MINA
Meine Hände fuhren langsam über das mit funkelnden Pailletten besetzte Kleid. Von den Oberschenkeln quer über den Bauch bis hoch zu meinem Hals. Ich neigte meinen Kopf leicht zur Seite und blickte in den großen, goldgerahmten Spiegel vor mir. Wie wunderschön du bist, Mina, dachte ich, während ich mein Spiegelbild betrachtete. Ich spürte mein Herz hinter meinen Rippen schlagen – go-gong, go-gong. Gleich sollte es losgehen. Der Backstagebereich des Opernhauses hatte etwas Magisches. Als könnten die Wände sprechen und all die sagenumwobenen Geschichten erzählen, die hier im Laufe der Jahre passiert sind. Man musste nur genau zuhören. Überall entlang der Korridore hingen schwarz-weiße Fotografien all der Künstler, Sänger und Musiker, die schon einmal auf dieser beeindruckenden Bühne stehen durften. Ich blickte mich um und entdeckte ein wunderschönes Bild einer Frau, die in einer ausladenden, schulterfreien Robe auf der großen Bühne des Opernhauses stand. Es war Evelyn Baghcheban, die Mitbegründerin, Chorleiterin und Solistin der Teheraner Oper in den späten Sechziger- und frühen Siebzigerjahren.26 Sie gilt als Pionierin der iranischen Oper und war das Gesicht des Hauses während seiner kurzen, aber glorreichen Blütezeit. Eine bezaubernde Frau, die mit ihrer Grazie und den üppigen, blonden Locken eine perfekte Mischung aus Grace Kelly und Marilyn Monroe darstellte. Eine wahre Ikone ihrer Zeit. Die gebürtige Türkin – Tochter einer Französin sowie eines Syrers – traf ihren späteren Mann, den iranischen Komponisten Samin Baghtcheban, während ihres gemeinsamen Studiums am Ankara State Conservatory. Diese Verbindung fruchtete in einer sehr erfolgreichen musikalischen Schaffenszeit. Das Künstlerpaar brachte den damals so populären westlichen Flair in das Opernhaus Teherans, das durch Schah Mohammad Reza Pahlavi während seiner Regentschaft stark gefördert wurde. Der Opernchor »Farah Choir«, benannt nach der iranischen Kaiserin Schahbanu Farah Pahlavi, begleitete das Königspaar bei deren Krönungszeremonie 1967.
Im Zuge der Islamischen Revolution 1979 wurde die Oper Teherans geschlossen und der Chor sowie alle damit verbundenen Aktivitäten verboten. Einige Monate später würde zudem ein Gesetz des neuen Regimes in Kraft treten, das iranischen Frauen unter anderem verbot, als Solosängerinnen aufzutreten, mit der Begründung, die Frauenstimme würde Männer sexuell verführen. Auch weitere Berufszweige waren von dieser Gesetzesanpassung betroffen. Insbesondere das Amt des Richters, die Kandidatur für das Präsidentschaftsamt oder das einer weiblichen Imam27, wofür Frauen von dem alten Klerikerclub – dem Mullah-Regime – als zu emotional erklärt wurden und somit als nicht fähig, rationale Entscheidungen zu treffen.
Doch heute, ich vermochte es gar nicht laut auszusprechen, würde ich selbst an diesem Ort auf der Bühne stehen. Meine Augen leuchteten, und die Vorfreude war riesig, auch wenn ich vor lauter Lampenfieber kaum Luft bekam.
Die Stimme des Inspizienten tönte aus dem Lautsprecher: »Mina Deris, dreißig Sekunden.«
Ich hob meinen Kopf, streckte meinen Rücken, nahm die Schultern nach hinten und betrat festen Schrittes die legendäre Bühne. Tosender Applaus brach über mich hinein. Die Menschen im ausgebuchten Saal begrüßten mich und das Orchester mit Standing Ovations. Das Klatschen wurde immer lauter und stärker, alles begann sich um mich herum zu drehen. Was passierte hier? Ich verlor die Kontrolle und fühlte plötzlich, wie sich der Boden unter meinen Füßen bewegte. War es Einbildung, ein Ohnmachtsanfall? Ein Raunen ging durch das Publikum und traf wie eine Schneelawine auf die Bühne. Es wackelte jetzt heftiger, und dann brach plötzlich ein riesiges Stück aus der Wand hinter mir heraus und krachte mit voller Wucht auf den Boden. Die Bühne begann auseinanderzubrechen. Panik breitete sich aus, die Menschen stürmten wild aus dem prunkvollen Saal, in der Hoffnung auf einen sicheren Unterschlupf. Auch Dirigent und Musiker sprangen von ihren Plätzen auf und rannten ebenfalls in Richtung Ausgang. Ich spürte, wie die Bühnendekorationen hinter mir einstürzten, während das Donnern immer heftiger wurde. Ich schloss meine Augen, so fest ich konnte, während mir klar wurde: Es gibt kein Entkommen, Mina. Es ist zu spät …
»Mina, Mina, Mina!«
Ich riss meine Augen auf. Dunkelheit um mich herum. Keine Bühne, kein Glitzerkleid. Ich lag dicht neben meiner Mutter, die mich streichelte, während sie versuchte, mich aufzuwecken. Doch das laute Donnern war immer noch da, heftiger denn je. Noch ein Schuss und noch einer. Langsam begriff mein siebenjähriges Ich, was geschah. Seit Stunden harrten wir bereits in unserem Haus aus. Mein Vater, meine Mutter, die Großeltern, meine zwei Schwestern und mein Bruder. Einige unserer Nachbarn, zumindest diejenigen, die die Angriffe überlebt hatten, suchten Unterschlupf in den Schutzräumen unseres Hauses. Deren Häuser waren längst durch Raketenangriffe zerstört worden. Und dann war da noch die Familie meines Onkels. Papas Bruder war schon im Jahr 1980 – ganz zu Beginn des Ersten Golfkriegs – an der Front gefallen und hinterließ seine gerade einmal neunzehn Jahre junge Frau samt ihrer Kinder. Später flüchteten sie gemeinsam mit meinen Eltern aus dem Kriegsgebiet, und mein Vater übernahm die komplette Verantwortung für beide Familien.
Es war das Jahr 1988, kurz vor dem Ende des Ersten Golfkriegs. Die Angriffe der Iraker mit den neu entwickelten Raketen Al Hussein28 erreichten seit über einem Jahr auch iranische Städte wie Ghom, Isfahan und Teheran. Zu diesem Zeitpunkt war die Angst um unser Leben zu unserem steten Begleiter geworden.
Im Iran war der Kampfgeist in der Bevölkerung stark zu spüren. Zivilisten griffen selbst zu Waffen, um ihre Landesgrenze zu verteidigen. Besonders in Chuzestan – dort, wo die Grenze zum Irak verläuft – waren schon in den ersten Kriegsmonaten Tausende Menschen ums Leben gekommen. Eine nationale Tragödie. Sie hatten weder angemessene Verteidigungswaffen noch eine militärische Ausbildung. Doch eine Wahl hatten sie ebenfalls nicht. Im Zuge der vorangegangenen Islamischen Revolution waren die höheren Offiziere exekutiert worden, saßen in den Gefängnissen oder waren im Exil. Es gab nur noch führerlose Soldaten und die unerfahrene Bevölkerung, die nun gezwungen waren, in diesen Krieg zu ziehen. Das Schlimmste jedoch waren all die Kinderopfer. Kinder und Jugendliche wurden von der iranischen Regierung rekrutiert und als lebende Minensucher eingesetzt, um für die Kämpfenden den Weg zu räumen. Den Eltern versprach man dafür eine Prämie.29
Wie immer beteten wir auch in dieser Nacht, dass es bald vorüber sein möge, und meine Oma begann Golelale, mein liebstes Schlaflied, zu singen, während ich meinen Kopf auf ihren Schoß legte. Langsam schloss ich erneut meine Augen, in der Hoffnung, dass mein wunderschöner Glitzertraum mich wieder auf die Opernbühne zurückbringen würde.
»Lay lay lay lay lay, Tulpenblume.
Die Mama ging, Gott sei mit ihr.
Lay lay lay lay lay, Tulpenblume.
