IX

Montag.

Ich war den ersten Tag wieder in der Schule. Eigentlich war alles wie immer. Ich wurde nur noch öfter als sonst komisch angeglotzt, wegen der Naht am Kopf und meinen zugepflasterten Armen.

In der Mittagspause entdeckte ich Sarah an einem Tisch mit ihren Freundinnen. Die Freundinnen drehten sich nach mir um, und das übliche Gekicher und Getuschel ging los. Als Sarah mich sah, machte sie ein erschrockenes Gesicht und hob grüßend die Hand, ließ sie aber auf halber Strecke wieder sinken, als wäre ihr gerade aufgefallen, was sie tat.

Ich ging in den Kunstraum. Ich aß schon lange nicht mehr in der Schulkantine. Wir durften auch in den Klassenräumen essen, wenn wir noch etwas zu tun hatten, und ich verbrachte meine Mittagspause schon seit der Neunten im Kunstraum.

Ich wickelte mein Brot aus. Großen Appetit hatte ich nicht. Genau genommen hatte ich seit den Schoko Smacks am letzten Donnerstag kaum etwas gegessen. Mich beschäftigte die ganze Zeit, was eigentlich mit mir los war – ob ich womöglich verrückt war. Dann spürte ich immer eine Beklemmung, als hätte ich ein straff gezogenes Gummiband um die Rippen. So hatte ich mich seit Tante Jeans Tod nicht mehr gefühlt. Was mir Sarah alles über Geisteskrankheiten erzählt hatte, machte mir Angst. Ich wusste eigentlich nur, dass Geisteskranke oft versuchten, sich selbst oder andere Leute umzubringen. Und dass sie pfundweise Pillen schlucken mussten, die fiese Nebenwirkungen hatten und von denen man dick und zittrig wurde. Diejenigen, die keine Medikamente nahmen, führten Selbstgespräche, hatten Läuse, schlurften in den Großstädten mit Einkaufswagen voller Müll durch die Straßen und schliefen auf Parkbänken.

Wenn ich tatsächlich geisteskrank war … war es dann nicht besser, auf die andere Seite zu verschwinden? Selbst wenn ich meine Eltern nicht wiederfand – war es nicht viel besser, von einem Ungeheuer gefressen zu werden, als den Rest seines Lebens an einer Straßenecke zu hocken und mit einem Starbucks-Becher um Kleingeld zu betteln? Wischten sich Obdachlose überhaupt den Hintern ab, wenn sie gekackt hatten? Wenn sie doch nirgendwo hinkonnten, wie sollte das dann gehen? Mit alten Zeitungen oder mit den bloßen Händen oder wie?

Ich konnte nicht mal an Moms Porträt weiterarbeiten. Es ging einfach nicht.

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Das Seniorenheim hieß Espenwald und lag acht Meilen außerhalb der Stadt. Ich war schon oft mit dem Fahrrad in der Gegend gewesen. In der Nähe ist ein Waldstück mit hohen Kiefern. Angeblich wurden die Bäume gepflanzt, als unsere Stadt noch ganz groß im Schiffsbaugeschäft war. Es sind Weymouth-Kiefern, die sehr gerade wachsen, und die Stämme eignen sich gut als Schiffsmasten.

Ich fand, der Kiefernwald hatte etwas wunderbar Friedliches, darum zog es mich immer wieder dorthin. Manchmal radelte ich mitten hinein, legte mich auf ein Bett aus weichen Nadeln und schaute einfach nur in das grüne Dach über mir. Ich mochte den würzigen Harzgeruch, und die abgefallenen Nadeln dämpften alle Geräusche. Unter den Bäumen war es dämmrig und immer fünf Grad kühler als auf freiem Gelände. Der Kiefernwald war für mich ein Ort der Stille, als ob dort etwas schlummerte oder so ähnlich … besser kann ich’s nicht erklären.

