43. Kapitel

Der Fluss schlängelte sich dahin, soweit das Auge reichte, breit und glitzernd unter einem riesigen Mond, der aussah wie eine Requisite, die über einen Theaterhimmel gezogen wurde. Vor der Anlegestelle erstreckte sich eine ganze Stadt aus Booten auf dem Wasser, erleuchtet von Fackeln und bunten Laternen. Die sanft auf und ab schaukelnden Boote waren über Brücken, Stege und Pontons aus schwimmenden Fässern miteinander verbunden und mit Schildern versehen, auf denen alle erdenklichen Waren angepriesen wurden. Von Zauberkellen über schwimmende Laubrechen bis hin zu giftigen Nachtmützenpilzen.

Es gab schmale Gondeln und riesige Schiffe mit aufgerollten weißen Segeln, große plattnasige Kähne und pummelige Schlepper, japanische Kutter und Holzboote, rostige Dampfschiffe, Briggs und kleine Barken, die die Flaggen der unterschiedlichsten Nationen trugen. Es gab sogar eine chinesische Dschunke mit roten Drachen, die in der nächtlichen Brise flatterten. Der Markt spiegelte sich flackernd im Wasser, und überall waren bunt gekleidete Leute – mehr Botanisten, als Daisy je gesehen hatte.

»Der Mondmarkt«, flüsterte sie.

»Jep«, erwiderte Indigo, und sie konnte das Lächeln in seiner Stimme hören.

Prof nickte. »Das ist der Große Mondfluss«, erklärte sie. »Er ist über eine Meile breit und befindet sich zwischen den verschiedenen Orten von Greenwild – über den Mondfluss kann man sicher zwischen ihnen hin und her reisen.«

Daisy erinnerte sich, wie Hal es ihr erklärt hatte. »Jeder Ort in Greenwild hat einen See oder Bach oder Teich«, hatte er gesagt. »Und in Vollmondnächten verbinden sie sich zu einer Art Zwischenraum.« Einmal im Monat, von Mondaufgang bis Monduntergang, konnten Botanisten aus aller Welt zusammenkommen, um zu kaufen und zu verkaufen und um zu tratschen und ein Gläschen zu trinken, bis der Mond unterging und der Mondfluss versiegte.

Indigo wollte sofort loslaufen, aber Prof hielt ihn zurück. Am anderen Ende des Stegs entdeckten sie Sheldrake. Er schüttelte seinen Mantel aus und tastete nach seiner Tasche. Die Mitglieder des Fünf-Uhr-Clubs duckten sich hinter eine Gruppe bunt gekleideter portugiesisch sprechender Botanisten, die gerade aus dem Nichts aufgetaucht waren und mehrere große Juwelenechsen an goldenen Leinen hinter sich herführten.

Ein gelangweilt dreinblickender Beamter stand in der Nähe des Ankunftspunkts auf dem Landungssteg und erinnerte die ankommenden Botanisten daran, dass um 5:30 Uhr Monduntergang war.

»Erscheinen Sie rechtzeitig am Anleger, meine Damen und Herren«, rief der Beamte laut, »damit Sie zum See, Teich, Fluss oder Bach zurückgebracht werden, von dem Sie kommen. Sollten Sie sich zum Zeitpunkt des Monduntergangs in einem der Boote aufhalten, so werden Sie mit diesem Boot zu seinem Herkunftsort zurückgebracht. Blinde Passagiere sind strengstens untersagt! Wie immer wird eine halbe Stunde vor Monduntergang die Glocke geläutet, damit die Besucher Zeit haben, sich geordnet auf den Rückweg zum Anleger oder zu ihrem Ursprungsboot zu begeben. Nachzügler werden nicht geduldet!«

»Okay, gut«, murmelte Prof. »Denkt dran, wir sind hier, um Sheldrake zu folgen, um herauszufinden, mit wem er sich trifft, und um das Pusteblumen-Wunderlicht zurückzubringen. Lasst euch nicht ablenken, und bleibt immer schön zusammen. Sollten wir doch getrennt werden, treffen wir uns um fünf Uhr wieder hier – eine halbe Stunde vor Monduntergang.«

Indigo nickte. »Das Wichtigste ist, dass wir am Ende der Nacht nicht auf dem falschen Schiff festsitzen. Das ist meinem Dad mal passiert – er ist auf einem Fischkutter mitten im Atlantik gelandet.«