Der Papa ging, Gott sei mit ihm.«
Mein Name ist Mina Deris. Ich bin im Januar 1981 auf dem Fluchtweg – von Abadan nach Teheran – zur Welt gekommen. Ghom heißt die Stadt, in der meine Mutter mich damals bekam, inmitten von Kisten und Tüten mit all unseren Habseligkeiten. Abadan, die Heimatstadt meiner Eltern, liegt in der Provinz Chuzestan – der ölreichsten Region des Iran. Circa 90 Prozent des im Irak gewonnenen Öls kommen aus dieser Gegend im Südwesten des Landes, die nur 50 Kilometer vom Persischen Golf entfernt sowie nahe der Iran-Irak-Grenze liegt. Mein Vater hat dort, wie viele andere auch, in der Ölraffinerie gearbeitet. Doch auch wenn dieser Job genügend Geld einbrachte, um die Familie zu versorgen, lebten meine Eltern nie auf großem Fuß. Sie gehörten der Mittelschicht an, was verglichen mit den meisten Menschen in dieser Gegend in Ordnung war. Meine Eltern waren iranische Araber, wie rund 60 Prozent der Bevölkerung Abadans. Die arabische Sprache mit ihren zahlreichen Dialekten ist hier vorherrschend. Doch trotz der Tatsache, dass die Provinz Chuzestan und insbesondere Abadan mit 8 Prozent der weltweiten Ölreserven der Mittelpunkt der iranischen Ölindustrie ist und somit – zusammen mit Rohrzucker – die wichtigste Säule für die Wirtschaft des Landes bildet, leben hier die meisten Menschen in erschreckender Armut und leiden bis heute unter akutem Wassermangel. Im Juli 202130 versiegten dort um die 700 Wasserquellen als Folge der größten Dürre der letzten 50 Jahre. Früher war diese prosperierende Region voller Wasser, bis die Regierung in ihrem katastrophalen Missmanagement damit begann, Staudämme zu bauen, und das Wasser nach und nach schneller verdunstete. Heute kämpfen dort nicht nur die Bauern gegen den Mangel an, sondern die gesamte Bevölkerung leidet Not. Doch jede Art von Aufstand oder Protest wird von den Sicherheitskräften mit Tränengas und scharfer Munition niedergeschlagen. Die Menschen werden mit leeren Versprechen ruhig gehalten, während das Mullah-Regime weiterhin tatenlos dem Niedergang der einst ressourcenreichsten Region des Iran zusieht.
Aber nicht nur äußere Einflüsse machen den dort lebenden Menschen zu schaffen. Sie sprechen anders, pflegen teilweise andere Bräuche und haben eigene Glaubenssätze. Viele scheiden schon in der Grundschule aus, spätestens jedoch in der Oberstufe, weil sie gezwungen werden, in Farsi – der offiziellen Landessprache – am Unterricht teilzunehmen. Dies ist für sie jedoch eine Fremdsprache. Von dem unerbittlichen Regime werden das Leben und Pflegen eigener Sitten als »Feindschaft zu Gott« verurteilt. Grund genug, diese arme Bevölkerung zu diskriminieren und ihnen den Zugang zu Bildung, zum Arbeitsmarkt und zu politischen Ämtern zu verwehren. Und immer wieder werden Angehörige der dortigen Minderheit beinahe grundlos auf die Anklagebank gebracht und später hingerichtet.
Mein Vater kannte einige solcher »Fälle« aus der Nachbarschaft in Abadan. Vielleicht hat er deshalb stets so viel Wert auf unsere Bildung gelegt. Er hatte gute Kenntnisse in Mathematik, Englisch und auch in arabischer Sprache. An den Abenden nahm er sich oft Zeit, um mit uns Kindern für die Schule zu lernen. Mathe war nicht mein Lieblingsfach, doch seine Art, Sachen zu erklären, machte immer Spaß. Wäre er nicht so ein humor- und hingebungsvoller Nachhilfelehrer gewesen, hätte ich später sicher nicht den Ingenieurberuf erlernen können, der mir anfangs meinen Lebensunterhalt sichern sollte. Dank ihm habe ich Mathematik lieben gelernt.
Eines Tages brachte Papa eine große schwarze Tafel aus der Ölraffinerie, wo er nach unserer Flucht arbeitete, mit nach Hause. Er stellte sie unten im Hinterhof auf, und augenblicklich scharten sich alle Nachbarskinder um ihn. Ich mittendrin.
»Papa, wofür ist das?«, fragte ich neugierig.
Er lächelte und zwinkerte mir zu, sagte aber kein Wort. Mein Vater liebte es, uns Kinder zum Spaß zu ärgern und Spannung aufzubauen. Trotz oder gerade wegen der schwierigen ersten Jahre in Teheran versuchte er stets positiv zu bleiben, auch wenn er selbst eine zutiefst traurige Zeit durchlebte. Er verlor unzählige seiner Arbeitskollegen und Freunde, denn die Raketen schlugen oft auch in unmittelbarer Nähe seiner Arbeit ein und zerstörten Teile der Industrieanlage sowie die dort arbeitenden Menschen. Er wusste, dass er Schutzengel um sich haben musste, denn er hatte das Glück gehabt, die Angriffe zu überleben.
Die schwarze Tafel wurde noch am selben Nachmittag eingeweiht. Papa beschloss, ehrenamtlich Nachhilfe zu geben, damit all die Kinder in unserer Nachbarschaft, deren Familien sich keinen privaten Nachhilfeunterricht leisten konnten, bessere Chancen auf einen guten Schulabschluss hatten. Meine Eltern waren ein großer Segen – für mich, aber auch für so viele andere Menschen in unserer Nähe. Sie brachten uns Nächstenliebe bei und vermittelten Wärme und Geborgenheit überall, wo sie hinkamen. Doch den größten Dank schulde ich ihnen für die wichtigste Liebe in meinem Leben: die Musik.
In unserer Familie wurde immer viel gesungen. Meine Eltern hatten beide schöne Stimmen. Das gemeinsame Singen war für mich immer mehr als nur ein netter Zeitvertreib. Dieses wundervolle Ritual gab uns Kraft, stärkte unseren Zusammenhalt und schenkte Hoffnung in schweren Zeiten, wenn die Welt außerhalb unseres Zuhauses in Schutt und Asche zu zerfallen drohte. Meist taten wir das abends nach dem Essen. Dann saßen wir alle gemütlich im Kreis und erzählten von unseren Träumen und Wünschen, und Papa forderte uns Kinder auf, zu berichten, was uns am Tage Positives widerfahren war. An mindestens eine Sache musste sich jeder erinnern. So ging es reihum. Und wenn mein Bruder an der Reihe war, sagte er meistens irgendeinen Quatsch, wie:
»Ich hab’ einen Regenwurm auf der Straße gefunden und hab’ ihm nicht den Kopf abgerissen.«
Damit erntete er des Iran schallendes Gelächter. Zu späterer Stunde sangen wir unsere Lieblingslieder. Jeden Abend war jemand anderes an der Reihe, einen Song vorzuschlagen. Dieses Ritual half mir, mit einem guten Gefühl zu Bett zu gehen, voller Hoffnung auf ein besseres Morgen. Und unter dem Kissen wartete schon mein kleines Geheimnisbuch. So nannte ich es. Das kleine, mit rotem Samt bezogene Büchlein mit linierten Blättern war voller Schnipsel aus alten Zeitungsartikeln oder Büchern, die meine Eltern noch aus der Zeit vor der Islamischen Revolution besaßen. Sorgfältig ausgeschnitten bewahrte ich darin die schönsten Bilder vom Schah und Schahbanu Farah Pahlavi, von Frauen in wunderschöner Kleidung, von Musikinstrumenten, Ausstellungsstücken aus Museen und von Evelyn Baghcheban sowie dem Opernhaus. Ich liebte es, vor dem Einschlafen darin zu blättern und mich in die kühnsten Fantasien zu stürzen. Kein Wunder, dass meine Träume von glitzernden Kleidern und großen Bühnen schon damals so berauschend waren.
Der Erste Golfkrieg endete am 20. August 1988 mit der Unterzeichnung eines Waffenstillstands. Die furchtbare Konfrontation zwischen den beiden Nachbarländern Iran und Irak mündete in einer Katastrophe von beispiellosem Ausmaß. Dieser blutige Krieg, der menschliche und wirtschaftliche Verluste auf beiden Seiten forderte, brachte unvorstellbares Leid über die Bevölkerung. Das Traurigste daran ist, dass man heute weiß, dass der Krieg von den iranischen Machthabern künstlich aufrechterhalten wurde, damit die Bevölkerung von der brutalen Machtübernahme durch die Mullahs sowie dem drastischen Regierungswechsel abgelenkt werden konnte und keinen Widerstand leistete. Bis heute sind seine Auswirkungen deutlich spür- und sichtbar. Die Bombeneinschläge haben ganze Städte in Schutt und Asche gelegt, einst blühende Viertel in Ruinen verwandelt. Zerstörte Häuser zeugten von der Zerbrechlichkeit des menschlichen Lebens und den Schrecken des Krieges. Der Iran bezifferte die Schäden damals auf unglaubliche 644 Milliarden US-Dollar, während sich der Betrag für den Irak auf 452 Milliarden US-Dollar31 belief. Diese Zahlen zeigen das enorme Ausmaß der Zerstörung und die Herausforderungen, denen beide Länder gegenüberstanden, um ihre Wirtschaft wieder aufzubauen. Doch nicht nur die physischen Verwüstungen, auch die langfristigen Nachwirkungen sind immens. Der Einsatz chemischer Waffen durch den Irak hat zu schweren Krankheiten geführt, die bis heute das Leben vieler Menschen belasten. Aber trotz all dieser verheerenden Nachwehen atmeten die Menschen wieder auf.
Ganz langsam und beinahe unbemerkt – wie die Schatten vor dem Anbruch eines neuen Tages – verzog sich die Angst vor dem nächsten Angriff. Die Straßen füllten sich wieder mit Leben, die Schaufenster lockten mit neuen Waren und standen für die wieder aufkeimende Hoffnung auf ein friedliches Miteinander.