Das Heim lag westlich davon, und obwohl ich schon öfters an der Einfahrt vorbeigeradelt war, war ich noch nie oben am Haus gewesen. Ich fahre viel Rad, aber an diesem Montag waren meine Beine schwer wie Blei. Ich hatte überhaupt keine Lust auf die blöden Sozialstunden.

Das Gebäude war wie ein X angelegt und erinnerte von außen an einen Flughafen. Der Eingangsbereich hingegen war gestaltet wie eine Berghütte. Die Möbel waren eine Mischung aus Zahnarzt-Wartezimmer und Hotel: Sofas aus glänzendem Kunstleder, fette Polstersessel und niedrige Couchtische, auf denen zerlesene Zeitschriften lagen. An einer Wand hing ein riesiger Flachbildfernseher.

Die Frau am Empfang schickte mich zur Personalchefin, einer strengen älteren Dame mit grauer Hochsteckfrisur. Mrs Krauss schien verwundert, dass ich überhaupt erschien. Sie musterte mich über ihr schwarzes Katzenaugen-Brillengestell hinweg von oben bis unten. »Du bist zehn Minuten zu spät.« Als ich ihr erklären wollte, dass ich direkt von der Schule kam und den langen Weg mit dem Fahrrad zurückgelegt hatte, würgte sie mich mit einer ungeduldigen Handbewegung ab und griff nach einem Aktenordner. Sie stellte mir lauter Fragen und guckte noch verbiesterter, als sie feststellen musste, dass ich nicht mal Ahnung von Erster Hilfe hatte. Sie schnalzte missbilligend mit der Zunge, griff zum Telefon und meldete mich für einen Kurs in der nächsten Stadt an. (Der Kurs fand an den nächsten beiden Samstagnachmittagen statt. Toll.)

Dann faltete Mrs Krauss die Hände über dem Ordner und blickte mich durchdringend an. Ihre Augen waren grau wie Schrotkugeln. »Offen gestanden habe ich mich nicht darum gerissen, Sie aufzunehmen, Mr Cage. Hier in Espenwald sind wir stolz auf unsere Arbeit. Wir kümmern uns um bedürftige Senioren, und zwar nicht nur rein pflegerisch, wir ersetzen ihnen auch die Familie. Das betrachten wir zugleich als unsere Christenpflicht. Ich habe Ihrem Einsatz nur deshalb zugestimmt, weil Sie der Neffe vom Sheriff sind. Ich werde Sie auf jeden Fall im Auge behalten. Ihre Vorgesetzte wird Ihnen Ihre Aufgaben zuweisen, sie ist auch Ihre direkte Ansprechpartnerin. Jede Abweichung von Ihrem Arbeitsplan muss aber von mir persönlich abgesegnet werden, haben wir uns da verstanden? Abgesehen davon ist es Ihnen nicht gestattet, sich über Ihre Pflichten hinaus mit unseren Bewohnern zu beschäftigen. Viele leiden an Demenz. Sie regen sich leicht auf, und dazu sollen Sie nicht auch noch beitragen.«

Sie musste Luft holen. Ich nutzte die Gelegenheit, um einzuwerfen: »Wieso sollte ich Ihre Bewohner aufregen?«

Sie kniff die Augen zusammen. »Nichts für ungut, Mr Cage, aber ich wohne schon mein ganzes Leben in Winter. Ich weiß über Sie Bescheid.«

Mir schoss das Blut ins Gesicht. »Sie brauchen sich wegen mir keine Sorgen zu machen.«

»Hoffentlich nicht.« Sie hob den Zeigefinger. »Der kleinste Verstoß gegen die Vorschriften – und ich wende mich ans Gericht und breche die Maßnahme ab. Ist das klar?«

»Sonnenklar«, antwortete ich.

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»Hast du schon Erfahrung im Umgang mit alten Menschen?« Peggy McClellan war eine hagere, grobknochige Frau mit Hamsterbacken und weißblond gefärbter Dauerwelle. Ich war Mrs Krauss durch den Eingangsbereich und eine Doppeltür gefolgt, dann waren wir durch einen überdachten Gang in das nächste Gebäude gelaufen, das Haus Seeblick hieß. Dort hatte Mrs Krauss mich bei Peggy abgeliefert – einigermaßen erleichtert, wie mir schien. Ein unerfreulicher Punkt auf ihrer Aufgabenliste war abgehakt.

