18. Kapitel

Als sie zurückkamen, verschwand Artemis die Treppe hinauf. »Packen«, sagte sie knapp. »Wenn ich es noch heute Abend zum Präsidium schaffen will, darf ich keine Zeit verlieren.«

Indigo saß am Küchentisch, sah schrecklich fröhlich aus und verputzte eine gigantische Waffel.

»I-ah?«, fragte er mit vollem Mund.

»Wie bitte?«

Er schluckte und grinste. »Wie war’s? Im Petersilium?«

Miss Tufton kochte gerade Tee und stellte das Grammophon leiser, um nichts zu verpassen.

»Dieser Mann!«, platzte es kurz darauf aus ihr heraus, als Daisy ihren Bericht über Sheldrake beendet hatte. »Der alte Griesgram! Geht immer vom Schlimmsten aus!« Die Haushälterin schlurfte durch den Raum und sah noch mürrischer aus als sonst, als würden ihr beim Reden über Sheldrake die Füße ganz besonders weh tun. »Eine Spionin! Sonst noch was? Achte nicht auf ihn, Daisy. Er liebt es, anderen das Leben zur Hölle zu machen.«

»Das stimmt«, pflichtete Indigo ihr bei, der Jethro mit Körnern aus seiner Tasche fütterte. »Nimm’s nicht persönlich. Er hasst jeden.«

»Du glaubst mir also?«, fragte Daisy. »Du denkst nicht, dass ich eine Spionin bin?« Aus irgendeinem Grund war seine Antwort von großer Bedeutung.

»Natürlich nicht!«, sagte Indigo mit Nachdruck, und Daisy spürte, wie sich etwas in ihren Schultern lockerte. Mit dem Butterklecks auf der braunen Wange und dem grünen Papagei auf der Schulter sah er wie eine Mischung aus einem Zuckerbäcker und einem Piraten aus.

Es knarrte auf der Treppe, Daisy schaute auf und sah, wie Artemis mit einem altmodischen Koffer in der Hand hinuntergepoltert kam. Er war mit einer dicken Ranke verschnürt.

»Oh, herrlich«, sagte sie, als sie den Stapel goldgelber Käsetoasts auf dem Tisch entdeckte, und nahm sich einen. »Ich kann von Glück reden, wenn ich da, wo ich hingehe, mehr als einen trockenen Keks bekomme. Das Präsidium ist nicht gerade für seine Gastfreundschaft bekannt.«

Daisy beugte sich vor, und sogar Napoleon spitzte die Ohren. »Glaubst du, es wird funktionieren? Werden sie die Suchexpedition zulassen?«

»Ich denke, wir haben eine gute Chance«, erwiderte Artemis und bestrich den Toast energisch mit Senf. »Wie ich schon sagte, Daisy, deine Geschichte ändert die Dinge. Apropos – kannst du mir noch etwas mehr über Craven erzählen, bevor ich gehe? Ganz egal, was?«

»Au ja«, sagte Indigo. »Ist er so ein richtiger Bösewicht? Mit einem dunklen Umhang und rotglühenden Augen?«

»Äh … nein«, sagte Daisy. »Seine Augen sind grün.« Indigo sah enttäuscht aus. »Und er schien eigentlich … na ja … ganz nett zu sein.«

»Klar«, schnaubte Indigo. »Bis er versucht hat, dich zu entführen.«

Daisy runzelte die Stirn. »Also, er hat viele Witze gemacht und er mag Karamellbonbons und er hat alle möglichen lustigen Geschichten erzählt. Wie er einmal ein Hochlandschaf interviewt hat oder wie er in Äthiopien von einem wütenden Nilpferd gejagt wurde.« Dann fiel ihr noch etwas ein. »Oh, und er hatte fünf Leberflecke am Handgelenk. Daran erinnere ich mich, weil sie die Form von Kassiopeia hatten – das Sternbild, meine ich. Wie ein langgezogenes W.«

Artemis blickte ruckartig auf. »Am linken Handgelenk?«

»Ja …«

»Und grüne Augen, sagtest du? Wie alt ist er?« Artemis’ Stimme war eindringlich.