Wir genossen den Spätsommer sowie die darauffolgenden Monate in vollen Zügen, in Dankbarkeit darüber, dass unsere Familie beinahe vollständig und heil davongekommen war und diese schreckliche Zeit überstanden hatte. Doch mein unbeschwertes Dasein hielt nicht lange an. Etwa anderthalb Jahre nach Kriegsende kam eine Nachricht aus Abadan. Sie brachte für mich persönlich eine schmerzliche Wendung. Darin stand, dass die Ölraffinerie, in der mein Vater vor der Flucht tätig war, erneut den Arbeitsbetrieb aufnahm. Papa wurde mit einem guten Gehalt und besseren Lebensbedingungen zurück in seine Heimatstadt gelockt. Es war ein schmerzhafter, dramatischer Abschied. Mein Vater war alles für mich – mein bester Freund, mein Lehrer, mein engster Vertrauter, auf den ich mich immer verlassen konnte. Ich war noch nicht einmal zehn, doch eines wusste ich damals schon genau: Es war ein Abschied auf unbestimmte Zeit, und niemand konnte sagen, wann und unter welchen Umständen wir uns wiedersehen würden.
Am Ende waren es fünf Jahre und acht Monate, in denen unsere Familie getrennt lebte. Mein Vater war beim Wiederaufbau in Abadan eingespannt, während meine Mutter damit beschäftigt war, den Alltag für uns vier Geschwister in Karadsch, wohin wir in der Zwischenzeit gezogen waren, zu bewältigen. Die Entfernung zwischen Vater und uns schien unüberbrückbar, und es gab kaum eine Möglichkeit, Papa zu besuchen. Die durch den Krieg zerstörte Infrastruktur war noch nicht ansatzweise wieder instand gesetzt, und es dauerte über zwei Tage, um von Abadan nach Karadsch zu kommen. Trotzdem nahm mein Vater jeden Monat die lange Reise auf sich und kam für fünf Tage nach Hause, wo wir mit der ganzen Familie ein großes Wiedersehensfest feierten.
Seinen ersten Besuch nach über sieben langen Monaten werde ich für immer in Erinnerung behalten, denn er hat mein Leben verändert. Meine Geschwister und ich waren schon früh am Morgen wach und bedrängten unsere Mutter im Fünf-Minuten-Takt mit der Frage:
»Wann ist Papa endlich da?«
Nervös hockte ich am Fenster, bis endlich das lang erwartete Auto unten vor dem Hauseingang hielt und ich Papa mit zwei großen Koffern aussteigen sah.
»Was machen die Mathematik und die Musik, Mina?«, fragte Papa, nachdem unsere Wiedersehenstränen etwas getrocknet waren.
»Alles bestens, Papa! Mach dir bloß keine Sorgen.«
»Ich habe dir etwas mitgebracht«, fuhr er mit einem Zwinkern fort. Und dann holte er aus einem der Koffer ein großes Päckchen heraus. Meine Augen weiteten sich, und während er das Geschenk auspackte, wirbelten wir Kinder aufgeregt um ihn herum. Und dann sah ich es: Es war ein alter Plattenspieler, und dazu schenkte er mir eine Schallplatte der legendären Umm Kulthum. Es bräuchte einen ganzen Roman, um die Bedeutung dieser einzigartigen ägyptischen Sängerin in der arabischen Welt zu beschreiben. Im Grunde war sie im Orient so etwas wie die Beatles in der westlichen Kultur. Dank ihrer außergewöhnlichen Stimme war sie in der Lage, bis zu 14 000 Vibrationen pro Sekunde zu produzieren, und sorgte für Furore in ausverkauften Stadien. »Die Stimme Ägyptens«, so wurde sie genannt, ging in den 1950er-Jahren endgültig in die Geschichte ein, als sie während eines öffentlichen Auftritts selbstbewusst ihr Kopftuch ablegte. Dieser mutige Akt symbolisierte einen Wandel und wurde von vielen als Ausdruck der Emanzipation und der Suche nach persönlicher Freiheit interpretiert. Die Musiklegende und das Idol vieler Frauen starb in den Siebzigerjahren nach einer über sechs Jahrzehnte währenden, erfolgreichen Karriere und hinterließ Millionen trauernde Anhänger. Für mich war sie mehr als nur ein gesangliches Vorbild. Ich spürte eine starke Verbindung zu ihr, einen wegweisenden Wink des Lebens. So, als wollte sie mir sagen: »Da geht es lang, Mina. Trau dich, den Pfad deines wahren Schicksals zu betreten. Vertraue deinem Instinkt und geh mit der Musik.« Ihr Gesang berührte mich tief in meiner Seele und half mir über die vielen traurigen Stunden hinweg, in denen ich meinen Vater in der Ferne fürchterlich vermisste.
Es war kurz vor Sommerferienbeginn im Jahr 1996. Ende des Vorjahres war meine gesamte Familie nach Abadan umgesiedelt, und wir lebten glücklich vereint in der Heimatstadt meiner Eltern. Und auch wenn ich unheimlich froh über diesen Umstand war, steckte ich mit meinen fünfzehn Jahren mitten in der Pubertät. In den Monaten zuvor hatte ich viele Veränderungen zu bewältigen. Neue Umgebung, neue Schule und neue Freunde. Es war nicht einfach, mein altes Leben hinter mir zu lassen, zumal der Schulalltag in der neuen Heimat viel strenger und konservativer ablief als in Karadsch. Der Druck – insbesondere auf Schülerinnen – war enorm. Man erwartete von uns Mädchen, auf den Boden zu schauen, gehorsam zu sein und einfach ja zu sagen, ohne Diskussion. Mädchen und Jungen wurden voneinander getrennt und geschlechtsspezifisch unterrichtet, was im Iran bis heute praktiziert wird. Sportliche Aktivitäten waren stark eingegrenzt, von Aufklärungsunterricht ganz zu schweigen. Außerdem war unser Schulalltag von religiösen Themen geprägt.32 Wir standen kurz vor dem Eintritt in den Dabirestân (dt. Oberstufe).
Für mich persönlich war meine weitere Schullaufbahn ein Dilemma. Meine Eltern wünschten sich, dass ich Medizin studiere und Ärztin werde. Das wünschen sich übrigens alle iranischen Eltern an erster Stelle für ihre Kinder. Und wenn es mit dem Medizinstudium nicht klappt, dann folgt direkt danach der Ingenieurberuf. Aus meiner innigen Liebe und dem Respekt meinen Eltern gegenüber wäre ich ihrem Wunsch gern nachgekommen. Doch tief im Inneren sehnte ich mich nach etwas anderem. Ich wollte auf der Bühne stehen und wie mein großes Vorbild Umm Kulthum Musik machen, singen und die Menschen begeistern. Genau wie in meinen Glitzerträumen aus der Kindheit. Damals – bis zum Jahr 1979, unter der Regentschaft von Schah Mohammad Reza Pahlavi – waren die Menschen und vor allem Frauen frei, ja fast schon rebellisch. Zumindest wenn man sich die alten Bilder der Popikonen der Sechziger- und Siebzigerjahre wie Googoosh oder Ramesh anschaut. Es gab keine Kopftuchpflicht, dafür aber Miniröcke und Absatzschuhe auf offener Straße. Teheran glich allen anderen westlichen Metropolen, und auch sonst waren die Städte voller bunter lebensfroher Menschen, die gern ausgingen und das Leben genossen – in Kabaretts, Bars, Diskotheken. Dort sangen früher übrigens auch Frauen als Solistinnen und zwar ohne Einschränkungen und ohne Hijab. Doch die fröhlichen Bilder von Sängerinnen, Tänzerinnen und Diven der damaligen Zeit, die ich aus den Zeitungsartikeln meiner Kindheit und aus den Erzählungen meiner Eltern kannte, waren in meiner Erinnerung längst verblasst. Das öffentliche Tanzen, Singen oder sich auf einer Bühne präsentieren ist seither für Frauen explizit verboten. Was dagegen gefördert wurde, war der Koranunterricht, der an allen Schulen nach der Machtübernahme durch Khomeini 1979 verpflichtend eingeführt wurde. Selbst in nicht-religiösen Fächern wie Persisch, Arabisch oder Sozialwissenschaften wurden religiöse Themen behandelt. Meine Teilnahme am Pflichtprogramm der Koranlesungen war für mich die einzige Möglichkeit, meine Stimme zu zeigen. Immerhin gab es dabei unzählige Wettbewerbe, wo ich fast immer den ersten Platz belegte. Alle – Lehrer und Mitschüler – liebten meine Stimme, und so hatte ich einen Weg gefunden, meine heimliche Leidenschaft auszuleben. Doch jetzt war es an der Zeit, wichtige Entscheidungen für meinen beruflichen Werdegang zu treffen.
Ich entschied mich gegen meinen Herzenswunsch und für eine sichere Laufbahn. Der naturwissenschaftliche Leistungskurs war jedoch voll, und so überredete mein Vater mich dazu, mich für Mathematik einzuschreiben.