»Nein.«

»Wie sieht’s mit Großeltern aus?« Als ich den Kopf schüttelte, seufzte sie. »Schade. Also – um die Abendbrotzeit ist es hier immer ziemlich hektisch, aber eigentlich kannst du gleich mitmachen.«

»Abendbrot? Es ist doch erst fünf.«

»Unsere Bewohner essen früh. Und bis wir durch sind, ist es halb sieben oder sieben. Nach dem Abendessen findet noch ein letztes Angebot statt. Ich glaube, heute ist Malen dran, da kannst du auch noch helfen. Jetzt müssen wir aber los! Alles andere erkläre ich dir unterwegs.«

Wir liefen einen langen Flur entlang, von dem links und rechts lauter Türen abgingen. Neben den Türen waren Namensschilder angebracht. Kein Zimmer schien leer zu stehen. An jedem Flurende hing eine große Wanduhr mit Datumsanzeige. Es roch nach Desinfektionsmittel, Rührei und gekochtem Reis.

»Wir sind hier im Flügel für Betreutes Wohnen«, erklärte Peggy. »Hier sind ungefähr sechzig Bewohner untergebracht. Die meisten leiden an leichten oder mittelschweren Formen von Demenz und Alzheimer. Das heißt, sie kommen noch einigermaßen zurecht, aber sie dürfen das Gebäude nicht verlassen. Deswegen ist unser Hof auch eingezäunt, damit niemand verloren geht. Der Älteste ist einundneunzig, und ich lege die Hand dafür ins Feuer, dass er bis Thanksgiving umgezogen ist. Wenn jemand seine Gabel anschaut, als hätte er so einen Gegenstand noch nie gesehen, dann macht er’s hier nicht mehr lange.«

»Wohin ziehen die Leute denn dann um?«

»Nach nebenan. In die Intensivpflege. Da kommen die meisten nur mit den Füßen voran wieder raus, wenn du verstehst, was ich meine. Du bekommst übrigens von uns einen Kartenschlüssel, dann brauchst du nicht jedes Mal zu mir zu kommen, wenn du von einem Haus ins andere musst.«

»Sehr gut«, sagte ich. Wenigstens Peggy schien mir halbwegs zu vertrauen.

»Eins noch. Manche Demenzpatienten sind ziemlich unberechenbar. Einige werden richtig boshaft. Frag mich nicht, ob das von der Demenz kommt oder ob sie schon früher so waren. Wir hatten mal einen alten Herrn hier, der hat mich immer gekniffen, aber nicht, weil er mit mir schäkern wollte. Nein, er wollte mir richtig weh tun, weil er wütend auf seine Familie und die ganze Welt war. Er hatte einen Schlaganfall und musste gefüttert werden. Er brauchte auch Hilfe beim Anziehen und beim Toilettengang. Dafür wollte er sich rächen. Schließlich ist er nach nebenan gekommen. Als er starb, habe ich ihm keine Träne nachgeweint. Aber ich habe ihn immer respektvoll behandelt. Respekt ist das Allerwichtigste. Ansonsten gilt: Was auch passiert – ruhig bleiben.«

»Verstanden.« Ich musste an Dekker denken: Ruhig bleiben, kapiert! »Und das hier sind die Zimmer der Bewohner?«

»Richtig.« Peggy zeigte mit dem Daumen über die Schulter. »Da hinten sind der Speisesaal, der Gemeinschaftsraum und die Gemeinschaftsküche für diejenigen Bewohner, die noch in der Lage sind, sich in der Mikrowelle Popcorn zu machen oder Plätzchen zu backen, ohne gleich die ganze Bude abzufackeln.«

