24. Kapitel

Wohin sie auch sah, erfuhr Daisy endlich mehr über Ma und ihre Welt. Sie betrachtete die riesigen Pilze, die wie blaue Sonnenschirme an den Wegrändern standen, staunte über die Samenkapseln, die grün flatternd von den Bäumen flogen, und die summenden Sumpfrosen, die mit ihren Blütenblättern winkten, als würden sie die Luft kosten.

»Alles ist so … wundervoll«, flüsterte Daisy. Zum ersten Mal spürte sie die wahre Bedeutung dieses Wortes in ihren Knochen: voller Wunder . Sie bekam ein verknotetes Gefühl im Bauch, das sie ein bisschen an Magengrimmen erinnerte. Sich an irgendetwas zu freuen, solange Ma verschwunden war, kam ihr wie ein schrecklicher Verrat vor.

Trotzdem konnte sie die kribbelnde Neugierde nicht unterdrücken, die in ihr aufstieg, als sie sich auf den Weg zum Großen Gewächshaus machten, zur letzten Unterrichtsstunde an diesem Tag.

»Das Große Gewächshaus gefällt mir am besten«, sagte Indigo und hüpfte ein bisschen beim Gehen. »Da gibt es Tukane und Vogelspinnen und riesige Otter mit weißen Schnurrhaaren, die wie mürrische alte Herren aussehen.«

Sie erreichten die von Eiben gesäumte Rasenfläche, auf der das Fest zur Zwölftnacht stattgefunden hatte und in deren Mitte das riesige Gewächshaus stand. Beim Näherkommen konnte Daisy sehen, dass es voll schwankender Palmen und violetter Blumen war, die sich wie Seesterne gegen das Glas drückten. Einige von ihnen schienen Zähne zu haben. Über dem Blätterdach thronte ein träger Jaguar auf einem Ast, und darunter baumelte etwas, das wie eine blaue Ananas aussah.

Botanisten eilten durch die hohen Glastüren ein und aus, und Indigo und Daisy gesellten sich zu Kalissa, Septimus, Prof, Ravi, Rishi und Ivy. Daisy legte den Kopf in den Nacken und betrachtete die Kuppel über ihr. Es war, als würde man in einer Glaskathedrale stehen. An den Außenseiten der Scheiben waren schmale Leitern angebracht (»zum Fensterputzen«, erklärte Indigo), und über ihren Köpfen ragten Palmen mit matratzengroßen Blättern auf.

Winzige Kolibris nippten an scharlachroten Blüten, und jadegrünen Sittiche kreisten über ihnen. Draußen war der Himmel tiefblau, aber hier drinnen war alles grün-golden: von Palmen beschattet und von Licht durchflutet.

»Ta-daa!«, sagte Indigo strahlend. »Willkommen im Großen Gewächshaus!«

Blonde Äffchen mit langen Schwänzen schwangen sich quer durch den Raum und riefen fröhlich nacheinander. Zu ihrer Linken bemerkte Daisy eine Blattpflanze, die große, kaugummiblaue Blasen ausstieß. Sie schwebten nach oben, bis sie gegen das Glasdach stießen. Zu ihrer Rechten entdeckte sie eine Herde rosafarbener Stachelschweine, die unter einem Gummibaum faulenzten (»Heckenschweinchen«, sagte Indigo liebevoll, kurz bevor eines von ihnen mit einem Stachel auf seinen Hintern zielte und er einen Satz zur Seite machte). Über ihnen wuchs eine Palme innerhalb von Sekunden um drei Meter und stieß schwungvoll gegen die Decke. Daisy machte sich auf splitterndes Glas gefasst, doch stattdessen dehnte sich die Scheibe wie flüssiges Karamell und bildete mit einem leisen Plopp eine neue Kuppel.

Daisy machte große Augen.

Indigo lachte, sein Lockenschopf war in der feuchten Luft doppelt so groß wie sonst. »Das ist das älteste und größte Gewächshaus im Malvental.«

Eine Gestalt tauchte aus den Blättern auf und klatschte in die Hände. Daisy sah einen stämmigen Botanisten mit blattgrüner Weste und buschigen dunklen Augenbrauen. Er hatte eine Armprothese, bemerkte Daisy, und das Holz, aus dem sie geschnitzt war wirkte geschmeidig und geradezu lebendig.

»Da sind wir also wieder«, sagte der Lehrer, polierte sein Monokel und klemmte es vor ein Auge, um die acht Schülerinnen und Schüler vor sich zu betrachten. »Du musst Daisy sein«, sagte er, als er sie am Rand der Gruppe entdeckte. »Artemis hat erwähnt, dass du heute dabei sein würdest. Ich bin Gulliver Wildish, der Leiter des Großen Gewächshauses.« Seine Haltung wirkte streng, aber seine braunen Augen erinnerten Daisy an die der kecken Ringelschwanzlemuren, die sie mit Ma auf einer Reise nach Madagaskar gesehen hatte. Sie mochte ihn auf Anhieb.