»Du kannst Mathe, wir haben nicht umsonst so viele Abende mit Formeln und Rechentabellen verbracht«, sagte Papa, nachdem er vom Gespräch mit dem Schuldirektor nach Hause kam. »Du könntest später Materialwissenschaften studieren. Das ist ein solider, bodenständiger Beruf.«
Ich fügte mich dem Wunsch meiner Eltern und beschloss, auf die Meybod-Universität in der Provinz Yazd zu gehen. Fleißig und mit guten Noten zog ich es durch. Die Frage nach einem Musikstudium hatte sich damals nicht gestellt. Ich wusste nicht einmal, dass man Musik studieren konnte. Es war ja nicht wie heute, wo man alle Informationen im Internet recherchieren kann. Angesichts der Tatsache, dass das öffentliche Solosingen für mich als Frau sowieso streng verboten war, kam es mir auch gar nicht in den Sinn, mich auf diesem Gebiet weiterzubilden. Das Singen und Musizieren war zwar stets ein großer Teil von mir, doch eher so etwas wie meine heimliche Leidenschaft. Ein Geheimnis, das ich wie einen Schatz tief in meiner Seele bewahrte. Wie sollte es auch anders sein? Mädchen oder Frauen war es ja nicht einmal erlaubt, ein Musikinstrument zu spielen, geschweige denn, außerhalb des eigenen, engen Familienkreises zu singen. Viele hielten es geheim.
Heute weiß ich es besser! Jede Frau im Iran – wie alle anderen Menschen auf diesem Planeten – hat trotz all der Einschränkungen und Unterdrückung das Recht, groß zu träumen. Doch die meisten hatten, so kurz nach der Islamischen Revolution, keinen Mut dazu. Alles, was mit dem Schah und dem Westen in Verbindung gebracht wurde, musste nach dem Sturz des alten Regimes verbannt, verbrannt oder weggeschmissen werden. Dazu gehörten auch Schallplatten von Sängerinnen und Sängern, Bücher, Poster und andere Elemente der Popkultur. Sonst drohten harte Bestrafungen, Inhaftierungen und Folter. Und doch hatten sich die Bilder aus meinem roten Samtbüchlein in mein Musikerherz eingebrannt. Mein sehnlichster Wunsch war es schon immer, das kulturelle Erbe des Iran zu ehren, es in die Welt hinauszutragen und Menschen durch meinen Gesang tief in ihrer Seele zu berühren.
Aber für den Moment war es eigentlich ganz schön, in der 5000 Jahre alten Stadt Yazd zu studieren. Ich liebte es, durch ihre malerischen Straßen und engen Gassen zu laufen. Der Klang meiner Schritte auf dem gepflasterten Boden vermischte sich mit dem sanften Rauschen des Windes, der durch die engen Durchgänge strich. Der köstliche Duft von Gewürzen und frischem Gebäck aus den kleinen Bäckereien und gemütlichen Cafés lag über allem. In der Altstadt – die 2017 von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt wurde – begegnet man den berühmten Häusern aus Lehmziegeln. Ein robustes, wärmeisolierendes Material, das reichlich in der umliegenden Wüstenlandschaft vorhanden ist und heute noch für den Bau genutzt wird. Hoch über den verwinkelten Gassen erhebt sich eine beeindruckende Moschee, errichtet auf den Überresten eines einstigen zoroastrischen Feuertempels. Zoroastrismus ist die älteste monotheistische Religion der Welt und wurde im antiken Persien im 6. Jahrhundert v. Chr. – lange bevor es den Islam gab – begründet. Die Religion basiert auf drei friedlichen Glaubenssätzen: gutem Denken, gutem Sprechen, gutem Handeln. Und diese Philosophie spiegelt sich in jeglichem Handeln der Gläubigen wider. Ich habe irgendwo ein interessantes Zitat darüber gelesen, das die Kernausrichtung dieser Religion perfekt auf den Punkt bringt: »Eine Minute gut und tief zu denken, ist besser als siebzig Jahre Beten. Religion ist vor allem da für Menschen, die Orientierung suchen. Wer gut denkt, redet und handelt, der braucht keine Religion.«33 Heute zählt Yazd zum wichtigsten Zentrum der zoroastrischen Gemeinschaft, die bis in die Gegenwart existiert und ihre Traditionen – trotz des herrschenden Regimes und dessen immenser Unterdrückung anderer Glaubensgemeinschaften – pflegt.
Es lohnte sich auch, während eines Spaziergangs in die schönen Innenhöfe hinter den hohen Hausmauern zu blicken. Hier fand man angenehm schattige Plätze, üppiges Grün und erfrischende Brunnen, die an heißen Tagen kühles Wasser spendeten. Das wohl markanteste Merkmal der traditionellen Bauten in Yazd sind die Windtürme, auch bekannt als Badgirs. Diese konischen Strukturen stehen stolz auf den Dächern und dienen dazu, kühle Winde einzufangen und in die Innenräume zu leiten. Sie sind ein raffiniertes Beispiel für nachhaltiges Bauen und sorgen für natürliche Belüftung und Klimatisierung in den Häusern, selbst während der heißesten Sommermonate.34
Wenn die Sonne dann am frühen Abend etwas tiefer stand, war ich hingerissen von den zauberhaften Lichtspielen auf den bunten Fassaden der Häuser. Diese Stadt schaffte es wie kaum eine andere, die reiche Geschichte und Kultur des Iran mit modernen Einflüssen zu vereinen. Vielleicht war ich deshalb so verliebt in sie, weil sie wie ein Spiegel meiner Musikerseele war – mit dem großen Wunsch, das kulturelle Erbe des Iran mit dem Geist zeitgenössischer Musik zu verbinden.
Es gibt eine Sache im Leben, an die ich fest glaube: Wenn ein Mensch auf seinem vorherbestimmten Weg ist, dann öffnen sich ihm alle nötigen Türen, um seine Bestimmung zu vollziehen. Zwar gab mir meine Fachrichtung »Materialwissenschaften« ein sicheres Gefühl, da ich wusste, dass ich nach dem Abschluss schnell einen gut bezahlten Job finden würde. Doch mein Herz sehnte sich nach der Musik. Und so beschloss ich, mir noch während meines Studiums etwas zu kaufen: eine Violine. Davon träumte ich schon lange und hatte seit einem Jahr dafür gespart. In der traditionellen persischen Musik, die eine reiche Geschichte hat, ist die Violine – als Kamantsche bekannt – ein einzigartiges Streichinstrument. Mit ihrer birnenförmigen Resonanzkammer erzeugt sie einen warmen und charakteristischen Klang, der eine Schlüsselrolle in der klassischen persischen Musik einnimmt. Doch trotz all der Liebe zu meinen Wurzeln entschied ich mich damals für die moderne Variante einer westlichen Violine. Ich wollte eine musikalische Brücke zwischen verschiedenen Stilen und Generationen schlagen und die einzigartige kulturelle Identität des Iran sowie moderne Einflüsse mithilfe meiner Musikkreationen verschmelzen lassen. Dieses kleine Instrument bedeutete einen weiteren, wichtigen Schritt auf dem Weg zu meinem Künstlerdasein.
Da stand ich nun, ausgestattet mit meiner nagelneuen Violine – ohne einen blassen Schimmer zu haben, wie man sie spielt. Ich begab mich also erneut auf die Suche. Diesmal in der Mission, einen geeigneten Lehrer zu finden, der mir Privatunterricht geben könnte. Durch eine Mitstudentin, die ebenfalls Unterricht nahm, traf ich schließlich meinen damaligen Violinlehrer. Leider sahen wir uns nicht oft, denn er war viel beschäftigt und im ganzen Land bei Auftritten unterwegs. Aber er sollte dennoch einen maßgeblichen Einfluss auf meine spätere Karriere haben – er war der erste professionelle und praktizierende Musiker, der mich dazu ermutigte, hauptberuflich als Sängerin zu arbeiten.
»Mina, du hast eine wundervolle, berührende Stimme«, sagte er eines Tages. »Nutze sie, nimm Gesangsunterricht und schau, dass du dich als Sängerin weiterentwickelst. Es wäre viel zu schade, solch ein Talent zu vergeuden.«
Das berührte mich, denn bis auf die gemeinsamen Gesangsrunden mit meiner Familie sowie die Koranlesungen in der Schule war ich nie auf die Idee gekommen, irgendwo meine Stimme zu präsentieren. Ganz langsam, wie eine Blume, die sich sachte der Sonne entgegenstreckt und ihre Blüten entfaltet, begann ich zu begreifen, wohin mich mein musikalischer Weg führen konnte.
Es war einer dieser Tage, ich saß im Bus auf dem Weg nach Hause. Seit einem halben Jahr genoss ich einmal monatlich eine halbe Stunde Gesangsunterricht bei der Sängerin Hengameh Akhavan. Im Iran gibt es einige Lehrerinnen sowie private Einrichtungen, die sich speziell für die Förderung von Musikerinnen engagieren. Im privaten Rahmen können Mädchen und Frauen ein Instrument erlernen oder Gesangs- und Tanzunterricht nehmen. Das große Problem ist dabei nur, dass sie dieses Talent nie öffentlich ausleben dürfen. Somit haben sie auch keine Chance, ihre Bekanntheit zu steigern und Geld mit ihrer Kunst zu verdienen. Wenn Frauen sich doch für diesen beruflichen Weg entscheiden, dürfen sie das nur, wenn sie gemeinsam mit Männern auf öffentlichen Bühnen stehen. Dabei singen sie lediglich im Chor, nie als Solistinnen, und ihre Stimmen sind nur leise hörbar, denn üblicherweise werden sie von dem kräftigen Männergesang übertönt oder einfach dreist ausgeschaltet.
