Als sie sich später an diesem Tag trafen, trug Prof eine tiefschwarze Latzhose, ein Hemd mit zerschlissener schwarzer Spitze an den Ärmeln und ein schwarzes Stirnband. Als Teil ihrer Strafe für den Einbruch ins Gefährliche Gewächshaus waren sie für einige Zeit dazu verdonnert worden, Greifenmist zu sammeln und auszuliefern. Daher hatten sie sich beim Misthaufen am Rand des Malvenhains versammelt.
»Wer ist gestorben und hat dich zum obersten Trauerkloß ernannt?«, fragte Indigo mit einem neugierigen Blick auf Profs Kleidung.
»Ich trauere um meine Chancen für Bloomquist!«, erwiderte die Professorin und zog die Nase hoch.
»Was? Warum?« Daisy blickte auf.
»Hast du nicht gehört, was die Kommandantin gestern Abend gesagt hat? Das da …«, sagte Prof und deutete auf den Misthaufen und die schwankende Ladung in ihren Schubkarren, »… ist nicht unsere wirkliche Strafe.«
»Nicht?«
»Nein. Sondern der Strafpunkt in unseren Unterlagen, die wir für Bloomquist brauchen. Bei drei Strafpunkten wird man von der Aufnahme ausgeschlossen, egal wie gut man in den Tests abschneidet.«
»Ah …« Plötzlich verstand Daisy. Für sie selbst war es egal – eine elitäre Botanisten-Akademie würde sie sowieso nicht nehmen. Aber bei Prof sah es anders aus. Bloomquist bedeutete ihr alles.
»Das tut mir wirklich leid«, sagte sie leise.
Prof zuckte steif mit den Schultern. »Von jetzt an muss ich eben besonders vorsichtig sein«, sagte sie, hob ihre Schubkarre an und eine Wolke Stinkluft waberte den anderen ins Gesicht. »Keine Regelverstöße mehr. Und kein nächtliches Herumschleichen.«
Daisy nickte, und sie schoben ihre Mistkarren über die Wiese, während über ihnen Schwärme von Sittichen dahinzogen.
»Also«, sagte Indigo, als sie nach der Strafarbeit endlich bei ihrer Hütte angekommen waren. »Was hat die Kommandantin vom Präsidium erzählt?«
Daisy berichtete von der Antwort des Präsidiums, keine Suchaktion zuzulassen, und von Artemis’ Plan, auf eigene Faust zum Amazonas aufzubrechen, sobald sie einen Hinweis hatten, wo genau die vermissten Botanisten festgehalten wurden. Falls sie noch am Leben sind , fügte sie im Stillen hinzu, bevor sie den Gedanken weit wegschob.
Profs Augen wurden groß. »Die Kommandantin will sich dem Präsidium widersetzen? Aber das ist doch …«
»Ziemlich cool«, schloss Indigo grinsend.
»Während wir darauf warten, dass Artemis’ Agenten Genaueres herausfinden, sollten wir weiter nachforschen. Hier im Malvental, meine ich. Vor allem, weil ich glaube, dass Sheldrake« – Daisy holte tief Luft – »ich glaube, dass Sheldrake für Craven arbeitet. Moment, lass mich ausreden«, rief sie, als Prof bereits den Mund öffnete. »Ich hatte noch keine Gelegenheit, es euch zu erzählen, aber ich habe gehört, wie Sheldrake im Seufzerwald mit jemandem gesprochen hat, kurz bevor er mich mit dem Wunderlicht erwischt hat. Er hat etwas über die Sensenleute gesagt – so, als ob es sie wirklich gäbe.«
»Das ist unmöglich!«, sagte Prof. »Jeder weiß, dass es die nur im Märchen gibt.«
»Schon klar«, erwiderte Daisy ungeduldig. »Aber was ist, wenn jemand den Namen benutzt? Wenn es eine Gruppe ist, die Botanisten angreifen will? Tun das die Sensenleute in den Geschichten nicht auch? Was, wenn Craven ein Mitglied dieser Gruppe ist und Sheldrake ihnen vom Malvental aus hilft?«
»Ich weiß nicht, Daisy.« Prof blickte unbehaglich drein.