Daisy runzelte die Stirn und überlegte. »Um die vierzig, glaube ich. Und er hatte so ein schiefes Lächeln, wisst ihr, mit nur einem Mundwinkel.«

Miss Tufton ließ die Teekanne fallen. Sie zerschellte auf dem Boden, so dass Napoleon fauchend aufsprang, weil heißer Tee auf sein Fell spritzte. »Cardew«, flüsterte die Haushälterin. »Das muss er sein.«

»Was?«, sagte Daisy und schaute zwischen Artemis und Miss Tufton hin und her, während Napoleon sich auf ihre Arme rettete. »Wer ist Cardew?«

Aber Miss Tufton fegte bereits lautstark die Scherben auf, und Artemis leerte ihre Tasse und schaute auf die Uhr über der Tür.

»Meine Güte, schon so spät? Ich muss los!«

Daisy starrte auf die Uhr. Der Minutenzeiger war eine stachelige Distel und der Stundenzeiger eine Tulpe, die sich von Himmelblau zu Rosa verfärbte, wenn die erste Hälfte einer Stunde vergangen war.

Artemis, die sich einen knalligen violetten Mantel über ihre zitronengelbe Latzhose geworfen hatte, eilte die Wendeltreppe hinunter. »Benehmt euch!«, rief sie über die Schulter. »Miss Tufton kümmert sich um euch, bis ich zurück bin!« Und dann war sie weg.

»Na, das war ja seltsam«, sagte Daisy und sah Indigo an. »Miss Tufton, wer ist dieser Card…«

Doch Miss Tufton war schon auf der Treppe und murmelte vor sich hin, dass sie einen der Schrankbäume zurückschneiden müsse.

»Ja«, sagte Indigo langsam. »Das war wirklich seltsam. Cardew war … also, ich habe schon von ihm gehört. Jeder hat von ihm gehört.«

»Und was?« Daisys Augen wurden groß. »Erzähl!«

Indigo blickte unbehaglich drein. »Er ist … na ja, er war … Cardew war ein Mörder.«

»War?«

Indigo nickte. »Er hat drei Botanisten getötet – vor etwa zehn Jahren, glaube ich. Und dann ist er selbst gestorben. Ich weiß allerdings nicht, wie. Niemand redet darüber.«

»Vielleicht lebt er ja noch«, sagte Daisy. »Vielleicht ist er draußen in der Grauwelt, arbeitet beim High Herald und nennt sich Craven. Und wenn das stimmt … dann hat er garantiert etwas mit dem Verschwinden von meiner Ma zu tun!«

Indigo schaute sie an und nickte. »Das ist ein Hinweis, oder nicht? Er könnte uns helfen, die verschwundenen Botanisten zu finden!« Er sprang auf und warf einen Blick auf den Tulpenzeiger, der sich langsam auf die fünf zubewegte. »Komm mit. Es gibt da zwei Leute, die du kennenlernen solltest. Komm schon, lass uns gehen!«

»Wohin?«

Aber Indigo eilte bereits die Wendeltreppe hinunter und sprang in den Vorgarten. Er war voller weißer Fingerhüte, und mehrere schmale Pfade schlängelten sich in verschiedene Richtungen durch das Gras. Eine Ziege, die neben einer Koppel stand, kaute büschelweise Gras und blickte ihnen missmutig entgegen.

»Darf ich vorstellen: Silas«, sagte Indigo, als die Ziege sie anspuckte.

