Noch einmal röhrt der Motor auf, die Krähen krächzen … Ich fuhr hoch und schlug dabei um mich, sodass ich beinahe durch die offene Heutür stürzte. Keuchend kroch ich auf allen vieren ein Stück zurück und riss mir dabei Splitter in die Handballen. Die Luft war von einem dumpfen Grollen erfüllt, wie Donner, nur viel lauter. Verwirrt krabbelte ich wieder vor, spähte nach draußen und erschrak zum zweiten Mal an diesem Tag fast zu Tode.
»Hey, Killer!« Karl Dekker fläzte sich in schwarzer Lederkluft und ebenso schwarzen Doc Martens auf seinem Motorrad. An seiner Unterlippe klebte eine Kippe, um den Kopf hatte er ein schwarzrotes Piratentuch geschlungen. Er sah noch genauso aus wie vor einem Jahr, als er von der Schule abgegangen war: hinterhältig und durchtrainiert, ein Fiesling mit muskelbepackten Armen von der Arbeit in der Fabrik.
Karl Dekker ist schon als Arschloch auf die Welt gekommen, da bin ich sicher. Seit Onkel Hank die illegale Autowerkstatt von seinem Vater auffliegen ließ, hat Karl es auf mich abgesehen. Beim ersten Mal waren wir in der dritten Klasse, und Dekkers Vater wanderte ein Dreivierteljahr in den Knast. Ich weiß noch, dass ich damals irgendwie ein schlechtes Gewissen hatte. Eines Nachmittags wollte ich Karl auf dem Spielplatz erklären, dass ich nichts dafür konnte. Ich wachte in der Notaufnahme wieder auf, mit einer frisch genähten Platzwunde am Kopf und einer in Tränen aufgelösten Tante Jean an meinem Bett.
Irgendwann trieb Dekkers Vater es dann zu weit – mit der Autowerkstatt versuchte er es insgesamt drei Mal, aber das meine ich jetzt nicht. Er war betrunken und verprügelte Karl. Danach schickte das Jugendamt Karl eine Zeit lang ins Heim. Karl gab mir auch dafür die Schuld.
Dabei war ich nicht der Einzige, der auf seiner schwarzen Liste stand. Als sich der alte Dekker vorletztes Jahr allmählich wieder berappelte, kam Karl vorübergehend zu den Schoenbergs. Das war Pfarrer Schoenbergs Idee gewesen. Vielleicht hatten Karl und Sarah ja auch was miteinander, keine Ahnung. Jedenfalls bekam Karl auch dort Ärger und wurde wieder mal rausgeworfen.
Natürlich war er nicht allein hergekommen. Er hatte wie immer Verstärkung dabei: zwei andere Typen, genau solche Arschlöcher wie er. Die beiden hockten ebenfalls auf ihren Motorrädern und blinzelten durch den Zigarettenqualm zu mir hoch. Ich kannte sie nicht, was auch daran lag, dass sie so gleich aussahen. Dekker war Dekker, den konnte man mit niemandem verwechseln. Die beiden anderen hätten Crabbe und Goyle sein können oder meinetwegen Athos und Porthos – du weißt schon, was ich meine. Dekker war der Einzige von den dreien, auf den es ankam.