Daisy fuhr dennoch fort. »Ich glaube, dass es Sheldrake war, der die Geistermotten-Orchidee gestohlen hat. Warum sollte er sonst dagewesen sein?«
»Lass mich nachdenken«, sagte Prof und legte einen Finger ans Kinn. »Oh, ja! Vielleicht ganz einfach, weil es SEIN Gewächshaus ist?«
»Eigentlich«, sagte Indigo langsam, »hat Daisy recht. Es war mitten in der Nacht, und er weiß doch, dass das Gewächshaus bewacht wird. Also was hatte er dort zu suchen? Er hätte die Orchidee leicht stehlen, sie nach draußen bringen, an einem sicheren Ort verstecken und dann zurückkommen können, um zu ›entdecken‹, dass sie gestohlen wurde. Das wäre der perfekte Weg, um unschuldig zu erscheinen!«
Prof schnaubte. »Ich weiß nicht – okay, verdächtig ist es schon. Aber es ist kein Beweis, dass er die Malvengarde angegriffen und die kostbare Orchidee gestohlen hat. Es gibt Hunderte Botanisten im Malvental. Jeder von ihnen könnte es gewesen sein.«
Holly meldete sich zu Wort und wurde rot, als sie sprach. »Meine Mum arbeitet im Krankenhaus. Sie hat mir erzählt, dass Smedley heute Morgen aufgewacht ist. Er hat wohl nicht gesehen, wer ihn angegriffen hat.«
Daisy atmete aus. »Es könnte also wirklich jeder gewesen sein. Wir müssen einfach die Augen offenhalten.«
Nach allem, was geschehen war, wollte Daisy in dieser Nacht unbedingt in den verborgenen Garten zurückkehren und Hal endlich nach Cardew fragen.
Doch als sie zum Apfelbaum kam, sah Hal sie verärgert an.
»Wo warst du?«, fragte er, nahm seine dicke Brille ab und polierte sie heftig an seinen Shorts. »Du bist ewig nicht gekommen, ich musste alles allein machen.« Er gestikulierte wütend, und Daisy sah, dass die restlichen wilden Ranken entfernt worden waren und neue Triebe wie silbrige Schneeglöckchen am Fuße der Bäume sprossen.
»Tut mir leid«, sagte Daisy. »Aber es waren doch nur zwei Nächte.«
Hal schüttelte den Kopf. »Es waren fast zwei Wochen!«
Daisy bemerkte frische junge Blätter an den Bäumen und sah, dass die Clematis an der alten Steinmauer zu blühen begonnen hatte. Er hatte recht: All das konnte nicht an bloß zwei Tagen geschehen sein. Irgendwie verging die Zeit im Garten schneller als außerhalb.
»Es tut mir leid«, wiederholte sie. »Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte. Es sind ein paar … seltsame Dinge passiert.«
Hal sagte zwar nicht, dass er ihre Entschuldigung annahm, aber er reichte ihr ein Paar Gartenhandschuhe und eine Schaufel, und sie wusste, dass er ihr verziehen hatte.
»Also«, sagte sie und begann, in der Nähe der Wurzeln des Apfelbaums zu graben, »ich glaube, wir kommen der Frage näher, wer hinter dem Verschwinden meiner Ma steckt.«
»Wirklich? Das ist ja großartig!«
»Ja.« Daisy schob die Unterlippe vor und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Hast du schon mal von jemandem namens Cardew gehört?«
»Klar hab ich das.« Hal grinste sie an, und Daisys Herz machte einen Satz. »Er ist mein bester Freund. Abgesehen von dir.«
Daisy starrte Hal an und hörte die Stimme von Miss Tufton in ihrem Kopf.
Er ist gestorben, schon vor vielen Jahren. Getötet von seinem besten Freund.
So unmöglich es auch schien, sie sprach mit jemandem aus der Vergangenheit. Mit jemandem, der in ihrer eigenen Zeit nicht mehr existierte. Der Gedanke daran ließ ihr die Nackenhaare zu Berge stehen.
