Daisy erzählte Artemis – anfangs zögerlich – von dem verborgenen Garten. Das war der eindeutigste Beweis, dass der Garten nicht mehr da war: Es gab keine Magie mehr, die sie am Sprechen hinderte. Die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus.
»Es ist wirklich passiert«, sagte sie. »Im Malvental, vor dreißig Jahren. Die Begegnung ist aus meinem Wunsch entstanden – weißt du, Ma hat mir einen Samen hinterlassen …«
Sie erklärte es, so gut sie konnte, und Artemis nickte.
»Natürlich«, sagte sie. »Das leuchtet ein. Was für ein Wunsch!«
Daisy starrte auf die Manschetten ihres Nachthemds. Sie waren weiß und mit kleinen grünen Eichenblättern bestickt. Sie bemühte sich sehr, nicht daran zu denken, wie sehr sie Hal vermisste: seine Griesgrämigkeit, seine Klugheit und seine Freundlichkeit.
»Also«, sagte sie und schluckte, »was ist mit Hal passiert, nachdem er das Malvental verlassen hat?«
Artemis schloss die Augen und schien sich zu sammeln. »Hals Vater hatte Verwandte unter den Mondfahrern – einen Großvater und mehrere Cousins, gute Menschen –, und sie luden Hal ein, bei ihnen zu leben. Ich besuchte ihn jeden Monat auf dem Mondmarkt und versuchte, ihn zu überreden, wieder nach Hause zu kommen. Aber er war furchtbar stur, und ich konnte sehen, dass er dort, wo er war, gut aufgehoben und glücklich war. Am Ende musste ich ihn gehen lassen.«
Sie holte tief Luft. »Etwa sechs Jahre nach seinem Weggang begann Hal, alle möglichen Tiere und Pflanzen ins Malvental zu schicken – Exemplare der seltensten und legendärsten Arten der Welt: den Mimsy-Farn, den Kreuzfleck-Baobab, die phosphoreszierende Mango.«
Daisy straffte die Schultern und hörte aufmerksam zu.
»Aber Hal reichte es nicht, Pflanzen vor dem Dunkelmarkt zu retten. Er wollte dem Markt selbst ein für allemal ein Ende bereiten. Er beschloss, verdeckt zu ermitteln: Er schlüpfte in eine andere Identität und mischte sich unter die Händler des Dunkelmarktes. So wollte er herausfinden, wer die Geschäfte betrieb, um sie an der Wurzel auszurotten.« Artemis runzelte die Stirn. »Sein bester Freund, Cardew, begleitete ihn. Sie sollten sich gegenseitig schützen.«
»Aber?«, fragte Daisy mit klopfendem Herzen.
»Aber … eines Tages, als sie sich im Amazonasgebiet als Dunkelmarkthändler ausgaben, passierte etwas ganz und gar Unvorhergesehenes: Hal entdeckte die Geistermotten-Orchidee. Er erzählte Cardew davon und vertraute darauf, dass er sie sicher verwahren würde – doch Cardew verriet ihn. Zu dem Zeitpunkt war Cardew natürlich längst zu den Dunkelhändlern – oder Sensenleuten, wie sie sich zu nennen begannen – übergelaufen. Er tötete Hal … und alles, was mein Sohn über die Machenschaften der Sensenleute herausgefunden hatte, starb mit ihm.«
Daisy dachte daran, wie Ma in der Nacht nach Pas Beerdigung geschluchzt hatte. Sie dachte an die starken Arme ihres Vaters, als sie klein war – ans Versteckspielen, an seine Geschichten, an die himmlischen Zeiten in den Ferien. Sie wusste, dass er sie nicht hatte zurücklassen wollen. Dass er alles getan hätte, um immer für sie da zu sein.
Artemis fuhr leise fort: »Cardew tötete im Kampf zwei weitere Menschen, ehe er gefasst und vor Gericht gestellt wurde. Er wurde seiner Magie beraubt und für immer in die Grauwelt verbannt. Ich dachte, er wäre tot. Und ich war froh darüber.«
Daisy schloss die Augen, und Napoleon setzte sich nun tröstend auf ihre Füße wie die kleinste schnurrende Wärmflasche der Welt.