Daisy sprang zurück – direkt in den Weg eines Hühnertrios, das auf den Hühnerstall zusteuerte. »Pass auf!«, rief Indigo, aber es war zu spät – eins der Hühner hatte schon den Schnabel geöffnet und fauchte wie ein Drache. Daisy schrie auf, als eine blaue Feuerwolke aus seinem Schnabel kam und ihre Haarspitzen ansengte. Kurzerhand tauchte sie den Zopf in eine Regentonne, während Napoleon wütend miaute.

»Du wolltest, dass ich eine Ziege kennenlerne?«, fragte sie Indigo, als sie sich keuchend aufrichtete. »Und ein feuerspeiendes Huhn?«

»Nein! Na ja, die auch – aber eigentlich habe ich jemand anderen gemeint.« Indigo raunte den Hühnern etwas zu und schaffte es, drei Eier aus ihrem Stall zu klauen, die er vorsichtig für Miss Tufton beiseitelegte. »Salzhennen«, sagte er wie zur Erklärung. »Ganz übler Charakter.«

Nachdem Daisy ihre neue Latzhose auf Brandflecken überprüft hatte (zum Glück gab es keine), lief Indigo bereits am Zaun der Koppel entlang und redete mit vier Pferden auf der anderen Seite, denen er schwungvoll Äpfel zuwarf. Er sah überglücklich aus, als er sich Pferdespucke aus dem Gesicht wischte, während ihm Napoleon um die Beine strich und drei Sittiche um den Kopf flatterten. Ein Igel kam aus dem hohen Gras getappt und rieb hingebungsvoll seine Stacheln an Indigos Schuh.

Daisy spürte, wie etwas in ihr Klick machte. »Du kannst gut mit Tieren umgehen«, stellte sie fest. »Richtig gut.«

Indigo zuckte bescheiden mit den Schultern und wackelte mit den Augenbrauen. »Das ist nur ein Trick. Wie Jonglieren. Oder den eigenen Ellbogen ablecken.« Bevor Daisy etwas sagen konnte, drehte er sich um und rannte durch den Apfelgarten in Richtung des Seeufers, wobei er über die Schulter rief: »Beeil dich! Es ist kurz vor fünf!«

Daisy setzte Napoleon auf ihre Schulter und rannte ihm nach. »Was passiert denn um fünf?«, schnaufte sie, als Indigo auf die nächste Segelrose hüpfte und sie drängte, ihm nachzuspringen. »Wen treffen wir?«

»Geduld, Disteldorn«, sagte Indigo nur. »Du wirst schon sehen.«

Daisy machte »Hmpf!« und lehnte sich im Boot zurück. »Für dich ist das ja alles ganz normal«, sagte sie und fuhr mit den Fingerspitzen durchs Wasser, erinnerte sich dann an den Alligator und zog sie schnell zurück. »Wie lange wohnst du schon hier?«

»Seit mehreren Jahren«, erwiderte Indigo, als sie einen Bogen um den Springbrunnen in der Mitte des Sees fuhren. »Ich wurde in Kolumbien geboren – in Silvestrano, dem größten Gebiet im südamerikanischen Greenwild. Dad und Papá sind hergezogen, als ich fünf war.« Er hielt inne und winkte einem Botanisten zu, der auf einer benachbarten Segelrose vorbeifuhr. »Im Moment sind sie verreist, um Korallen zu erforschen, aber nächsten Monat kommen sie zurück. Wir wohnen in unserem Haus da drüben« – er deutete auf eine Ansammlung von Baumhäusern am Waldrand – »aber Artemis hat versprochen, sich um mich zu kümmern, solange sie weg sind, und ich habe versprochen, mich um Miss Tuftons Milchbrötchen zu kümmern. So haben alle was davon.«

Daisy lachte, als sie von der Segelrose ans andere Ufer sprangen. »Meine Ma kommt aus dem Iran. Und wir sind immer viel auf Reisen gewesen, weil sie Journalistin ist.«

»Und wieso hast du dann einen englischen Namen?«, fragte Indigo und blickte ihrer Segelrose nach, die über den See zurückglitt. »Wenn deine Mutter doch Iranerin ist, meine ich.«