»Was ist los?«, fragte Hal. »Du siehst aus, als hättest du einen Käfer verschluckt.«
Daisy öffnete den Mund. Sie versuchte zu sagen: »Nimm dich vor Cardew in Acht. Er ist gefährlich. Eines Tages wird er versuchen, dich zu töten.« Aber es kam nichts heraus. Sie versuchte es noch einmal. Es fühlte sich an, als würde jemand die Luft aus ihrer Lunge saugen. Sie hielt inne und keuchte.
»Nichts«, sagte sie schließlich, und das Wort ging ihr ganz leicht über die Lippen. »Ich war nur neugierig.«
Die Atmosphäre beim Fünf-Uhr-Club am nächsten Tag war angespannt.
»Heiliger Strohsack!« Indigo sah erschrocken aus. »Cardew hat Hal White getötet? Den Sohn der Kommandantin?«
Daisy nickte. »Obwohl sie angeblich beste Freunde waren.«
»Moment mal«, sagte Prof scharf. »Woher weißt du das? Ist endlich jemand mit der Sprache rausgerückt?«
Daisy öffnete den Mund, um ihnen von dem verborgenen Garten zu erzählen. Sie wollte keine Geheimnisse mehr haben. Aber es war genau wie in der vergangenen Nacht, als sie versucht hatte, Hal zu warnen. Die Worte wollten einfach nicht herauskommen. »Ich …« Sie rang nach Luft und hatte das Gefühl, gleich ohnmächtig zu werden. Es war, als würde sie Jiu-Jitsu gegen einen Orkan machen: sinnlos und vielleicht sogar gefährlich.
»Es ist Miss Tufton rausgerutscht«, sagte sie schließlich atemlos. Diesmal kamen die Worte ungehindert, und sie runzelte die Stirn. Der verborgene Garten schien wie eine Zeitkapsel zu sein, deren Deckel fest zugeschraubt war. Sie konnte Hal nichts über die Zukunft außerhalb des Gartens sagen, und sie konnte auch niemandem sonst etwas über die Vergangenheit darin erzählen.
»Hal White!« Profs Brille glitzerte vor Aufregung. »Das ändert alles. Er war einer der berühmtesten Botanisten der Geschichte. Er hat die phosphoreszierende Mango und die Mimosa periculosa entdeckt. Und« – sie hielt bedeutungsvoll inne – »die Geistermotten-Orchidee!«
»Was?« Daisy straffte die Schultern.
»Du hast richtig gehört.« Prof rückte ihre Brille zurecht und blähte die Wangen auf. »Langsam fügt sich alles zusammen.«
»Was wissen wir noch über diese Orchidee?«, fragte Daisy.
Prof holte tief Luft. Ihr Haar türmte sich um ihren Kopf, und ihre Ellbogen bohrten sich durch ihre Pulloverärmel. Prof sah mehr denn je aus wie eine lässige Philosophin.
»Ich habe heute ziemlich viel Zeit in der Bibliothek verbracht und einiges herausgefunden.« Sie holte ein grünes, in Leder gebundenes Buch hervor. Der Titel lautete L’Orchidée Interdite: Une Histoire Triste . »Es ist auf Französisch, aber im Großen und Ganzen steht da Folgendes: Sie ist die seltenste Pflanze der Welt. Die Blüten der Orchidee sind essbar. Für jede Blüte, die man isst, wird dem eigenen Leben ein Jahr hinzugefügt. Aber gleichzeitig wird der Person, die man am meisten liebt, ein Jahr ihres Lebens genommen.« Prof las aus dem Buch vor und übersetzte dabei: »Die Pflanze ist schön und schrecklich zugleich. Wer auch nur eine einzige Blüte isst, kann dafür ins Gefängnis kommen.«
Sie blickte in die Runde. »Großvater hat mir erzählt, dass die Menschen früher dachten, es handele sich um einen Mythos. Niemand glaubte, dass es die Pflanze wirklich gab. Dann hat Hal White die Orchidee auf einer Expedition in den Amazonas-Regenwald tatsächlich gefunden. Es war die Entdeckung des Jahrhunderts. Aber er wurde getötet, bevor er sie nach Hause bringen konnte. Niemand spricht darüber, wer dafür verantwortlich war, obwohl Großvater sagte, dass die schuldige Person gefasst wurde.«
»Also hat Cardew ihn umgebracht?«, hauchte Daisy. »Auf dieser Expedition?«
Indigo nickte langsam. »Das würde passen. Vielleicht wollte Cardew die Entdeckung für sich selbst beanspruchen. Er könnte eifersüchtig gewesen sein.«
»Das ist ja furchtbar«, sagte Holly leise. »Kein Wunder, dass niemand darüber reden will.«
Prof sprang auf, als hätte sie sich auf einen Tannenzapfen gesetzt. »Ach, du grausiges Grünzeug! Warum ist mir das nicht schon früher eingefallen! Wenn Cardew ein verurteilter Mörder war und das Ganze, wann, vor acht Jahren geschah? Dann wäre es vor Abschaffung der Entgrünungs-Strafe gewesen. Also …«
Holly beendete den Gedanken mit kaum hörbarer Stimme: »Also wäre Cardew seiner Magie beraubt worden. Was die meisten Menschen nicht überleben.«
Daisy spürte, wie Angst und Begreifen wie zwei Eiswürfel über ihren Rücken liefen.
