22. Kapitel

»Wow«, flüsterte Daisy. Auch Napoleons Augen wurden groß.

Sie standen am Eingang eines überwucherten Gartens. Üppige weiße Rosen rankten sich um die hohen Mauern, und das Mondlicht tauchte die Szene in einen lebendigen Scherenschnitt aus schwarzen Bäumen und wogendem silbernem Gras. Zu ihrer Linken lag ein Lavendelfeld, das zum Ufer eines Teichs hinunterführte, in dessen Mitte sich der Mond spiegelte. Der Ort fühlte sich süß und verheißungsvoll an.

Der Mond hing wie eine Laterne am Himmel, und die Sterne waren groß und unglaublich nah. Auf der anderen Seite der Tür war eisige Winternacht gewesen, aber hier im Garten herrschte Sommer. Der Duft von nachtblühendem Jasmin lag in der warmen Luft, und der Himmel war wie von Glitzerstaub überzogen. Daisy zog ihren Mantel aus und ließ ihn fallen. Dabei rutschte der Samen aus dem roten Umschlag und landete unbemerkt im Gras.

Einen Moment lang war es still, dann hörte sie es wieder – ein seltsames Geräusch wie ein unterdrücktes Schluchzen. Als Daisy weiterging, sah sie einen Jungen, der in der Astgabel eines Apfelbaums saß. Er hatte die Beine um den Stamm geschlungen und zupfte an einem losen Stück Rinde.

Daisy warf ihm einen kurzen Blick zu, dann sah sie weg. Sie spürte instinktiv, dass der Junge hergekommen war, um allein zu sein. Sie kehrte ihm den Rücken zu und trat absichtlich auf einen Zweig. Wie ein Schuss hallte das Knacken durch den Garten. Der Junge fuhr auf und wäre vor Schreck fast vom Baum gefallen. Daisy sah, wie er sich mit der Hand die Augen wischte, bevor er rief: »Wer ist da?«

Daisy trat aus dem Schatten und schauderte, als sie die leuchtenden, silbernen Äpfel an den Zweigen sah: Es war unverkennbar der Baum, von dem sie in Wykhurst geträumt hatte.

»Oh«, sagte der Junge unsicher. »Wer bist du?« Er sah zu ihr hinunter. »Wie bist du hier reingekommen? Niemand außer mir kommt hierher.«

Daisy trat näher und musterte das verwirrte Gesicht des Jungen. Seine Haare waren hell und standen vom Kopf ab wie die Samenschirmchen einer Pusteblume, und seine Augen waren dunkel. Er hatte hohe, schräge Wangenknochen und mochte ungefähr so alt sein wie sie, auch wenn es im Mondlicht schwer zu erkennen war. Er war dünn und trug eine kurze Cordhose, unter der knubbelige Knie hervorschauten.

»Ich bin Daisy«, sagte sie. »Und du?«

»Ich bin Hal.« Der Junge setzte sich eine Brille auf die Nase und musterte sie durch die verschmierten Gläser. Daisy sah, dass das Gestell zerbrochen und mit ein paar zierlichen Ranken geflickt worden war.

»Du wohnst nicht im Malvental«, sagte er. »Das wüsste ich.«

»Ich bin gerade erst hergekommen. Aus der Grauwelt. Ich bin von der Schule weggelaufen, um meine Mutter zu suchen und … irgendwie bin ich hier gelandet.«

»Und wo ist deine Mutter?«, fragte der Junge. Er beugte sich neugierig von seinem Ast und schien vergessen zu haben, was ihn zum Weinen gebracht hatte.

»Ich weiß es nicht«, antwortete Daisy.

»Du weißt ja nicht viel«, sagte der Junge, plötzlich abschätzig.

»Du aber auch nicht«, gab Daisy zurück. Es war kein gutes Gefühl, auf dem Boden zu stehen, während er hoch oben vom Baum auf sie herunterschaute. »Und außerdem geht es dich nichts an.«

Verärgert wandte sie sich ab. Plötzlich war sie sehr müde. Sie war hier eindeutig unerwünscht.

»Warte. Es tut mir leid«, ertönte Hals Stimme hinter ihr, und sie hörte, wie er zu Boden sprang. »Mein Vater sagt, ich bin dumm, und wahrscheinlich hat er recht.«

»Hm«, machte Daisy. Mehr sagte sie lieber nicht.

»Er kann mich nicht ausstehen«, fügte Hal mit unsicherer Stimme hinzu. »Er meint, aus mir wird nie ein guter Entdecker.« Er ließ sich mit ausgebreiteten Armen ins Gras fallen, als wollte er einen Schneeengel machen.

Daisy legte sich neben ihn, und sie blickten schweigend zum Himmel, während sie überlegte, was sie sagen sollte. Das Gras war kühl und feucht vom Tau, und die Sterne schienen näher als je zuvor, wie Diamanten an einer großen Lichtkette.

»Einmal«, sagte sie, »war ich mit meiner Ma in der Wüste. Wir haben Sterne beobachtet. Sie hat mir erzählt, dass die Nomaden sich mit Hilfe der Sterne orientieren, genau wie Seefahrer.« Daisy erinnerte sich daran, wie sie mit Ma am Lagerfeuer gesessen und die Sterne betrachtet hatte, die so dicht über den Himmel verteilt waren, dass sie wie helle, silberne Flüsse aussahen.