»Genau«, bekräftigte Prof. »Und entfernt euch nicht zu weit von der Flussmitte, sonst landet ihr auf dem Dunkelmarkt. Das wollt ihr auf gar keinen Fall.« Sie schaute Daisy an. »Hattest du nicht vor dem Schneckenangriff etwas über den Dunkelmarkt gesagt?«

»Ich glaube, dass es irgendeine Verbindung zu den Sensenleuten gibt«, erwiderte Daisy leise. »Ich habe gehört, dass sie auf dem Dunkelmarkt mit seltenen Pflanzen handeln. Ich glaube, Sheldrake könnte sich mit den Sensenleuten treffen – hier, heute Nacht.«

Die Professorin holte tief Luft. »Ich hoffe, dass das nicht wahr ist. Aber so oder so, wir müssen sehr, sehr vorsichtig sein.«

Daisy nickte. Sie hielt den Blick auf Sheldrake gerichtet, der mittlerweile ins Gedränge eingetaucht war.

»Schnell«, sagte sie. »Er ist auf dem Weg. Los geht’s!«

Mit gesenkten Köpfen huschten sie ihm nach, ließen die Landungsbrücke hinter sich und steuerten auf den ersten Kahn zu. Er war mit einer rot-weiß gestreiften Markise überdacht, so dass man sich ein bisschen wie in einem Zirkuszelt fühlte. In der Luft lag das würzig-süße Aroma von Glühwein, der aus Fässern gezapft wurde, und um die Streben der Markise rankten sich gelbe, regenschirmgroße Blumen, die einen intensiven Duft verströmten.

Sheldrake ging über das Deck des Kahns, nickte hier und da Bekannten zu, blieb aber nie stehen, um die angebotenen Becher mit Wein oder Erfrischungen anzunehmen. Er ging zielstrebig vorwärts, als hätte er ein klares Ziel vor Augen.

Sie folgten ihm unbemerkt auf das benachbarte Boot. Sein Mahagonideck lag nur knapp über dem Wasser, und die Luft war erfüllt von Geschrei: »Wintererdbeeren, nur einen Mondpfennig das Pfund! Frische lila Mangos, beste weiße Sternbeeren! Krummbirnen aus neuer Ernte! Kommt und greift zu!« Laut und schrill hallten die wetteifernden Stimmen der Verkäufer über die Decks, über Stände mit Pyramiden aus leuchtend roten Granatäpfeln und glänzenden Kirschen, himmelblauen Äpfeln und schwarz-weiß gesprenkelten Pflaumen.

Ein Stand bot ausschließlich Pilze an: rote und weiße Fliegenpilze, violette Pfifferlinge und winzige Elfenkappen, die giftgrün leuchteten. Daisy riss staunend die Augen auf.

»Königskappen, zehn Mondpfennig das Pfund!«, rief der Verkäufer und blickte lachend auf sie herab. »Nur zu, junge Dame, du darfst gerne probieren!«

Daisy beeilte sich, die anderen einzuholen. Sheldrake war immer noch vor ihnen und bewegte sich in gemäßigtem Tempo zum nächsten Boot. Dort wurde Honig aus aller Welt verkauft, und Indigo musste von den Gläsern, die an einem der Stände zum Probieren aufgereiht waren, regelrecht weggezogen werden. »Afrikanischer Singbuschhonig«, murmelte er. »Gruselpfefferhonig! Hawaiianischer Bronzebohnenhonig …« Das Entzücken in seiner Stimme war nicht zu überhören.

»Jetzt nicht«, zischte Prof. »Wir dürfen ihn nicht verlieren.« Sie hielten so weit wie möglich Abstand, ließen Sheldrake jedoch keine Sekunde aus den Augen und folgten seinem Weg durch das Labyrinth des schwimmenden Marktes.

Auf dem nächsten Boot wurden verschiedene schmierige Käsesorten verkauft, auf dem übernächsten eine überwältigend große Auswahl an Nüssen und Samen. Aber es war das Boot danach, das sie alle schwindlig machte.

