Badezimmer und die Wanne mit den Klauenfüßen, in der Daisy am Abend zuvor gebadet hatte. Bergeweise flauschige Handtücher lagen dort und das umfangreichste Seifensortiment, das Daisy je gesehen hatte. Die Seifen waren zu regenbogenfarbenen Stapeln getürmt, die bis zur Decke reichten. Die nächste Etage beherbergte einen grasbedeckten Korridor, der mit Windröschen übersät war und zu zwei verschlossenen Türen führte, hinter denen Daisy zwei Schlafzimmer vermutete. Und vom letzten Treppenabsatz ging es hinunter in die große, gemütliche Küche.
Artemis saß am Tisch, hatte eine Menge Papiere um sich herum ausgebreitet und biss in ein gigantisches Butterhörnchen.
»Ah, Daisy, endlich!« Sie sah erfreut aus. »Komm, setz dich. Hast du gut geschlafen?«
»Ja«, sagte Daisy und wurde mit einem Mal ganz schüchtern. »Danke.«
Artemis winkte sie zu sich, und Daisy sah, dass am anderen Ende des Tischs ein Junge saß – der, den sie am Vorabend mit dem leuchtenden Drachen gesehen hatte. Sein dunkles Haar war noch lockiger und verstrubbelter als gestern, und gerade verschlang er ein Stück Früchtekuchen. Seine braunen Augen blitzten vor Neugier, und auf seinem Kopf saß ein grüner Papagei.
»Guten Morgen«, sagte er grinsend. »Freut mich, dass du wieder bei Bewusstsein bist.«
»Mehr oder weniger«, antwortete Daisy, wobei ihre Stimme selbst für ihre Ohren unsicher klang. Dann klapperte der Ofen, und Miss Tufton tauchte auf. In ihrem Dutt steckte eine Stricknadel.
»Na, auch schon wach?«, brummte sie, aber ihre Augen waren freundlich. Ihr fehlten sechs Zähne (Daisy zählte nach), und ihre Pantoffeln waren an den Seiten aufgeschnitten. »Ich brauch Platz für meine Füße«, sagte sie, als sie Daisys verdutzten Blick bemerkte. »Ich hab schreckliche Schmerzen, Tag und Nacht. Oh, meine Füße machen mir zu schaffen, aber ich beklage mich nicht.« Sie stieß einen Seufzer aus und wuchtete eine riesige Suppenterrine auf den Tisch.
»Vielen Dank«, sagte Artemis. Sie wandte sich an Daisy. »Miss Tufton ist meine Haushälterin. Und das ist Podsnap Junior«, fügte sie hinzu und winkte mit der Hand in Richtung des Jungen. Sie sagte es so, als würde sie einen lästigen Hund vorstellen, der insgeheim der Herr des Hauses war, und er machte eine ironische Verbeugung.
»Indigo Podsnap«, stellte er sich vor. Seine Augenbrauen waren schön geschwungen, bemerkte Daisy, und seine Haut und seine Augen hatten dieselbe goldbraune Farbe wie geschliffener Bernstein, wenn man ihn ins Licht hält. Er trug eine moosgrüne Latzhose mit Erde an den Knien, und an der Lehne seines Stuhls hing ein mit Äpfeln gefüllter Beutel.
»Wohnst du auch hier?«, fragte Daisy und schaffte es gerade noch, Napoleon am Schwanz zu packen, bevor er sich auf den Papagei stürzen konnte.
»Ich? Nein. Ich und Jethro« – er deutete auf den Vogel, der Napoleon wütend anzwitscherte – »wohnen in der Nähe des Malvenhains. Wir sind nur wegen des Essens hier.« Miss Tufton, die eine Schüssel Kartoffeln zum Tisch trug, versetzte ihm einen Klaps auf den Hinterkopf. »Autsch! UND natürlich wegen der netten Gesellschaft.«
Artemis schnaubte und schob Daisy eine dampfende Schale mit Tomatensuppe und einen Stapel heißer, gebutterter Brötchen zu. Indigo schlürfte bereits seine Suppenschale aus und ließ sie sinken. Ein orangefarbener Schnurrbart zierte seine Oberlippe. »Meine Dads sind keine großen Köche«, sagte er, als ob das seinen Appetit erklären würde.
»Anscheinend sind sie auch keine Verfechter von Tischmanieren«, bemerkte Artemis amüsiert, als Indigo mit verschmierter Hand nach einem weiteren Brötchen greifen wollte. Sie sah ihn streng an, und er zögerte kurz, bevor er es mit der Gabel aufspießte und sich in den Mund schob.
»Mmmpff«, machte er entschuldigend.
Daisy aß einen Löffel Suppe und schaute sich um, behielt dabei aber Napoleon im Auge, um sicherzugehen, dass er sich nicht noch mal auf den Papagei stürzte. Neben dem Herd stand ein wackeliges Regal voller Bücher, die meisten davon alt und zerfleddert. Mit zusammengekniffenen Augen musterte sie die Buchrücken – sie trugen Titel wie Kräuterkundlers Werk des angewandten Botanismus , Das große Botanexikon: Von Alfalfa bis Zinnia und Immer Trubel mit den Tulpen . Eine Reihe von Kupfertöpfen hing an Haken von der Decke, zusammen mit dicken Sträußen duftender Kräuter: Rosmarin, Lavendel, Thymian und einige andere, die Daisy nicht kannte. Ein Topf Efeu am Boden ließ seine Ranken über Indigos Fuß wuchern.
»Gibst du mir mal den Holzlöffel, Daisy, Liebes?«, sagte Artemis, die gerade einen Bücherstapel als Trittleiter benutzte, um eine stachelige rötliche Ranke wegzulocken, die sich um die Knäufe des Gewürzschranks gewunden hatte. Daisy reichte ihn ihr und sah zu, wie Artemis die ausgebüxte Ranke zu den anderen hinüberzog, die sich um die Deckenbalken schlangen. Indigo fütterte den Papagei mit den Krumen seines fünften Brötchens, und Miss Tufton beaufsichtigte mit Argusaugen, wie eine Blattranke saubere Teller in einem Schrank stapelte. Währenddessen wiegte eine riesige Topfpalme ihre Blätter im Takt der Musik, die aus dem Grammophon dudelte.
»Ich möchte wirklich nicht unhöflich sein«, sagte Daisy, »aber wo bin ich, und was ist das hier alles?«