»Die Sterne werden dir immer den Weg weisen«, hatte Ma gesagt, »wenn du weißt, wie man sie liest. Schau nach oben, und du findest dich selbst.«

Daisy spürte eine Träne über ihre Wange und in ihr Ohr rollen.

»Der Nordstern«, stieß sie hervor und zeigte mit dem Finger nach oben. »Und da sind der Gürtel des Orion und der Pflug.«

»Das ist der Gürtel der Persephone«, sagte Hal, als hätte sie gerade behauptet, die Äpfel an dem Baum über ihnen seien in Wahrheit Tennisbälle. »Mensch, du hast ja echt keine Ahnung!«

Daisy starrte ihn finster an.

»Okay, okay.« Er verdrehte die Augen. »Das kannst du nicht wissen, wenn du gerade erst angekommen bist.« Er streckte den Arm aus. »Das ist der Kleine Spaten, da ist der Papagei und da drüben ist die Große Ringelblume. Ich habe noch nie die Sterne in der Grauwelt gesehen … aber eines Tages werde ich das, wenn ich ein Entdecker geworden bin. Ich werde alles sehen.« Er musterte sie von der Seite. »Warst du wirklich in der Wüste? Wo genau? Erzähl!«

Und Daisy beschrieb ihm die Konturen der Sandhügel und der windgeformten Klüfte, die flirrende Hitze und Mas übellauniges Kamel, das ihr beinahe die Finger abgebissen hätte.

Hals Gesicht war unbewegt, aber obwohl er nichts sagte, spürte Daisy, dass er ihr aufmerksam zuhörte. Sie erinnerte sich daran, wie Ma sie zu einem Kamelrennen herausgefordert hatte und wie sie kreischend durch die Wüste gestürmt waren, und sie bekam einen Kloß im Hals.

Als Daisy nicht weitersprach, drehte Hal den Kopf und sah sie an.

»Ich weiß nicht, wo sie ist«, flüsterte sie. Es fühlte sich schrecklich an, es laut auszusprechen.

»Du wirst sie finden.«

»Woher weißt du das?«

»Ich merke es an der Art, wie du über sie sprichst. Du wirst sie finden.« Er klang ungeduldig, als wäre sie schwer von Begriff. Dann nieste er.

»Heuschnupfen«, erklärte er schniefend. »Es ist, als ob mir das Universum einen fiesen Streich spielt. Ein Botanist mit Heuschnupfen! Zum Totlachen.«

»Oh, hör schon auf mit dem Selbstmitleid«, sagte Daisy. »Du wirst es überleben.«

Hal brummte und setzte sich auf, um sich mit einem Taschentuch lautstark die Nase zu schnäuzen.

Daisy zupfte ein speerförmiges Blatt vom Boden auf und schloss die Augen. Hal war ein bisschen nervig, aber irgendwie kam er ihr vertraut vor. Sogar sein Niesen klang wie etwas, das sie schon mal gehört hatte.

»Wie hast du das gemeint, dass niemand außer dir hierherkommt?«

Hal fuhr mit den Fingern durchs Gras. »Hast du dir nie einen Ort gewünscht, der nur dir gehört? Einen Ort, an dem du ganz allein sein kannst?«

Daisy wurde rot. »Entschuldige«, sagte sie. »Ich kann gehen, wenn du willst.«

Hal grunzte und murmelte dann: »Schon gut. Erzähl nur niemandem davon, okay?«

»Versprochen«, sagte Daisy leise. Sie spürte das weiche Gras unter ihrem Rücken und sah die Sterne über sich dahinziehen. Sie hätte nicht sagen können, wie viel Zeit verging, bis sie von irgendwo in der Ferne das Läuten einer Glocke hörte: sechs träge Schläge tönten durch den Garten.

»Schon so spät«, sagte sie und rappelte sich auf. »Oder früh, wie man’s nimmt. Ich sollte besser gehen.«

»Kommst du wieder?« Hals Tonfall klang, als wollte er sie wissen lassen, dass es ihn nicht wirklich interessierte.

»Ja«, sagte sie zurückhaltend und hob ihren Mantel auf. »Das werde ich.«

Als Daisy die Tür hinter sich geschlossen hatte, brach über der Wiese gerade die Morgendämmerung an, und die Pusteblumen schwebten im goldenen Nebel wie geisterhafte Pompons. Sie wandte sich ab, um zurück zur Buchenvilla zu schleichen, und erstarrte.

Da, in der Ferne, stand eine große, hagere Gestalt mit weißem Haar und einem riesigen Hund.

Sheldrake.

Daisy wich in den Schatten der Mauer zurück, ihr Herz schlug wie eine Trommel. Napoleon war vorne in ihrer Jacke, und sie konnte sehen, wie sich sein Fell sträubte. Als Sheldrake um den See verschwunden war, musste sie warten, bis ihre Beine wieder fest genug waren, um sie zurück zur Buchenvilla zu tragen.