Ich wusste also, dass meine Chancen, es unter diesem Regime als Solosängerin zu schaffen, gleich null waren. Aber ich wusste auch, dass es ein großes Privileg war, bei dieser bekannten iranischen Gesangslehrerin Unterricht nehmen zu dürfen. Hierzulande ist sie eine angesehene Künstlerin und eine der wenigen Frauen, die sowohl Engagements beim Radio als auch beim Fernsehen erhielt und sogar als die zweite Ghamar35 bezeichnet wurde. Für diese kostbare halbe Stunde Unterricht nahm ich große Strapazen auf mich. Eine Fahrt von Yazd nach Teheran kostete mich in der Regel sieben oder acht Stunden und das nur in eine Richtung. Somit war ich mit Wartezeiten jedes Mal den ganzen Tag und die halbe Nacht unterwegs. Es war kräftezehrend und unglaublich erschöpfend, doch ich zog das ein Jahr lang durch, weil ich wusste, dass es mich weiterbringen würde. Ich wollte die Art von Frau sein, die die Kultur des Iran durch ihre Musik weiterleben lässt.
Mein guter Freund Pouya kannte meine Gedanken in- und auswendig. Mit ihm teilte ich all meine musikalischen Träume, und irgendwann, bei einem unserer intensiven Gespräche, sagte er:
»Weißt du was, Mina. Es wird Zeit, dass ich dich jemandem vorstelle. Ich glaube, er könnte eine wichtige Rolle in deiner Karriere als Musikerin spielen.«
Master Farhang Sharif war ein renommierter iranischer Musiker und Tar-Spieler. Außerdem war er der erste iranische Künstler, der mit dem Kunstabzeichen ersten Ranges ausgezeichnet wurde, was einem Doktortitel entspricht. Die Tar ist ein altes, persisches Instrument, das in unserer Musik nahezu unverzichtbar ist. Mit ihrer flachen, ovalen Form und dem schmalen Hals, an dem die sechs Saiten entlanglaufen, ähnelt sie der westlichen Gitarre. Jedoch ist sie in ihrer Form schwungvoller und dem weiblichen Körper ähnlicher, was mir besonders imponiert. Ein wunderschönes Instrument, dessen einzigartiger, melodischer Klang sie sowohl als Soloinstrument als auch als Teil eines Orchesters unverzichtbar macht. Ihr warmer, reicher Klang erzeugt diese unverwechselbaren orientalischen Harmonien, die dank des großen Resonanzkörpers der Tar einen langen Nachhall bilden. Sanft, ein wenig melancholisch und tief berührend. Mit einer Tar kann man sogar mehrere andere Instrumente ersetzen, so raumfüllend ist ihr Klang. Immer wenn ich darauf spiele, versetzt sie mich in eine ganz eigene Welt aus wunderschönen Melodien, Träumen und sanften Tönen. Bei Master Sharif entdeckte ich meine Künstlerwurzeln neu.
Eines Tages bat er mich, etwas vorzusingen. Ich kam seinem Wunsch nach, indem ich einen Song von meinem Idol, der großen Umm Kulthum, sang.
»Mina, woher kennst du Umm Kulthum?«, fragte er mich daraufhin verwundert.
»Ich habe arabische Wurzeln und verehre diese großartige Frau schon mein Leben lang. Wenn ich heute noch die Chance dazu hätte und sie am Leben wäre«, fügte ich an, »würde ich zu Fuß zu ihr nach Ägypten laufen, nur um einen kurzen Blick auf sie zu werfen.«
Meine Bewunderung für Umm Kulthum war wirklich groß. Das ist sie bis heute. Kaum eine andere Künstlerin vermag mich derart tief in meiner Seele zu berühren. Und dann sagte Master Sharif etwas, was mein Leben nachhaltig verändert hat:
»Du solltest auf Arabisch singen, Mina. Es ist dir von Gott gegeben, und du bist darin talentiert. Geh zurück zu deinen musikalischen Wurzeln. Damit wirst du Menschen, genau wie Umm Kulthum, berühren.«
Etwas derart Schönes hatte zuvor noch nie jemand zu mir gesagt. Und plötzlich wurde mir klar: Ich konnte Menschen nur mit etwas Authentischem erreichen. Und was könnte echter und wahrhaftiger für mich sein als das Singen in meiner Muttersprache? An diesem Tag traf ich eine wichtige Entscheidung.
Mein Studium an der Meybod-Universität hatte ich gerade erfolgreich hinter mich gebracht. Danach fand ich schnell einen gut bezahlten Job, aber die Musik ließ mich nicht los, und meine Entscheidung stand fest. Ich beschloss, mich neben meinem Hauptjob am Tehran Conservatory of Music zu bewerben, und bekam prompt einen Studienplatz. Es war eine kleine Herausforderung, die Vorlesungszeiten mit meinen Arbeitszeiten zu vereinbaren, aber ich hatte mir fest vorgenommen, es wenigstens zu versuchen. Die Atmosphäre am Konservatorium faszinierte mich. Die Menschen waren offen, fast schon frei, und alles war durchdrungen von künstlerischem Geist. Ich fühlte mich wie ein Fisch im Wasser und begann schnell, Kontakte mit Gleichgesinnten zu knüpfen.
Eines Abends nach den Vorlesungen nahm mich eine Kommilitonin zu einer »Privatveranstaltung« mit. So nannte sie es und zwinkerte mir dabei geheimnisvoll zu. Es war eine Art Club, der von außen nicht als solcher zu erkennen war. Meine Begleiterin klopfte dreimal in einem bestimmten Takt an die Tür, und einige Sekunden später öffnete uns ein junger Mann mit Dreadlocks. Er schaute etwas grimmig in die Dunkelheit und dann grinste er meine Kommilitonin mit einem breiten Lächeln an:
»Herzlich willkommen!«
Man kannte sich in den Kreisen. Er machte eine Handbewegung und signalisierte uns damit, einzutreten. Meine Güte, ich hatte ja keine Ahnung! In der verdeckten Künstlerszene wimmelte es nur so von unglaublich begabten Sängerinnen und Sängern, Musizierenden und Menschen, die in irgendeiner Weise der Kultur und Musik verschrieben waren. Besonders der immense Frauenanteil überraschte und schockierte mich zugleich. Ich traf auf klassisch ausgebildete Sängerinnen, Amateurinnen und Musikstudentinnen aller Gesangsrichtungen. Ob traditionelle Musik, Hip-Hop oder Jazz – alles war vertreten, so vielfältig und bunt. Aufgeregt tastete ich mich immer weiter vor und entdeckte ein Stimmtalent nach dem anderen. Im Laufe der nächsten Wochen besuchte ich noch mehr dieser Underground-Veranstaltungen und traf so viele wundervolle Frauen, die vermutlich nie die Chance haben würden, mit ihrer Gabe breite Menschenmassen zu erreichen. Denn es war ganz einfach: Männer dürfen im Iran öffentlich allein auftreten und singen, Frauen nicht. So schrieb und schreibt es bis heute das Gesetz vor. Mahasti, Googoosh, Ramesh, Homeyra, Hayedeh – das waren alles große iranische Stimmen, berühmte Sängerinnen, die die Menschen vor der Islamischen Revolution bis in die wilden Siebzigerjahre zum Schwärmen brachten und später in der vom Regime geführten Unterdrückungspolitik in der Versenkung verschwanden, emigrierten oder schlichtweg verstummten. Unter uns gab es auch viele Anhängerinnen von Schahbanu Farah Pahlavi, der beliebten Kaiserin an der Seite des Schahs, die als Sinnbild der kulturellen Blüte des Iran vor der Machtübernahme verehrt wird. Sie setzte sich während ihrer Regentschaft von 1967 bis 1979 mit Leidenschaft für die Förderung der Kultur im Iran ein. Ihr Engagement galt insbesondere der Erhaltung des kulturellen Erbes und der Förderung zeitgenössischer Kunst. Als starke Befürworterin unterstützte Farah Pahlavi aktiv iranische Künstlerinnen und Künstler in Malerei, Skulptur, Musik, Literatur und Theater. Sie lud sie regelmäßig zu kulturellen Veranstaltungen im Kaiserlichen Hof ein, um ihre Arbeit anzuerkennen und zu würdigen. Darüber hinaus gründete Farah Pahlavi bedeutende kulturelle Einrichtungen, die bis heute eine wesentliche Rolle im iranischen Kulturleben spielen. Das Tehran Museum of Contemporary Art, das unter ihrer Leitung entstand, trug zur Förderung zeitgenössischer Kunst im Iran bei, wofür sie Gemälde und Kunstwerke von renommierten Kunstschaffenden aus aller Welt einkaufte. Das Niavaran-Kulturzentrum wurde zur Plattform für künstlerische und kulturelle Aktivitäten. Die Förderung der Bildung war ein weiterer Schwerpunkt der Kaiserin. Sie erkannte die Bedeutung von Bildungseinrichtungen für die kulturelle Entwicklung des Landes und gründete das Farah-Pahlavi-Stipendium, das iranischen Studierenden im In- und Ausland finanzielle Unterstützung während des Lernens bot. Sie spielte eine maßgebliche Rolle bei der Renovierung und Restaurierung historischer Gebäude, Paläste und Denkmäler. Darüber hinaus förderte die Kaiserin den interkulturellen Austausch, indem sie den künstlerischen Dialog und die Zusammenarbeit zwischen dem Iran und anderen Ländern unterstützte. Sie lud internationale Künstler und Persönlichkeiten zu eigens dafür organisierten Veranstaltungen im Iran ein und engagierte sich aktiv in internationalen kulturellen Einrichtungen. Dank all dieser Bemühungen blühte die Kultur des Iran auf.