»Aha.«

»Das ist trotzdem schon ein, zwei Mal vorgekommen. Im Gemeinschaftsraum finden auch die Angebote statt: Malen, Yoga, Tanzen, Spieleabende und Filme. Sonntags kommt immer einer von den evangelischen Pfarrern aus der Stadt, und ein katholischer Priester liest die Messe. So!« Sie straffte sich, als ginge es in die Schlacht. »Jetzt müssen wir erst mal dafür sorgen, dass alle in den Speisesaal kommen, entweder selbstständig oder wir bringen sie hin. Beim Essen passen dann Kollegen auf. Wir beide gehen nach nebenan in die Pflege und helfen dort beim Abendbrot.«

»Sie meinen, wir füttern die alten Leute?«

Ein prüfender Blick. »Hast du damit ein Problem?«

»Nein. Ich … ich hab so was bloß noch nie gemacht.«

»Tja, es gibt immer ein erstes Mal. Du wirst hier einiges zu tun bekommen, was du noch nie gemacht hast.«

Inzwischen hatten sich ein paar Bewohner von allein auf den Weg zum Speisesaal gemacht. Ich war noch nie so uralten Menschen begegnet und fand es irgendwie gruselig, wie sie aus ihren Zimmern geschlichen kamen. Ich musste an Vampire denken, die um Mitternacht ihre Särge verlassen, oder an Zombies. Viele wackelten an Rollatoren oder Gehhilfen den Flur entlang. Andere schlurften oder trippelten unsicher und schauten dabei die ganze Zeit auf ihre Füße. Kaum einer sagte etwas, weil sie sich ganz aufs Gehen konzentrieren mussten. Ein paar von den Frauen trugen geblümte Kleider und einige Männer waren im Anzug, als wollten sie ins Restaurant. Das fand ich irgendwie … traurig.

Peggy verpasste mir einen Blitzkurs im Umgang mit Rollstühlen. Sie zeigte mir, wie man die Bremsen festmacht und die Fußstützen hoch- und runterstellt. Dann klopften wir nacheinander an die Türen, holten die Leute ab und brachten sie in den großen Speisesaal. Dort gab es Zweier- und Vierertische. Die meisten Bewohner stellten sich brav in die Schlange, wo ihnen Frauen mit Haarnetzen Kartoffelbrei und Hackbratenscheiben aus Wärmebehältern auf die Teller klatschten. Es war wie in der Schulkantine. Wer nicht so lange stehen konnte, bekam seinen Teller an den Tisch gebracht.

Als ich eine alte Dame namens Lucy an einen Vierertisch schob, sagte sie plötzlich: »Herrje, ich glaub, ich hab mein Portemonnaie im Zimmer vergessen.« Ihr Gesicht war schrumplig wie eine Rosine und sie hatte trübe, wässrig blaue Augen. »Kann ich Ihnen das Trinkgeld auch morgen geben, junger Mann?«

»Kein Problem«, antwortete ich.

Ihre Tischnachbarin mit den rot gefärbten Haaren meinte nur: »Hören Sie gar nicht darauf. Das sagt sie zu allen Neuen. Nach ein paar Tagen lässt sie es bleiben. Aber verraten Sie es Peggy nicht! Sonst kommt Lucy in die Pflege, und dort geht sie ein wie eine Primel. Außerdem brauchen wir sie hier beim Bridge, solange sie noch halbwegs bei Verstand ist.« Zu Lucy sagte sie: »Ich erledige das schon, Schätzchen.«

»Aber gib ihm ein schönes Trinkgeld, ja? Meinst du, ein Dollar ist angemessen?«

»Wird gemacht.« Die Rotgefärbte tätschelte Lucy die Hand, und eine Angestellte schob ihr den Teller hin. »Heute gibt’s Hackbraten mit Kartoffelbrei und grünen Bohnen.«

»Mein Leibgericht!« Lucy strahlte mich an. »Das Geheimnis einer guten Tomatensoße sind Zucker und eine Prise Safran. Das mildert die Säure.«

»Stimmt«, bestätigte ich.