»Kommt hier entlang«, sagte er, und die Klasse folgte ihm.

»Mr. Wildish ist berühmt«, raunte Indigo Daisy zu, als der Lehrer sie tiefer ins Gewächshaus führte. »Er hat viele Jahre lang seltene Heilpflanzen im Amazonas-Regenwald erforscht. Seinen Arm hat er bei einem Angriff von Wilderern verloren und sich aus Flexilis-Holz einen neuen gemacht – extrem anspruchsvolle Magie. Er hat die Wildererbande zerschlagen und sechsundzwanzig gefangene Seekühe gerettet – ganz allein!« Seine Stimme klang ehrfürchtig, und Daisy musterte den Lehrer interessiert.

Sie überquerten eine kleine Lichtung, auf der mehrere Lehrer arbeiteten – sie schnitten, gruben, ernteten, kletterten Leitern hinauf und hinunter und sprachen miteinander und mit den Pflanzen. Hoch oben zwischen den Blättern bemerkte Daisy plötzlich einen roten Blitz und kniff die Augen zusammen. Es war ein winziger Mann in einer roten Latzhose, etwa so groß wie ihr Daumen. Er war an einem kunstvollen Miniaturgurt befestigt und seilte sich an einer kleinen gelben Trompetenblume ab.

»Ah!«, sagte Mr. Wildish, und seine Brauen hüpften vergnügt. »Wir haben vor ein paar Tagen eine Lieferung Minimoos bekommen und können uns endlich um einige wichtige Aufgaben kümmern, die eine … leichte Hand erfordern.« Er wandte sich an die Klasse. »Passt gut auf!«

»Minimoos?«, fragte Daisy. »Wozu ist das gut?«

»Ist das nicht offensichtlich?«, sagte Prof, die neben ihr auftauchte. »Wer ein Fitzelchen davon isst, schrumpft auf einen Bruchteil seiner eigentlichen Größe. Das hält natürlich nur ein paar Stunden an, kann aber sehr praktisch sein.«

»Ganz genau.« Mr. Wildish nickte. »Der junge Mr. Foggit dort drüben hilft bei der Handbestäubung der Fingerhutblüten. Ein ausgewachsener Mensch ist für diese Aufgabe viel zu ungeschickt: Die Blumen sind so zart, dass eine einzige grobe Berührung sie zerstören würde.«

Ein Jubelruf ertönte, als der winzige Botanist mit seinem noch winzigerem Pinsel aus dem Inneren der Trompetenblume hervorkam und sich zur nächsten Blüte manövrierte, wo er abermals feinste Körner auf den orangefarbenen Staubgefäßen absetzte. Daisy blickte sich um und stellte fest, dass sich das halbe Gewächshaus versammelt hatte, um ihm zuzusehen. Manche der Umstehenden benutzten Operngläser, als wären sie Zuschauer bei einer spannenden Aufführung.

»Bravo!«, rief eine Dame.

»Ein bisschen nach links, alter Knabe«, riet eine andere.

»Pass auf den Kolibri auf!«, rief eine dritte. Und dann: »Oooh!« – kollektives Einatmen, als der geschrumpfte Mr. Foggit hinter einem Palmenblatt Schutz suchte. Es folgte eine angespannte Stille, während der Vogel vorbeiflog, dann ertönte das Stimmchen des Botanisten, »Alles klar!«, und alle atmeten aus.

Daisy sah gebannt zu, wie Foggit sechs weitere Blüten bestäubte und sich dann auf den Boden abseilte, wo seine winzige Gestalt zwischen den Füßen der Beobachter verschwand. Ein paar Minuten später sah sie, wie sich ein breiter Rücken in einer roten Latzhose vom Boden erhob und der grinsende Foggit – der mindestens einen Meter achtzig groß war – eine Runde Beifall und Schulterklopfen entgegennahm. »Tolle Show!« und »Gut gemacht!« riefen die Botanisten.

Indigo brachte kaum ein Wort heraus vor Bewunderung. »Voll. Cool!«, hauchte er.

Mr. Wildish lächelte und führte sie weiter in die Tiefen des Gewächshauses. Daisy sah einen Schwarm regenbogenfarbener Aras über sich und schwarze tropische Spinnen am Boden krabbeln. Dann hörte sie das Rauschen eines Flusses, der mitten durch das Gewächshaus floss. Sein Wasser war glasgrün und von Sonnenflecken und weißer Gischt gesprenkelt.