»Moment«, sagte sie. Etwas Wichtiges war ihr eingefallen, und sie setzte sich so schnell auf, dass Napoleon sich maunzend beschwerte. »Das hätte ich dir längst sagen sollen: Ms. Brightly arbeitete für Cardew! Er hat sie erpresst, weil …«
Artemis nickte. »Ich weiß, Daisy. Ich habe es ungefähr zur gleichen Zeit herausgefunden wie du. Es ist verständlich, dass Marigold so gehandelt hat, weil das Leben ihres Sohnes auf dem Spiel stand.«
»Sie hat gesagt …« Daisy runzelte die Stirn. »Sie hat gesagt, sobald Cardew das Malvental angreift, wäre ihr Teil der Abmachung erfüllt. Hat sie deshalb …?«
»Ja«, sagte Artemis. »Deshalb hat sie auf unserer Seite gekämpft – nachdem sie sich aus dem Boot befreit hat, in dem ihr sie eingesperrt hattet.«
»Geht es ihr gut?« Daisy schluckte.
Artemis’ Stirn legte sich in Falten.
»Sie hat den Kampf leider nicht überlebt«, sagte sie leise. »Aber ich glaube, dass sie auch nicht überleben wollte. Wegen der Geistermotten-Orchidee blieben ihr ohnehin nur noch wenige Monate. Sie hat mehr als siebzig Jahre ihres Lebens für ihren Sohn geopfert – und sie hat für die Welt gekämpft, in der Max aufwachsen wird.«
Daisy fühlte sich, als hätte man ihr einen Schlag gegen die Brust versetzt.
»Und Max? Wo ist er?«
»Cardew hat den Jungen im Keller seines Hauses gefangen gehalten. Als wir dort ankamen, war Max bereits geflohen. In diesem Moment durchkämmt ein Suchtrupp jeden Zentimeter von London.«
Daisy holte tief Luft. »Er hat das alles von langer Hand geplant, nicht wahr?«
Artemis nickte. »Mit der Hilfe von Maud Daggler. Sie ist eine gefährliche Person – von Geburt Botanistin, mit geringen magischen Fähigkeiten und einer Menge Verbitterung im Blut. Sie ist seit Jahren die Drahtzieherin des Dunkelmarktes.«
»Sie muss das Pusteblumen-Wunderlicht von Ms. Brightly genommen und an Cardew weitergegeben haben.«
»So ist es.«
»Aber … wenn Sheldrake das Licht nicht gestohlen hat, was hat er dann mit der Schulleiterin auf dem Mondmarkt gemacht? Und mit wem hat er im Seufzerwald gesprochen?«
»Ich fürchte, das kann ich dir nicht sagen«, erwiderte Artemis und betrachtete eingehend einen Marienkäfer, der über die Decke krabbelte.