In den vielen Stunden, die ich in der Untergrundszene verbrachte, führte ich mit Gleichgesinnten unzählige inspirierende Gespräche über die Macht der Kunst und insbesondere den Einfluss der weiblichen Stimme. Ich liebe den Vergleich mit der Geschichte von »Arielle, die Meerjungfrau«. Darin stiehlt die böse Ursula Arielle eines ihrer wertvollsten und schönsten Güter – ihre Stimme, um sich selbst damit zu rühmen und die Aufmerksamkeit des schönen Prinzen zu gewinnen. Es gelingt ihr, denn die weibliche Stimme kann verzaubern, sprachlos machen und in andere Welten entführen. Ist es das, wovor die Machthaber Angst haben? Frauen fühlen sich stark, wenn sie singen.
Nicht umsonst ist der weibliche Gesang so alt wie die Menschheit selbst. Frauen sangen bei der Arbeit – ob auf dem Feld, beim Weben von Textilien oder beim Stillen ihres Babys. Das Singen verleiht unglaubliche Kräfte, stärkt die eigene Präsenz und das Selbstbewusstsein. Es schenkt Mut sowie neue Hoffnung in schwierigen Zeiten und transportiert das Gefühl von Liebe und Zusammenhalt. Fürchtet das Mullah-Regime etwa bis heute diese kreatürliche Wucht der weiblichen Energie? Haben sie Angst vor der Power, die eine Frau entwickeln kann, wenn sie frei ist? Bangen sie etwa darum, ihre Machtstellung und die Kontrolle zu verlieren, sobald sie die unterdrückenden Gesetze ein wenig lockern? Insgeheim wussten wir alle die Antwort auf diese Fragen und schworen uns gegenseitig, für unsere Träume aufzustehen und die Musik trotz aller Hindernisse in die Welt hinauszutragen. Insgesamt blieb ich nur vier Semester am Konservatorium, die Ausbildung dort war qualitativ nicht besonders hochwertig, doch die Eindrücke und Freundschaften, die während dieser Zeit entstanden, trage ich bis an mein Lebensende im Herzen.
Das erste Bandangebot ließ nicht lange auf sich warten, nachdem meine Mitstudierenden mitbekamen, dass ich auf Arabisch performe. In dieser Sprache gibt es kaum Konkurrenz im Iran, und so wurde ich Teil der Ershan-Band, deren Lead Kaveh wie auch meine Eltern aus Chuzestan stammt. Unsere künstlerische Zusammenarbeit war beflügelnd, denn wir erarbeiteten Songs in vielen verschiedenen Dialekten aus unserer Heimat. Wir sangen auf Arabisch, Kurdisch, Lorī und Āzari, und es machte mich stolz, als Teil dieser Gruppe auf der Bühne zu stehen. Jeden unserer Auftritte – und davon gab es in meiner Bandzeit etliche – absolvierten wir so, als wäre es unser letztes Mal. Bei unserem diktatorischen Regime weiß man schließlich nie, was am nächsten Tag passiert. Ständig bestand die Gefahr, Geldbußen zu kassieren, ins Gefängnis zu kommen und mit Peitschenhieben bestraft zu werden. Bei öffentlichen Auftritten bedarf es einer offiziellen Genehmigung durch die Behörden. Deshalb mussten alle Auftritte und Konzerte unter einem Vorwand angemeldet werden. Alles bis hin zur Setliste musste offengelegt werden und wurde vorab strengstens kontrolliert. Wir gaben in unseren Unterlagen nur die männlichen Bandmitglieder an, um sicherzugehen, dass der Auftritt genehmigt wurde. Natürlich bin ich trotzdem aufgetreten und habe meine Solostücke zum Besten gegeben. Manchmal wurden die männlichen Stimmen einfach leiser gedreht, um meinem Gesang mehr Raum und Klang zu geben – je nach Situation reagierten wir mit neuen Tricks und Kniffen. Allem zum Trotz sangen und spielten wir leidenschaftlich, mit unglaublicher Inbrunst, und das Publikum feierte uns und honorierte unsere Hingabe auf der Bühne mit tosendem Beifall.
Später gründete ich zusammen mit meinem befreundeten Musiker Hasam Eldin Naseri und weiteren Mitgliedern die Band Novak Ensemble, mit der wir noch größere Erfolge feierten. Mit dieser neuen Combo fühlte sich alles professioneller an. Wir begannen damit, eigene Songs und später ganze Alben zu komponieren, nahmen sie professionell im Studio auf und spielten auf Festivals. Mit Erfolg!
Doch eines meiner persönlichen Highlights war unser Auftritt im Niavaran-Palast. Es war eine unglaubliche Ehre, an diesem historischen Ort auf der Bühne zu stehen, und so unglaublich, dass mir der Atem stockte, als ich die Bühne zum Soundcheck betrat. Konnte es wirklich wahr sein, würde ich heute Abend mit meiner Band tatsächlich auf dieser Bühne stehen und Songs in meiner Muttersprache performen? Tausend Gedanken schossen mir durch den Kopf, während ich hinunter zu meinen Füßen blickte, die die für mich schon beinahe heiligen Bretter berührten. Und plötzlich traf es mich wie ein Blitz. Da war er, dieser Traum, den ich als Kind unter Raketen- und Bombenanschlägen so häufig träumte. Ich sah mich – gehüllt in ein wunderschönes Gewand – auf solch einer bedeutenden Bühne. Es war zwar nicht die Teheraner Oper, denn das Opernhaus war nach der Revolution geschlossen worden, doch der Niavaran-Palast war für mich nicht weniger bedeutend. Er war einer dieser geschichtsträchtigen Orte, der symbolisch an die reiche, prächtige Kultur des Iran erinnerte. Früher diente der Palast als Sommerresidenz der Königsfamilie. Noch heute kann man hier die herrschaftlichen Innenräume voller kostbarer Kunstobjekte und Bilder bewundern. Auch Schahbanu Farah Pahlavi nächtigte hier einst. Allein dieser Gedanke verursachte mir Gänsehaut. Ich kniff die Augen fest zusammen, und prompt tauchten Bilder aus meinem Kindheitstraum auf. Ich betrete die Bühne, das Publikum klatscht, ein einziger Rausch. Ich beginne zu zittern, und mein Atem wird schneller. Ich schnappe nach Luft, verspüre einen Druck in der Magengegend. Bitte lass die Wände nicht zusammenbrechen, bitte lass es nicht geschehen. Bitte keine Bomben, bitte, bitte …
»Mina!«, reißt mich plötzlich eine Stimme aus meinem Tagtraum. Es ist mein Bandkollege, Hasam Eldin Naseri. Ich sehe sein grinsendes Gesicht vor mir:
»Alles in Ordnung? Dein Lampenfieber wird dich noch irgendwann umbringen. Mach dir keinen Kopf, es wird alles gut gehen heute Abend. Ich habe ein sehr gutes Gefühl.«
Mit diesen Worten verabschiedet sich Hasam von mir und läuft fröhlich pfeifend zur Bühnenmitte, um mit dem Soundcheck zu beginnen. Dieser Vorfall wird mir mein Leben lang in Erinnerung bleiben, denn an jenem Abend erfüllte sich tatsächlich mein lang gehegter Mädchentraum.
Aber auch eine weitere Sache wird mir ebenfalls bis an mein Lebensende erhalten bleiben: mein Lampenfieber. In den Momenten, wo es kaum auszuhalten ist, denke ich an meinen Vater. Er tut mir sehr leid, denn er hatte nie die Chance, seine Träume so zu leben, wie ich es heute tue. Stattdessen hat er schwer geschuftet, um unsere Familie durchzubringen, und doch bleibt er mein größter Unterstützer. Wenn ich Angst verspüre, denke ich immer an den Tag, an dem wir als Familie Karadsch verließen, um in die Heimat nach Abadan, zurück zu Papa, zu fliegen. Ich war fünfzehn, und es war der erste Flug meines Lebens. Die Propellermaschine war ohrenbetäubend laut, wackelte und machte mir unglaubliche Angst. Ich zitterte während des ganzen Fluges. Doch am Ende hat es sich gelohnt, die Furcht zu überwinden.
Seither ergaben sich noch viele Gelegenheiten, mich meiner Bühnenangst zu stellen und sie immer wieder aufs Neue zu überwinden.