Es war ein schwimmender Süßigkeitenladen. Seine Regalwände waren übervoll von Gläsern mit kandierten Rosenblättern und Honigwabenchips, von krabbelnden Schokokäfern und Sternbeerbärchen. Es gab Schneeflocken aus Zuckerguss und Marshmallow-Pilze, Schoko-Nuss-Plätzchen und Vanillecremehütchen. Daisy sah essbare Butterblumen, die mit goldenem Karamell gefüllt waren, und riesige rote Liebesäpfel. An der Rückseite des Stands plätscherte ein Schokobrunnen, aus dem man Becher mit geschmolzener Schokolade schöpfen konnte. Sie verströmte einen betörenden Duft.

Holly ließ einen Kakaoschmetterling auf ihrem Ohr landen, während Napoleon einer Horde verspielter Zuckermäuse nachjagte und Indigo seine Hände in einen Sack mit glänzenden Schokoladendublonen steckte. Sogar Prof ließ sich einen Moment von einem Topf mit mexikanischen Springbohnen ablenken.

Fast hätten sie Sheldrake aus den Augen verloren.

In welche Richtung ist er gegangen? Daisy geriet in Panik und sprintete zum Kiel des Bootes, wo sie beinahe über eine riesige Blaubeerkaugummikugel gestolpert wäre, die gemächlich zwischen Planken und Decke auf und ab hüpfte.

Da! Sie sah gerade noch Sheldrakes Tasche um die nächste Ecke biegen.

»Hier lang!«

Sie eilten durch die Kabine eines Boots, die im Glanz silbriger Spiegel und heller Kronleuchter erstrahlte. Daisy erhaschte einen flüchtigen Blick auf Herren in grünen Smokings und Damen in langen, juwelenbesetzten Abendkleidern, auf glitzernden Champagner und Kerzenschein auf Silbergabeln. Die Augen der Herrschaften weiteten sich vor Staunen, als vier zerzauste Kinder durch die Kabine stürmten, dann ertönte Gelächter, und das Orchester spielte weiter.

Keuchend erreichten sie das Deck eines bunt lackierten Flussschiffs, das eine Unmenge an Gartengeräten anbot – extrastarke Spaten, die jahrelang schwere Hebearbeiten übernehmen konnten, silberne Pflanzkellen, die Blattläuse abwehren sollten, gepanzerte Handschuhe und Stiefel, die selbst für die fieseste fleischfressende Schnecke undurchdringlich waren. Daisy spürte ein Pochen im Zeh und wünschte, sie hätte beim Schneckenalarm vorhin selbst solche Stiefel getragen.

Da war er!

Sheldrake hatte innegehalten, um das Etikett eines Salbentiegels zu lesen, und mit dem Verkäufer ein Wort und ein Nicken gewechselt. Und dann war er von einem Atemzug zum nächsten verschwunden. Daisy drehte hastig den Kopf und entdeckte seinen Schatten, der sich durch eine niedrige Tür hinter dem Stand in den Innenraum des Kahns duckte. Als sie aufblickte, sah sie ein gemaltes Schild über der Tür – eine große goldgrüne Eidechse.

»Da!«, flüsterte sie und zeigte auf das Schild. »Der Tanzende Salamander! Das ist es.«

Sie hatten das Herz des Marktes erreicht. Überall um sie herum tummelten sich Kunden, Familien mit aufgeregten Kindern und einkaufslustige Grüppchen. Sie warteten, bis der Standbesitzer von einem grauhaarigen Paar abgelenkt wurde, das eine Schaufel für seinen Enkel suchte, und schlichen durch die dunkle Tür unter dem Schild. Dahinter lag ein schummriger, geschäftiger Raum mit Bullaugen und Erkerfenstern. Auf der einen Seite befand sich eine blankpolierte Bar, im restlichen Raum standen niedrige Tische, an denen zahlreiche Gäste saßen – ein Paar spielte Schach, ein Dreiergrüppchen schwadronierte über halbleeren Bierkrügen, eine etwas ungehobelt wirkende Bande stieß laut mit den Gläsern an und lachte schallend. Die Tische waren durch dicke, belaubte Kastanienbäume voneinander getrennt, die direkt aus dem Deck des Schiffes wuchsen.

Eine Frau saß allein an einem Tisch und schien zu warten. Sie wirkte starr und bleich. Sie hatte Arme wie eine Gottesanbeterin und Augen wie ein toter Fisch.

Es war Mrs. Daggler, die Schulleiterin.