»Schau mal!«, rief sie. Rosa Flussdelphine sprangen durchs Wasser, gaben keckernde Laute von sich und schlugen Purzelbäume. Indigo grinste Daisy an, und sie grinste zurück. Dann eilten sie den anderen nach.

Das Licht wurde gedämpfter, die Baumkronen dichter und wilder. Die Luft war feucht und so schwer wie ein Vorhang, und überall summte, zwitscherte und zirpte es. Napoleon turnte durch die Äste eines Feigenbaums und sonnte sich in der Wärme wie ein kleiner Dschungelpanther. Daisy kam es vor, als wären sie im Herzen eines unbewohnten Kontinents angekommen.

Neben einem Pfirsich von der Größe eines Kleinwagens blieb Mr. Wildish stehen. Die Pflanze schnappte mit einem gezackten Blatt nach ihm, und der Lehrer riss gerade noch rechtzeitig seinen Arm aus dem Weg.

»Wir machen da weiter, wo wir am Ende des letzten Schuljahrs aufgehört haben«, verkündete er. »Webübungen – das tägliche Brot der Botanisten und Botanistinnen.« Die anderen stellten sich in einer Reihe auf, und Daisy bemerkte, dass vor jedem von ihnen eine dünne grüne Ranke am Boden lag. Die Kinder hoben die Arme, und eine Ranke nach der anderen begann in die Luft zu steigen. Profs schoss in die Höhe und zwirbelte sich zur Schleife wie eine Schlange, die ihren Schwanz verschluckt. Indigos Ranke hingegen zappelte nur kurz empor, bevor sie wieder zu Boden fiel.

Daisy machte große Augen. »Äh …«, stotterte sie verdattert. »Wie …«

»Die erste Lektion für dich«, sagte Mr. Wildish, ohne auf ihr Gestammel einzugehen. »Gib Acht!«

»Mach ich ja«, erwiderte Daisy.

»Nein, das ist die erste Lektion: Achte auf die Welt um dich herum. Die Natur ist wilder und eigentümlicher, als dir bewusst ist, und wunderbarer, als du dir vorstellen kannst.« Er furchte nachdenklich seine Stirn. »Die besten Botanisten wissen, dass es überall Magie gibt, in jedem Molekül der natürlichen Welt. Sogar in der Grauwelt«, fügte er hinzu und hielt inne. »Vielleicht gerade dort, wo sie so hart ums Überleben kämpfen muss.« Einen Moment lang sah er grimmig drein, wie die Figur am Bug eines Segelschiffs. Dann wedelte er mit der rechten Hand und seufzte. »Aber das musst du schon selbst herausfinden.«

»Also, äh … Weben?«, fragte Daisy. »Wie soll ich …?«

Mr. Wildishs Augenbrauen krochen aufeinander zu wie zwei braune Raupen. »Benutze deine Magie wie einen Muskel, Daisy: eine Erweiterung deiner selbst. Schau.« Er hob die Hand, und ein Rankentrio glitt vom Waldboden in die Höhe und wickelte sich um sein linkes Handgelenk wie ein Armband. Dann, schneller als Daisy gucken konnte, schlangen sie sich um Indigos Knöchel und rissen ihn in die Höhe, so dass er kopfüber baumelte.

»Argh! Loslassen!«

»Wie du willst«, erwiderte Mr. Wildish verschmitzt. Die Ranke ließ Indigo los, woraufhin er mit einem leisen Aufprall in einem Laubhaufen landete. Prustend tauchte er daraus auf und spuckte ein Blatt aus.

»Und jetzt du«, sagte Mr. Wildish und drehte sich zu Daisy um. »Das ist eine liebe, nette Ranke. Schau sie dir genau an. Taste mit den Fingerspitzen deines Geistes nach ihr. Lass sie zu dir kommen.«

Was sollte das heißen, mit den Fingerspitzen ihres Geistes ? Daisy runzelte die Stirn und starrte die Ranke an, bis sie glaubte, platzen zu müssen.

Komm schon , redete sie ihr in Gedanken zu. Beweg dich . Sie konzentrierte sich so sehr, dass ihr eine Schweißperle von der Nasenspitze tropfte. Aber es war sinnlos. Die Ranke bewegte sich keinen Millimeter.

Daisy hörte ein Kichern und drehte sich um. Ivy Helix grinste sie an.

»Ist irgendwas lustig, Ivy?«, fragte Indigo.