»Wollte doch mal sehen, was du handwerklich draufhast.« Dekker schwang sich aus dem Sattel. »Nicht schlecht, Killer. Das haste echt gut hingekriegt.«
Crabbe und Goyle kicherten, ihre Mäuler standen offen wie bei hechelnden Hunden. »Komm runter, Cage«, sagte Dekker. »Oder haste Schiss?«
Allerdings. Ich schluckte, als mir bewusst wurde, wie weit weg die Stadt war, dass ich nur halb angezogen und völlig wehrlos war. »Ich hab grad Pause gemacht«, sagte ich, als hätte sich die Sache damit erledigt. Dekker trat gegen den Abbeizerkanister, und ich mahnte blöderweise: »He, pass auf mit dem Ding. Da ist Säure drin.«
»Uuuuuh!« Dekker schüttelte sich übertrieben. »Glaubst du, ich häng meinen Schwanz da rein oder was? Obwohl …« Er steckte die Finger durch den Griff und ließ den Kanister hin und her schaukeln. »Stell dir mal vor, das Ding rutscht mir aus der Hand … oder ich trete aus Versehen gegen das Gerüst, und es kracht zusammen …«
»Was willst du von mir?«
Er bleckte die Zähne. »Was mit dir besprechen, Killer.«
»Du sollst mich nicht so nennen.«
»Du sollst mich nicht so nennen«, äffte er mich nach. »Kommst du jetzt runter oder muss ich hochkommen?«
Was blieb mir anderes übrig? Ich hob mein zerknülltes T-Shirt auf und zog es über. Es war durchgeschwitzt und klamm, und ich fröstelte. Wohl oder übel musste ich den dreien beim Runterklettern den Rücken zudrehen. Ich machte mich darauf gefasst, dass das Gerüst einstürzen würde, aber ich kam heil unten an. Ich drehte mich um, verschränkte die Arme und fragte: »Also, was ist?«
»Ich muss mir dir über deinen Onkel reden.« Dekker hatte von der Arbeit noch Ruß im Gesicht, und seine Fingernägel waren eingerissen.
»Soll ich dir sagen, was er jetzt wieder für’n Scheiß gemacht hat?« Dekker beugte sich vor. Sein Atem stank nach Qualm. »Er ist bei meinem Alten aufgekreuzt. Hat behauptet, dass eigentlich ich die Schmiererei da wieder wegmachen müsste …«, er zeigte mit dem Daumen über die Schulter, »… dass ich dich nachgemalt hätte, weil ich mich an ihm rächen will.«
Erstaunlicherweise bekam ich sofort wieder ein schlechtes Gewissen – und Dekker tat mir sogar ein bisschen leid. Wie gesagt, er war ein Arsch und hatte das, was ihm schon alles passiert war, höchstwahrscheinlich verdient. Aber, na ja … das Gleiche konnte man von mir wahrscheinlich auch sagen.
»Tut mir leid.« Mehr fiel mir nicht ein. Ich konnte schließlich nicht rückgängig machen, was Onkel Hank getan hatte. »Das war unfair.«
Dekker stieß mir den Zeigefinger vor die Brust. »Unfair? Dein Onkel kreuzt jedes Mal bei meinem Alten auf, wenn’s in dieser Stadt irgendwelchen Ärger gibt.«
Auch darauf fiel mir keine Erwiderung ein.
»Und weißt du, was mich am meisten ankotzt?« Er piekte mich noch mal vor die Brust. »Dass du immer davonkommst! Okay, Miss Stefancyzk hat selber den Kopf in die Schlinge gesteckt, aber wer hat sie dazu gebracht? Wer hat sie damals verflucht, hä?«
Ich wusste, worauf er hinauswollte – auf das, was alle in dieser miesen kleinen Stadt dachten und worüber sie hinter meinem Rücken redeten. Es war immer dasselbe.
»Und als deine Tante ’nen Abgang gemacht hat, was glaubst du, wer da gleich in Dads Werkstatt gerannt ist? Dein Onkel! Er hat Dad lauter Sachen angehängt, die irgendwelche Besoffenen angestellt haben. Das waren angeblich alles mein Vater oder seine Kumpels. Und dann wurde Dad verknackt, dabei war an den Anschuldigungen nichts dran, alles erstunken und erlogen!«
»Ich war damals noch klein.« Ärgerlicherweise klang das, als wäre ich immer noch klein. »Ich hatte damit nichts zu tun.«
»Klein, von wegen.« Dekker verzog das Gesicht. »Ich war damals auch noch klein. Aber rate mal, wer von uns beiden das Ganze ausbaden musste? Wer von uns beiden musste denn ins Heim, hä? Du schon mal nicht. Dabei weiß jeder, was damals passiert ist! Würde mich nicht wundern, wenn du auch deine Tante umgebracht hättest. Ich wette, sie hat eins von deinen Bildern gesehen. Das hat sie nicht ausgehalten, und dann hat sie …«
Weiter kam er nicht, weil ich ihm in die Fresse schlug.