»Essen Sie auch so gern Hackbraten?«

»Ja.«

»Wollen Sie sich dann nicht zu uns setzen?«

»Das geht nicht, Schätzchen.« Die Rotgefärbte nahm sich ein Brötchen aus dem Korb, drehte es hin und her, legte es wieder zurück, nahm sich ein anderes und sagte dann: »Er muss sich doch auch um die anderen Gäste kümmern.«

»Wie schade«, befand Lucy.

»Christian!« Peggy stand in der Tür und winkte mir.

»Ich muss leider los«, verabschiedete ich mich von Lucy. »Vielleicht ein andermal.«

Ich hörte sie noch sagen: »Was für ein reizender junger Mann! Beim nächsten Mal gibst du ihm bitte zwei Dollar, Regina.«

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Nach dem relativen Trubel im Haus Seeblick – man blickte übrigens tatsächlich auf den See, auch wenn es ein künstlich angelegter Teich war und kaum größer als ein Planschbecken – wirkte die Pflegestation auf mich wie ein richtiges Krankenhaus: Schwestern in weißen Kitteln saßen hinter einem hufeisenförmigen Tisch mit Computerbildschirmen. Dahinter standen verglaste Schränke voller Medikamente. An dem Tisch saß auch eine hübsche Frau mit schulterlangem kastanienbraunen Haar und dunklen Mandelaugen. Caravaggio, dachte ich. Die Dunkelhaarige telefonierte und schrieb mit, aber sie blickte hoch und lächelte uns an, als wir vorbeigingen.

»Wer war das?«, fragte ich Peggy.

»Die diensthabende Ärztin. Sie wechselt sich mit zwei anderen Kollegen aus der Stadt ab. Normalerweise macht sie abends die Runde, wenn ihre eigene Praxis geschlossen hat, oder ganz frühmorgens. Wenn wir sie nachts brauchen, rufen wir an.«

»Kommt das oft vor?«

»Manchmal öfter, als uns lieb ist. Im Notfall können wir den Patienten reanimieren und stabilisieren, aber wenn es Komplikationen gibt – wenn jemand zum Beispiel operiert werden muss –, dann wird der- oder diejenige ins Krankenhaus in Ashbury gebracht. Manche kommen wieder hierher zurück, manche nicht. Die meisten schon. Wir sind auch ein anerkanntes Hospiz.«

»Wie? Die Leute … sterben hier?«

Peggys Blick sprach Bände. BLITZMERKER! »Ob du’s glaubst oder nicht, hier zu sterben ist besser als im Krankenhaus. Wenn es bei mir mal so weit ist, möchte ich natürlich am liebsten zu Hause in meinem eigenen Bett sterben. Wenn das aber nicht geht, wäre ich gern irgendwo, wo ich nach draußen schauen und Wasser und Bäume sehen kann. Wo ich meine eigenen Sachen im Zimmer habe. Es gibt Schlimmeres, als hier bei uns zu sterben.«

Die Abteilung war groß und im Viereck um das Schwesternzimmer herum angelegt. Laut Peggy gab es ungefähr hundert Patienten. Es war auch viel stiller hier, man sprach unwillkürlich leiser. Nur ab und zu hörte man aus dem einen oder anderen Zimmer irgendwelche Apparate piepsen. Viele Bewohner trugen Krankenhaushemden und lagen in vergitterten Krankenhausbetten. Es roch auch anders: nach Desinfektionsmittel wie im Nebengebäude, aber außerdem durchdringend nach alten Leuten. Ich meine, nach Windeln. Die Bewohner waren nicht unbedingt älter als die nebenan, aber viel gebrechlicher, mit dürren Ärmchen und lappiger Haut. Viele waren an ihren Rollstühlen oder auf den Sesseln neben ihren Betten mit einer Art Schlinge festgebunden, die Peggy »Fixierung« nannte. Einige saßen auch im Gemeinschaftsbereich, wo in einer Ecke der Fernseher vor sich hinquasselte. Als wir auf dem Weg in die Küche dort vorbeigingen, drehten sich ein paar von den Alten nach uns um. Ihre Gesichter waren ausdruckslos und irgendwie formlos – so wie wenn ich etwas aus Ton modelliert habe, das nicht gelungen ist, und ich alle Details mit der Schlinge abschäle, bis der Klumpen wieder einigermaßen glatt ist.