»Ma sagt, ich wurde nach meiner englischen Großmutter benannt – väterlicherseits. Mein richtiger Name ist Diana, aber das konnte ich nicht richtig aussprechen, als ich klein war, und so wurde Daisy daraus – Gänseblümchen.«

»Guter Name.« Indigo führte sie über die weitläufige Wiese, weg vom Petersilium. »Und immerhin bist du schon weitgereist. Ich habe Greenwild noch nie verlassen.«

Daisy kraulte beim Gehen zerstreut Napoleons Fell und musste an das Leuchten in Mas Augen denken, wenn sie ihr ein neues Ziel ankündigte. Goa! Caracas! Kairo! Lagos!

Es war wundervoll gewesen, aber … »An nur einem Ort aufzuwachsen, muss auch toll sein«, sagte sie. »Hier.«

Sie ließ den Blick über die Landschaft schweifen und betrachtete das Petersilium hinter ihnen, dessen Fenster im Abendlicht erstrahlten. Sie spürte eine große Sehnsucht, und unmittelbar darauf eine Welle von Schuldgefühlen. Ihr Leben lang hatte sie sich wie eine Topfpflanze gefühlt, die ständig von einem Ort zum anderen gebracht wurde, ohne je Wurzeln schlagen zu können.

Wie es wohl wäre, an einen Ort wie diesen zu gehören? Ein Zuhause zu haben?

»Glaub mir«, sagte Indigo. Er hatte die Augenbrauen dicht zusammengezogen. »Von einem Ort kann man auch genug kriegen. Ich kann es kaum erwarten, draußen in der Grauwelt zu sein. Tiere zu retten. Etwas zu bewirken.«

Daisy runzelte die Stirn und dachte an Ma in Peru – auf der Suche nach einer Geschichte, die sich als genauso gefährlich erwiesen hatte, wie sie befürchtet hatte. Sie strich mit den Fingern über die Spitze eines hohen lila Büschelgrases, woraufhin es zu niesen begann. »Gesundheit«, sagte Daisy abwesend. Dann schrak sie auf.

»Schnoddergras«, bemerkte Indigo. Er lachte und sah ihr ins Gesicht. »Ich vergesse immer wieder, dass du das ganze Zeugs nicht kennst. Ich habe noch nie jemanden getroffen, der nicht in Greenwild aufgewachsen ist.«

»Wie groß ist es?«, fragte Daisy und rieb sich die Nase. »Greenwild, meine ich?«

»So groß wie die Grauwelt«, erwiderte Indigo. »Es gibt überall Zufluchtsorte – Hunderte davon, überall auf der Welt, genau wie in Kew Gardens.«

»Moment mal«, sagte Daisy, der plötzlich ein Gedanke kam. »Muss man aus einer Botanistenfamilie stammen, um grüne Magie zu haben?«

Indigo zuckte mit den Schultern. »Die meisten schon – aber manche kommen auch aus Familien aus der Grauwelt. Menschen, die die Natur so sehr lieben, dass es ihnen in den Knochen steckt. Die finden meistens ihren Weg hierher, auf die eine oder andere Weise.« Er grinste. »Komm schon, du hast noch kaum was gesehen! Wer zuerst bei den Bäumen ist!« Er rannte los, und Daisy sprintete ihm mit einem entrüsteten Schrei hinterher.

Am Waldrand blieben sie stehen, keuchend und lachend.

»Erster!«, schnaufte Indigo.

»Pff!«, machte Daisy. »Du hattest Vorsprung.« Aber sie grinste.

Indigo grinste zurück, wobei ein leicht schiefer Zahn zum Vorschein kam. Dann begann eine Glocke zu schlagen: fünf langsame Schläge.

»Fünf Uhr!«, sagte Indigo und trat in den Wald. »Komm – es ist Zeit!«