Eines Tages erhielt ich einen Anruf von Yalda Yazdani. Es war im Jahr 2018. Zu dieser Zeit organisierte sie das Festival »Female Voice of Iran« in Berlin, das iranischen Frauen gewidmet war. Dabei wurden einige iranische Künstlerinnen aus den unterschiedlichsten Ecken des Iran in die deutsche Hauptstadt eingeladen, um dort mit in Deutschland lebenden iranischen Musikerinnen und Sängerinnen gemeinsam auf einer Bühne zu performen. Gemeinsam mit meiner Band durfte ich unseren Song »La La i« zum Besten geben. Ich werde nie vergessen, wie die Augen der anderen Musikerinnen leuchteten und wie viel Hoffnung in ihnen war. Für diese einzigartige Erfahrung werde ich ewig dankbar sein. Denn eines weiß ich, solange meine Stimme erklingt, werde ich diese einsetzen – für mich selbst und für all die anderen talentierten Frauen, die das repressive und gewalttätige Regime der Islamischen Republik verstummen ließ.
Eine Sängerin im Iran ist ständig großen Herausforderungen und Hürden ausgesetzt. Wenn dann noch eine Pandemie die Welt erschüttert, bleibt ihr nur der unbeirrbare Glaube an sich selbst. Das Schreckensjahr 2020 hat den Iran mit voller Wucht erwischt. Covid hat nicht nur – wie überall auf der Welt – die Kunst- und Kulturszene, sondern auch die normalen Bürger hart getroffen. Zusammen mit meiner Band Novak Ensemble waren wir gerade dabei, unser Album »Agitation« im Studio zu produzieren. Ich gab mich diesem Prozess mit ganzer Seele hin. Es machte unglaublich viel Spaß, die unterschiedlichsten Klänge, Sprachen und Stimmen zu einem Kunstwerk zu bündeln. Wir alberten herum und träumten davon, wie wir unsere Songs bei den Festivals im Sommer performen und mit unserer frischen Musik endlich die Livebühnen erobern würden. Doch das zunehmende Coronageschehen und die unzureichenden Informationen seitens der iranischen Regierung verunsicherten uns von Tag zu Tag. Im staatlichen Fernsehen oder anderen regierungstreuen Medien wurden nur die offiziellen Infektionszahlen genannt. Doch die viel zu niedrigen Zahlen ließen uns und viele unserer Bekannten und Freunde zweifeln.
In jeder Familie gab es mittlerweile mindestens einen Infizierten, der anschließend den Rest ansteckte. Wir hörten von den ersten Todesfällen aus unserem Umkreis, und schließlich erkrankte auch mein Bandkollege Hasam schwer an SARS-CoV-2. Im Gegensatz zu vielen anderen ließ er sich rechtzeitig testen und konnte entsprechende Maßnahmen ergreifen. Denn die bittere Wahrheit des Iran inmitten der Covid-19-Pandemie sah so aus, dass sich nur etwa zwei von zehn Iranern offiziell testen ließen. Tests waren teuer und für die geringverdienende Bevölkerung eine finanzielle Belastung. Außerdem waren sie nur in Krankenhäusern erhältlich, doch Zutritt bekamen nur diejenigen, die bereits dramatische Krankheitssymptome aufwiesen. Wurde man zur Behandlung zugelassen, wartete schon das nächste Problem. Der Aufenthalt im Krankenhaus war für die meisten Iranerinnen und Iraner nicht bezahlbar, und so starben viele Menschen unbehandelt in den Krankenhausfluren. Es gab lange Debatten und Einschränkungen der Regierung, die nicht zuließen, dass offizielle Impfstoffe amerikanischer oder englischer Hersteller importiert wurden. Doch selbst nachdem Coronaimpfungen angeboten wurden, lag der Preis bei 9 Millionen Toman. Das waren zu der Zeit umgerechnet circa 330 Euro.36 Dabei war das monatliche Gehalt von Geringverdienern im Schnitt gerade einmal die Hälfte. Doch das Absurdeste waren die widersprüchlichen Entscheidungen, die die iranische Regierung traf. Die einschränkenden Maßnahmen waren weder konsequent noch effektiv. Für die Feierlichkeiten anlässlich des Jahrestages der Islamischen Revolution am 12. März etwa entfielen jegliche Einschränkungen. Während ungefähr zur gleichen Zeit bei einem Fußballspiel im Stadion keine Zuschauer anwesend sein durften.37 Das Gleiche galt für Kunstschaffende und ihre Veranstaltungen. Diese durften ebenfalls nicht durchgeführt werden.
Ein endloser Schleier aus Trauer legte sich in dieser schweren Zeit über unsere Band. Trauer darüber, dass die Regierung nichts dafür tat, um die Menschen aufzuklären oder finanziell zu unterstützen, aber zugleich Verbote verteilte, wie es ihnen passte, ohne dabei die Menschen und deren teilweise tragische Schicksale zu berücksichtigen. Das Pandemiegeschehen hat einmal mehr zutage gebracht, was von der alten, patriarchalischen Klerikerregierung tatkräftig versucht wurde zu vertuschen: Sie waren noch nie in der Lage, ein Land zu regieren. Schon gar nicht während einer tiefen Krise.
Heute lebe ich in den USA. Kurz vor den Protesten nach dem schrecklichen Tod von Jina Mahsa Amini im Jahr 2022 wurde ich nach Boston eingeladen, um dort an der Boston University aufzutreten. In den USA war ich nicht allein, denn meine Musikerkollegin und gute Freundin Malihe befand sich zur selben Zeit ebenfalls im Lande. Wir waren selig, denn einmal in Amerika mit unserer Musik zu performen, war ein lang gehegter Traum. Alles verlief ganz wunderbar, doch in den Wochen während unserer Reise formierte sich die Frau, Leben, Freiheit-Revolution im Iran, und wir sangen uns bei den Protesten und Demonstrationen in den USA die Seele aus dem Leib, weil wir diesen unbändigen Kampfgeist und Mut auch hinter dem Großen Teich spürten und um jeden Preis unterstützen wollten. Malihe und ich sind stolz, dass wir unsere Stimmen für diese große, wichtige Bewegung erhoben haben, doch damit war uns der Weg zurück in unsere Heimat versperrt. Eine Rückkehr wäre lebensgefährlich. Die Sittenpolizei würde uns direkt ins Gefängnis abführen, und welche Grausamkeiten Menschen, die sich gegen das Regime auflehnen, dort zugefügt werden, weiß man mittlerweile aus der internationalen Presse. Zum zweiten Mal im Leben war ich gezwungen, loszulassen. Der Schmerz von damals, als Papa zurück nach Abadan ging, durchfuhr meinen Körper, als mir klar wurde, dass ich meine Familie für eine unbestimmte Zeit nicht sehen werde. Ich konnte mich nicht einmal ordentlich von ihnen verabschieden. Doch nicht nur meine Familie vermisse ich schmerzlich, sondern eine weitere Freundin, die mit uns gemeinsam in die USA gehen wollte. Es war ihr nicht gelungen, denn ihr herrschsüchtiger Exmann, der nach wie vor als ihr offizieller Vormund galt, weil er der Scheidung nicht zustimmen wollte, verbot ihr die Ausreise. Im Iran hat eine Frau kein Recht, innerhalb des Landes zu reisen geschweige denn die Grenze zu überqueren, ohne vorher die Erlaubnis ihres Vormunds zu erhalten. Männer sind berechtigt, über die Ausstellung eines Passes für ihre Frauen zu entscheiden. Wenn eine Frau Pech hat, lebt sie ihr Leben lang ohne Reisepass – vollkommen der Entscheidungsmacht ihres Mannes ausgeliefert.
Malihe und mir geht es den Umständen entsprechend gut. Hier in den Vereinigten Staaten haben wir bereits zahlreiche wundervolle Konzerte gegeben – in San Diego, in New York und demnächst auch hier in Los Angeles. Hier kann ich endlich ich selbst sein – eine Künstlerin, Sängerin und Musikerin mit Leib und Seele. Und das ohne Einschränkungen. Ich kann vor Menschen jeden Alters, jeden Geschlechts und jeder Ethnie singen, und mein Papa ist mein größter Fan. Jedes Mal, wenn ich heute in Panik verfalle oder Lampenfieber verspüre, denke ich an meinen Vater und diesen Flug zurück. Er gibt mir die Kraft und den nötigen Ansporn, mich meiner Angst und den Herausforderungen zu stellen – egal, ob im alltäglichen Leben oder auf meiner geliebten Bühne.
Ach ja, jetzt habe ich einen neuen Traum. Irgendwann komme ich zurück in meinen geliebten Iran und besuche in Teheran das Haus No. 4.38 Seit einigen Jahren hat sich dieses etwa hundert Jahre alte Gebäude zum Hauptquartier der Teheraner Underground-Künstlerbewegung entwickelt. Maler, Fotografen, Musiker, all die kreativen Köpfe der Stadt kommen in dieser kleinen Kunstoase inmitten von Hochhäusern und Neubauten zusammen und halten trotz aller Verbote der Regierung mutig die Kunst am Leben. Das macht mich stolz.
DISKRIMINIERUNG BEI DER BERUFSWAHL
Frauen werden auf dem iranischen Arbeitsmarkt gegenüber Männern massiv benachteiligt, was am lückenhaften Rechtssystem sowie an der systematischen Ungleichbehandlung von Frauen durch die Islamische Republik liegt. Dabei steigt die Zahl der Studienabsolventinnen im Land immer weiter. Im Iran liegt die Quote der weiblichen Studierenden bei 60 Prozent.39 Dies ist beachtlich, da die Zahlen genauso hoch wie in Europa sind. Dennoch machen Frauen laut jüngster offizieller Statistiken nur 14,9 Prozent (Stand: 201740) der Arbeitnehmer im Iran aus, wohingegen der Männeranteil bei 64,1 Prozent liegt.