Peggy holte einen großen Metallwagen, wie man sie manchmal in Cafeterias sieht. Darauf standen lauter zugedeckte Tabletts. »Wir machen Folgendes: Manche Bewohner müssen gefüttert werden. Andere können selbstständig essen, aber man muss alle paar Minuten nachsehen, sonst kann man hinterher die Erbsen einzeln von ihrem Schoß oder vom Boden auflesen. Du musst aufpassen, dass du jedem das richtige Tablett vorsetzt. Zuerst kümmern wir uns um die Leute, die noch selbst essen können. Danach zeige ich dir, wie man jemanden füttert. Ach ja, und denk dran, alle immer mit Namen anzusprechen. Dann erklärst du ihnen, was auf dem Tablett drauf ist, damit sie sich zurechtfinden.«

Es folgte eine hektische halbe Stunde: Tabletts austeilen, Servietten umbinden, Hackbraten klein schneiden, Schüsseln mit matschigen Erbsen oder Wackelpudding danebenstellen und andere Schüsseln mit einer bunten Pampe, die wahrscheinlich püriertes Gemüse war und wie Babynahrung aussah. Trotzdem war es keine besonders schwere Arbeit. Man durfte sich nur nicht ekeln, dann war es eigentlich ganz leicht. Na ja – sagen wir, es war dann leichter.

Ich war im Großen und Ganzen zufrieden. Okay, Mrs Krauss war eine blöde Kuh, aber dafür war Peggy nett. Lucy fand ich irgendwie süß. Es war alles gar nicht so schlimm.

Allein das hätte mich davor warnen sollen, dass es schon bald richtig schlimm werden sollte.

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Ich war mit den letzten Tabletts zugange, als ich die Ärztin am Ende des Flurs stehen sah. Sie las sich eine Tabelle durch, dann verschwand sie in einem der Zimmer.

Ich spürte plötzlich ein Ziehen im Kopf, als hätte sich ein Angelhaken in mein Hirn gebohrt. Irgendetwas zerrte an mir, tastete mit klebrigen Fingern in meinem Schädel umher. Es kam aus dem Zimmer, in dem die Ärztin verschwunden war …

Ich ging langsam auf die Tür zu. Links davon steckte das Namensschild in einem Metallrahmen. WITEK stand da mit schwarzem Marker. Rechts neben der Tür hing eine seltsame, mit bunten Glassteinchen besetzte Messingröhre.

In dem Zimmer stand ein einzelnes Krankenbett und in dem Bett lag halb auf Kissen gestützt ein uralter Mann. Seine Arme waren so dürr, dass die Knochen durchschienen, und in seinem eingefallenen Gesicht zeichneten sich die Wangenknochen wie Axtklingen ab. Aber mit seinem Gesicht stimmte etwas nicht. Die rechte Hälfte war heruntergesackt wie geschmolzenes Wachs – er war sozusagen das Gegenstück zu Mr Eisenmann, bloß ohne Narben. Er hatte auch keine Wasserspeierfratze.

Die Ärztin sprach mit dem Alten. Was sie sagte, konnte ich nicht verstehen, aber sie klang freundlich, so wie eine Mutter mit ihrem Kind spricht. Sie beugte sich über den Mann und führte eine kleine Taschenlampe vor seinen Augen hin und her. Weil sie der Tür den Rücken zudrehte, sah sie mich nicht.

Dafür sah ich die Bilder.