Daisy wollte nachhaken, aber der Gesichtsausdruck der Kommandantin verriet ihr, dass es nichts nützen würde. Sie schluckte und sagte: »Cardew hat mir erzählt, dass er für eine größere Organisation gearbeitet hat. Ich glaube, sie nennen sich die Sensenleute, es gibt sie wirklich. Sie sind diejenigen, die Jagd auf Botanisten machen.«
»Meine Güte, der war aber redselig!«, sagte Artemis. »Und ich fürchte, du hast recht. Seit Jahren erzählen wir unseren Kindern Schauergeschichten von den Sensenleuten – Ungeheuer, die mit ihren Sensen über die Erde herfallen. Und währenddessen hat sich eine Gruppe menschlicher Monster genau unter diesem Namen zusammengerottet. Sie sind eine riesige Organisation, die die schlimmsten Elemente beider Welten vereint: eine Allianz aus machthungrigen Grauweltlern und korrupten Botanisten wie Maud Daggler. Jahrhundertelang ist Greenwild geheim gewesen, aber dank Cardew gibt es jetzt zahlreiche Grauweltler, die von uns wissen. Auch wenn er jetzt weg ist, werden sie uns nicht in Ruhe lassen.« Sie rieb sich die Schläfen. »Sie haben es auf dein Pusteblumen-Wunderlicht abgesehen, denn sie brauchen es: Es ist sowohl ein Kompass als auch ein Schlüssel – und könnte die Sensenleute zu jeder einzelnen Tür von Greenwild führen. Kein Ort wäre vor ihnen sicher.«
»Aber was wollen sie eigentlich?«
»Was wollen sie nicht ? Das ist die Frage, Daisy. Für diese Leute wäre das Abholzen aller Bäume im Amazonas-Regenwald nur der Anfang.«
»Aber … aber WARUM ? Das ist böse !«
»Mit der Zerstörung der Erde lässt sich viel Geld machen: Ölförderung, Pflanzenanbau für die Viehzucht auf unberührtem Regenwaldboden, Abbau von Mineralien, Verkauf von seltenen Tier- und Pflanzenarten aus Profitgier. Genug, um die Verantwortlichen zu Multimillionären zu machen. Es gibt Sensenleute in jeder Regierung, in jedem großen Unternehmen und in jeder Organisation – immer auf der Suche nach mehr Profit und damit mehr Zerstörung.«
Mit Unbehagen erinnerte sich Daisy an die Fotos in Cravens Büro beim High Herald , wie er Präsidenten, Premierministerinnen und Prominenten die Hand schüttelte.
Artemis sprach weiter: »Und wenn sie das in der Grauwelt tun, dann stell dir erst vor, was sie mit den magischen Exemplaren und Wundern von Greenwild vorhaben. Wir reden von einer Zerstörung, wie wir sie noch nie gesehen haben.«
Daisy versuchte, sich das ganze Ausmaß des Schreckens vorzustellen, aber ihr Kopf tat zu sehr weh.
»Und warum entführen sie Botanisten?«, fragte sie stattdessen. »Und halten sie gefangen?«
»Ich weiß es nicht«, gestand Artemis. »Ich habe schreckliche Gerüchte gehört, aber … momentan wissen wir nur, dass die Botanisten für sie lebend nützlicher sind als tot, sei es als Verhandlungsmasse oder zu einem anderen Zweck, den wir nur raten können.«
»Aber …« Daisy schluckte. Sie hatte plötzlich einen Kloß im Hals. »Cardew hat gesagt, dass Ma … dass Ma tot ist.« Diese düsteren Worte hatte sie mit aller Macht versucht zu verdrängen – genau wie die schreckliche Endgültigkeit, die in Cardews Stimme gelegen hatte.
Sie schaute Artemis an, als hoffte sie, dass sie widersprechen würde. Aber Artemis hielt nur schweigend ihre Hand.
Nach einer Weile wischte sich Daisy über die Wangen und sagte: »Es war Mas Halskette, oder? Deswegen wusste Cardew, dass sie eine Botanistin ist.«
»Ja.« Artemis sah sie traurig an. »Sie sind sich vorher nie begegnet. Deine Mutter war damals nicht bei seinem Prozess dabei. Ich glaube, weil es für sie zu schmerzhaft war.«
Daisy nickte. »Da ist noch etwas anderes … Er hat jemanden erwähnt, der ›Großer Schnitter‹ genannt wird. Es hat sich so angehört, als wäre er derjenige, der das Sagen hat. Cardew glaubte, der Große Schnitter würde ihm als Belohnung seine Magie zurückgeben, wenn er das Malvental ausliefert.«
Artemis’ Lachen war bitter. »Mit dieser Hoffnung lag er wohl falsch. Aber in einem hatte er recht, Daisy: Gier ist eine Quelle, die nie versiegt. Die Sensenleute sind auf dem Vormarsch. Und das bedeutet, dass die Angriffe und Entführungen in nächster Zeit nicht aufhören werden. Diese Schlacht mögen wir gewonnen haben, aber der Krieg hat gerade erst begonnen.«