»Überhaupt nicht«, antwortete das Mädchen. Sie musterte Daisy von unten nach oben, von ihren abgewetzten Wanderstiefeln bis zum zerzausten Zopf. »Es ist alles andere als lustig , dass wir eine illegale Einwanderin unter uns haben – die wahrscheinlich noch dazu eine Spionin ist. Na, wenigstens müssen wir uns keine Sorgen machen, dass du uns bei der Aufnahmeprüfung für Bloomquist Konkurrenz machst.« Sie lächelte und entblößte dabei eine Reihe weißer, ebenmäßiger Zähne. »Du besitzt ja kein einziges Fünkchen Magie.«

Bevor Daisy eine passende Antwort einfiel, hatte sich das Mädchen wieder ihrer Ranke zugewandt, um sie in der Luft zu einem komplizierten Doppelknoten zu schlingen. Daisys Wangen brannten vor Scham. Mr. Wildish sprach gerade mit einem Botanisten und hatte Ivys Worte nicht mitbekommen.

»Ignorier sie einfach«, raunte Indigo mit zusammengebissenen Zähnen. »Ivy hält sich für Greenwilds Oberbotanistin, dabei ist sie einfach nur fies. Wir nennen sie übrigens insgeheim giftige Ivy  – Giftefeu.«

»Schon okay. Alles in Ordnung. Mir ist nur was ins Auge gekommen.« Wütend rieb sich Daisy die Augen. »Was ist eigentlich so toll an Bloomquist? Was meinte Ivy damit – Konkurrenz?«

»Och«, sagte Indigo und sah plötzlich müde aus. Ein Dreifingerfaultier kletterte von einem Baum auf seine Schulter, und er streichelte es abwesend. »Es ist die einzige Schule für grüne Magie im ganzen Land. Viele wollen dort zur Schule gehen, aber es gibt nur wenige Plätze. Wenn man nicht angenommen wird, bleibt einem nur eine Ausbildung, das machen viele gute Botanisten. Aber wer Forscher, Kräuterheiler oder Baumarchitekt werden will – oder als Politiker oder Diplomat ins Präsidium gehen will –, der muss nach Bloomquist.«

Bei seinen Worten bekam Daisy ein Kribbeln im Bauch. Wie wäre es wohl, einen dieser Berufe auszuüben? Eine Heilerin oder eine Forscherin zu sein?

Indigo fuhr mit der Stiefelspitze über den Boden. »Meine Schwester ist in Bloomquist«, sagte er leise. »Sie ist zwei Jahre älter als ich und war schon immer in allem gut. Anders als ich – in Botanik bin ich ein hoffnungsloser Fall. Ich habe Dad und Papá vor ein paar Monaten bei einem Gespräch belauscht – sie machen sich Sorgen, dass ich nicht gut genug bin, um aufgenommen zu werden.« Er raufte sich die Locken, bis sie zu Berge standen. »Es ist anstrengend, immer mit ihr verglichen zu werden.«

Daisy streckte den Arm aus und drückte Indigos Hand. »Das kann ich mir vorstellen«, sagte sie. Sie wusste, wie es war, mit einem Menschen durchs Leben zu gehen, der so hell leuchtete, dass er alle anderen überstrahlte.

Dann musterte sie Jethro, der mit seinen Krallen Indigos Schulter knetete, und das Faultier, das die Arme um Indigos Hals schlang. In seinen Locken saß eine Libelle wie eine smaragdgrüne Haarspange, und ein Gecko wickelte den Schwanz liebevoll um seinen Schuh.

»Aber ein hoffnungsloser Fall bist du nicht, Indigo. Was du mit Tieren machst – das ist eine eigene Art von Magie, auch wenn hier die meisten zu sehr auf Pflanzen fixiert sind, um das zu erkennen.«

Indigo sah sie groß an, gerade als sich Gulliver Wildish hüstelnd zu ihnen umdrehte. »Ähem … Wo waren wir stehen geblieben? Ah ja, Daisy. Versuch es noch mal.«

Der Rest der Stunde war einfach nur schrecklich. Daisy starrte so angestrengt auf die Ranke vor ihr, dass es sich anfühlte, als müsste sie jeden Moment in Flammen aufgehen, während Ivy giftige Bemerkungen machte, wann immer Mr. Wildish ihnen den Rücken kehrte.

Schließlich presste Daisy sich die Fingerknöchel auf die Augen. »Vielleicht habe ich einfach keine grüne Magie.« Offenbar waren die Gelegenheiten, bei denen sie geglaubt hatte, es wäre Magie im Spiel, nur Zufall gewesen. Oder es war Mas Magie gewesen, nicht ihre eigene.

»Unsinn«, sagte Mr. Wildish. »Man braucht Magie, um …«

»… um durch die Tür von der Grauwelt zu kommen. Ich weiß. Tja, vielleicht hat das Malventor bei mir einen Fehler gemacht. Ich bin etwa so magisch wie ein Teesieb.«