Es waren fünf Stück. Alle gerahmt. Und bei fast allen handelte es sich meiner Meinung nach um Ölgemälde. Sie waren nicht groß, vielleicht sechzig mal siebzig Zentimeter, und ich konnte von der Tür aus keine Einzelheiten erkennen. Aber das spielte keine Rolle – denn beim Anblick der Gemälde fing es in meinem Kopf zu summen an … Es war kein richtiges Geräusch, aber eine deutliche körperliche Empfindung und dann spürte ich einen Sog. Ich fiel wieder, wie jedes Mal vor einem Alptraum und wie in der Scheune und

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Ich schwitze. Die Zunge klebt mir am Gaumen und ich wünschte, wir hätten den 1. Mai oder 4. Juli, denn dann könnte ich mir an Mr Grinsteins Handkarren ein Eis kaufen. Aber heute habe ich kein Geld. Außerdem kommen die Gefangenen gleich, und das will ich nicht verpassen.

Ich drängle mich durch die Menschenmenge, die sich die Hauptstraße entlang bis zum Fabriktor aufgestellt hat, bis ich ganz vorn stehe. Die Sonne scheint so grell, dass alles ganz hell und verblichen aussieht. Inzwischen sind die Gefangenen schon ein paar Wochen hier, aber die Leute sind immer noch neugierig. Papa hat mir verboten herzukommen. Er sagt, diese Männer sind unsere Feinde und wir hätten Besseres zu tun, als sie anzugaffen. Dabei verbringt Papa doch selbst ganz viel Zeit mit ihnen. Beim Abendessen hat er uns erzählt, dass ihn Mr Eisenmann bis auf Weiteres von der Arbeit in der Keramikwerkstatt freigestellt hat. Papas Arbeit besteht jetzt darin, die Gefangenen zu zeichnen. Mr Eisenmann sagt nämlich, bei uns würde Geschichte geschrieben. Und er will, dass Papa alles festhält – auch Mr Eisenmann selbst natürlich, weil er die Geschichte unserer Stadt lenkt.

Marta steht auf der anderen Straßenseite, nah beim Tor. Sie macht wieder mal den Gefangenen schöne Augen, und die Männer erwidern das gern. Sie hat ein paar Freundinnen dabei, alle tragen sie hübschere Kleider als sonst. Marta fällt natürlich auf, mit ihrer Zigeunerschönheit, der braunen Haut und dem roten Haarband. Papa würde ihr am liebsten auch verbieten herzukommen, aber sie steht jeden Tag hier, wenn die Gefangenen von der Feldarbeit zurückkehren. Mama und Marta haben sich gestritten und mit den Händen gefuchtelt, weil Mama und Papa finden, dass sich ein anständiges Mädchen nicht so aufführt. Aber Marta erwiderte händefuchtelnd, dass es keine anderen Männer in der Stadt gibt, weil die von hier entweder im Krieg, zu jung oder zu alt sind. Außerdem stehen alle ihre Freundinnen auch am Straßenrand. Was ist denn schon dabei?

Ich weiß, was dabei ist. Dass die Mädchen den Wölfen schöne Augen machen! Wenn Papa das wüsste, würde er Marta verhauen und ihr nicht mehr erlauben, im großen Haus zu arbeiten, weil die Wölfe dort auch rumschleichen. Miss Catherine hätte gern ein neues Haus, aber Mr Eisenmann sagt, das alte Haus ist gut genug, man muss es nur herrichten. Das übernehmen die Wölfe. Mr Eisenmann und Miss Catherine haben sich schon in aller Öffentlichkeit deswegen gestritten, weil Miss Catherine stur und eigensinnig ist. Meint Mama jedenfalls. Unsereiner soll so tun, als ob wir das Gezänk nicht mitkriegen, aber wir sind ja nicht blöd und blind. Die Reichen sind nicht wie unsereiner, sagt Papa immer.