Weibliche Mitarbeitende sind in den höheren Entscheidungsebenen des Landes nur begrenzt vertreten. Nach iranischem Recht müssen die Kandidaten etwa für das Präsidentenamt laut Verfassung Rajol-E-Siasi (رجل سیاسی); dt. »politische Männer«) sein. Doch auch hier gibt es eine alternative Übersetzung, die aber nicht angewandt wird. Viele interpretieren den Begriff lediglich als »politische Personen«.
Im Fall Mina wird explizit der Berufszweig Sängerin aufgegriffen. Seit der Revolution 1979 gab es massive Veränderungen in der Kulturszene des Iran. Zwar verbietet das islamisch-iranische Gesetz Frauen nicht, in der Öffentlichkeit zu singen. Jedoch werden Handlungen, die von der Regierung als haram41 angesehen werden, strafrechtlich verfolgt. Das öffentliche Frauensingen zählt zu solchen Handlungen. Frauen dürfen nicht allein vor anderen Männern auftreten. Mit bis zu zwei Monaten Gefängnis sowie 74 Stockschlägen42 kann solch ein Vergehen geahndet werden.
Am Beispiel von Shirin Ebadi wird dies besonders deutlich. Frau Ebadi ist Juristin und war die erste iranische Richterin sowie eine engagierte Menschenrechtsaktivistin. Als erste muslimische Frau erhielt sie 2003 den Friedensnobelpreis. Bis zur Revolution 1979 war sie vier Jahre lang Senatsvorsitzende am Teheraner Stadtgericht. Unmittelbar nach der Machtübernahme wurde ihr diese Position entzogen, denn eine Frau darf unter dem Mullah-Regime nicht als Richterin tätig sein. Daraufhin war sie gezwungen, eine Tätigkeit als Gerichtssekretärin aufzunehmen.
Am 25. März 2023 wurde Nadia Kahf im US-Bundesstaat New Jersey zur ersten Richterin mit Kopftuch in diesem Bundesstaat befördert. Bei ihrem Amtsantritt schwor sie auf den Koran und bemerkte dabei unter anderem richtigerweise: »Vielfalt ist unsere Stärke, nicht unsere Schwäche.«43 Wenn die Islamische Republik im Iran es jedoch aufgrund ihrer Interpretation der Scharia den Frauen verbietet, als Richterin tätig zu sein, wie paradox ist demnach die Tatsache, dass eine gläubige und praktizierende Muslimin diesen Posten in einem anderen Land dennoch ausübt?
Dieser Fall zeigt deutlich, dass eine praktizierende Muslimin durchaus das Amt eines Richters ausüben kann, weil der Koran diverse Interpretationsmöglichkeiten bietet. Einige Rechtsschulen argumentieren, dass Frauen als Richterinnen fungieren können, solange bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind, während andere Schulen dies ablehnen.
REISERECHT
Der Großteil iranischer Firmen stellt ungern Frauen ein. Gerade bei Berufen, in denen man viel außerhalb des Büros arbeitet, auf Kundenbesuchen ist oder ins Ausland reisen muss, besteht die Gefahr, dass der männliche Vormund der Arbeitnehmerin es ihr verbietet, da das gesetzlich gestützt und erlaubt ist. Im Iran entscheiden Männer, wann ihre Frau innerhalb des Landes reisen oder das Land verlassen darf. Ebenso entscheiden sie darüber, ob ihre Frau einen Reisepass besitzen darf. Für Arbeitgeber besteht somit ein hohes Risiko von Ausfällen durch Arbeitsunfähigkeit, wenn sie Frauen einstellen.
Grundsätzlich sehen sich die meisten iranischen Frauen im Arbeitsalltag mit Diskriminierung und Unterdrückung konfrontiert. Auch wenn das iranische Arbeitsrecht einige Sonderrechte für Frauen vorsieht, halten sich die Regierung und die meisten Arbeitgeber kaum daran. Frauen werden – selbst während der Schwangerschaft – zu körperlich schweren Arbeiten sowie Schichtarbeit genötigt, obwohl das iranische Arbeitsrecht dies untersagt. Diese Frauen werden von regimehörigen Arbeitgebern durch Androhungen von Kündigung klein- und ruhiggehalten. Viele Frauen nehmen solch einen ungerechten Umgang in Kauf, da sie auf das Geld angewiesen sind, um ihre Familie finanziell zu unterstützen. Mehr als 85 Prozent44 der iranischen Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze.
26 »Als es in Teheran noch Oper gab« – Akbarzadeh, Pejman/Steiner, Iris, Orpheus Magazin, Ausgabe Juli/August 2021, URL: www.orpheus-magazin.de/2021/06/30/als-es-in-teheran-noch-oper-gab, Stand: 28.07.2023.
27 Imam: islamischer Geistlicher oder Schriftgelehrter.
28 Wikipedia, Erster Golfkrieg, vom 21.01.2023, URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Erster_Golfkrieg#St%C3%A4dtekrieg, Stand: 09.05.2023.
29 »Vor 40 Jahren begann der erste Golfkrieg« – Otto Langels, veröffentlicht am 22.09.2020, URL: www.deutschlandfunk.de/irak-iran-konflikt-vor-40-jahren-begann-der-erste-golfkrieg-100.html, Stand: 12.05.2023.
30 »Dürre und Durst treiben die Iraner in Khuzestan auf die Straßen« – Inga Rogg, veröffentlicht am 21.07.2021, URL: https://www.nzz.ch/international/iran-mehrere-tote-bei-protesten-gegen-wasserknappheit-ld.1636757, Stand: 28.07.2023.
31 »Erster Golfkrieg« – Wikipedia, veröffentlicht am 05.06.2023, URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Erster_Golfkrieg, Stand: 06.06.2023.
32 »Das Schulsystem im Iran von Mai 2020« – veröffentlicht im Mai 2020, URL: www.ecoi.net/en/file/local/2030055/Schulsystem+Iran_Mai+2020.pdf, Stand: 28.07.2023.
33 »Zarathustra hat uns gelehrt, niemanden nach seiner Religion zu fragen« – Sven Weniger, Michael Marek, veröffentlicht am 29.01.2019, URL: https://www.deutschlandfunk.de/zoroastrische-glaubensgemeinschaft-zarathustra-hat-uns-100.html, Stand: 09.06.2023.
34 »Yazd – eine Stadt aus Lehmziegeln erbaut«, URL: www.sachmet.ch/sachmet/bildergalerie/iran-persien-achaemeniden-sassaniden-islam/yazd-eine-stadt-aus-lehmziegeln-erbaut/, Stand: 07.06.2023.
35 Ghamar, die erste iranische Sängerin, die 1924 mit ihrem ersten Konzert dem damaligen Gesangsverbot für Frauen im Iran ein Ende setzte, indem sie das Tabu brach, vor Männern und ohne Kopftuch zu singen.
36 »Ein Jahr Corona im Iran – Fake News im Land der Mullahs« – Karolina Hoschbacht, veröffentlicht am 09.02.2021, URL: www.deutschlandfunkkultur.de/ein-jahr-corona-im-iran-fake-news-im-land-der-mullahs-100.html, Stand: 27.07.2023.
37 »Der Iran bekommt die Pandemie nicht in den Griff« – Armin Loghmani, veröffentlicht am 12.02.2022, URL: www.derstandard.de/story/2000133304372/der-iran-bekommt-die-pandemie-nicht-in-den-griff, Stand: 27.07.2023.
38 »Mal im Hintergrund, mal legal« – veröffentlicht am 12.01.2019, URL: https://iranjournal.org/gesellschaft/house-no-4-tehran, Stand: 07.06.2023.
39 »Gefangene Freigeister: Frauen im Iran« – Can Yildiz, veröffentlicht am 10.01.2018, URL: https://www.treffpunkteuropa.de/gefangene-freigeister-frauen-im-iran?lang=fr, Stand: 27.07.2023.
40 »Iran: Diskriminierung von Frauen am Arbeitsplatz – benachteiligende Gesetze und Praktiken« – veröffentlicht am 25.05.2017, URL: https://www.hrw.org/de/news/2017/05/25/iran-diskriminierung-von-frauen-am-arbeitsplatz, Stand: 27.07.2023.
41 Nach islamischem Glauben verboten.
42 »Singende Versuchung« – Nicole Tomasek, veröffentlicht am 30.05.2019, URL: https://jungle.world/artikel/2019/22/singende-versuchung, Stand: 27.07.2023.
43 »Nadia Kahf wurde zur ersten Richterin mit Kopftuch ernannt« – ohne Datum, URL: www.islamiq.de/2023/03/25/nadia-kahf-wurde-zur-ersten-richterin-mit-kopftuch-ernannt/, Stand: 27.07.2023.
44 »Iran labor law not implemented for female workers« – veröffentlicht am 20.01.2022, URL: https://women.ncr-iran.org/2022/01/20/iran-labor-law-not-implemented-for-female-workers/, Stand: 29.05.2023.