»Aber Cardew hat überlebt, oder nicht? Er ist jetzt in der Grauwelt und nennt sich Craven. Das erklärt, warum er das Wunderlicht wollte. Wenn es wirklich ein Schlüssel zu jeder Tür nach Greenwild ist und auch ohne Magie funktioniert … dann wäre es seine einzige Möglichkeit, zurückzukommen.«
Profs Augen weiteten sich vor Entsetzen. »Die Entführung einzelner Botanisten wäre nichts dagegen – Cardew wäre in der Lage, jeden Ort in ganz Greenwild anzugreifen, auch das Malvental. Kein Ort wäre mehr sicher!«
Holly kiekste und drückte die Schachtel mit Albert der Raupe an ihre Brust.
Daisy wusste, wie sie sich fühlte. »Das Gespräch, das ich zufällig gehört habe – das ergibt jetzt einen Sinn. Craven hat gesagt: ›Dann ist das Malvental erledigt … ein für alle Mal.‹« Alles in ihr geriet bei diesem Gedanken in Aufruhr. Die Vorstellung, dass auch nur ein einziges Schneeglöckchen zu Schaden kommen könnte, machte sie so wütend, dass sie nach irgendetwas treten wollte. »Und in der Zwischenzeit greift er Botanisten in der Grauwelt an.«
Hollys grüne Augen waren rund wie Golfbälle in ihrem sommersprossigen Gesicht. »Als Rache dafür, dass er seine Magie verloren hat?«
Prof nickte.
»Also«, sagte Daisy und holte tief Luft, »läuft es darauf hinaus: Craven entführt Botanisten. Und er plant, das Malvental anzugreifen. Bis die Suchaktion bewilligt ist, liegt es also an mir, etwas zu unternehmen.«
»Nein«, widersprach Prof. »Es liegt an uns .« Ihre Augen hinter den Brillengläsern leuchteten, und sie sah aus wie die Anführerin einer Revolution. »Dafür ist der Fünf-Uhr-Club schließlich da! Einer der Gründe, warum wir Freunde sind« – Daisys Herz machte bei diesem Wort einen Freudensprung – »ist, dass wir alle Angehörige in der Grauwelt haben. Hollys Vater schützt Palmfarne in Brasilien. Indigos Dads erforschen Korallenriffe im Indischen Ozean. Daisys Mutter ist verschwunden, genau wie mein Großvater. Es geht uns alle an.«
»Also … werdet ihr mir helfen?« Daisy schaute in entschlossene Gesichter.
»Logisch!«, sagte Indigo und nickte so heftig, dass Jethro von seiner Schulter flatterte und kreischend durch die Hütte flog.
»Auf jeden Fall«, sagte die Professorin und schob ihre Brille nach oben.
Und Hollys zustimmendes Kieksen durchbrach fast die Schallmauer.
»Das wäre also geklärt«, sagte Prof. »Und jetzt?«