Man hört es brummen. Da kommen auch schon die Lastwagen und wirbeln rote Staubwolken auf. Die Gefangenen hocken auf den offenen Ladeflächen. Die Aufseher sitzen dazwischen und halten ihre Gewehre im Arm wie Babys. Sie lachen und scherzen mit den Gefangenen. Es sind sieben Laster. Auf jedem fährt nur ein Aufseher mit, was ich nicht viel finde. Vorn am Steuer sitzen auch Gefangene, aber keine Aufseher. Ich denke: Die Männer hinten brauchen nur den Aufseher runterzuschubsen oder umzubringen, dann können sie fliehen. Aber das würden die Gefangenen nie tun. Sie bekommen Unterkunft, Verpflegung und sogar Lohn. Papa sagt, sie haben es gut und wissen das auch.

Vor dem Fabriktor kommen die Lastwagen quietschend zum Stehen. Ich schmecke Staub im Mund und spucke aus. Meine Spucke ist ganz rot und meine Augen brennen. Pavel reibt sich mit den Fäusten die Augen. Seine Tränen malen schmutzige Schlieren auf sein Gesicht, aber er stößt mich in die Rippen und meint: »So böse sehen sie gar nicht aus. Ich hab gehört, die meisten sind Wolfshaken. Aber jetzt zappeln die Wölfe selber am Haken, stimmt’s?«

Tatsächlich – die Männer haben gelbe Augen, und wenn sie lächeln, fletschen sie die Zähne wie Wölfe.

Marta und ihre Freundinnen winken den Gefangenen zu und strecken ihnen eingewickelte Süßigkeiten hin. Manche der Männer greifen von den Lastwagen herunter nach den Päckchen, und mir fällt ein, was ich in einem von den Büchern gelesen habe, die Mama aus Polen mitgebracht hat. Ein Buch über Ritter war das. Darin stand, dass früher eine Dame einem Ritter manchmal ihren Handschuh oder ein Taschentuch überreicht hat, und das hieß dann, dass er ihr gehört. Marta macht es genauso, und mir ist nicht wohl dabei, denn da ist auch der goldene Gefangene, der aus dem Zwillinge-Sternbild, Mr Eisenmanns rechte Hand. Er hat von Marta ein Päckchen entgegengenommen und etwas zu ihr gesagt, ganz langsam und deutlich, damit sie ihn versteht. Die beiden lächeln sich an, blicken sich tief in die Augen und ich denke: Sieht sie denn nicht, dass er ein …?

Ein Schrei ertönt, ein spitzer Schrei, als ob ein Nagel die Luft durchbohrt, und eine Frau ruft: »Fritz … Fritz … Fritz Huber!«

Alle Gefangenen drehen sich um. Dann springt einer aus dem zweiten Wagen über die Seitenwand der Ladefläche und rennt auf die Menge zu. Die Leute schreien und Marta sieht verdutzt aus, weil sie erst nicht begreift, was los ist. Ich werde herumgeschubst, als sich die Menge teilt wie das Rote Meer. Die Aufseher auf den Lastwagen schauen sich nach allen Seiten um. Dann ertönt aus der Menge ein Ruf, die Aufseher springen herunter und verfolgen den Gefangenen. Sie halten ihre Gewehre senkrecht, damit sie nicht aus Versehen jemanden erschießen: »STEHEN BLEIBEN!«

Die Frau schreit wieder: »FRITZ!« Sie drängt sich an mir vorbei. Es ist Mrs Grunewald aus unserer Schule. Dann fällt sie dem Gefangenen um den Hals, die beiden umarmen sich und weinen und Mrs Grunewald schluchzt immer wieder: »Wir dachten, du bist tot, wir dachten, du bist tot …« Die Leute drum herum staunen, und die Aufseher rufen: »Zurück, alle zurück! Huber, lass die Frau los und komm sofort her, sonst müssen wir dich erschießen, Fritz!«

Da drängelt sich ein anderer Gefangener durch, der ohne Akzent, mit den schönen Zähnen und den gelben Augen – den schräg stehenden Wolfsaugen. Es ist Martas Zwilling, und er ruft in fehlerfreiem Englisch: »Lasst ihn doch, beruhigt euch, er tut ja nichts.« Er geht zu Huber, der an Mrs Grunewalds Brust weint, legt ihm den Arm um die Schulter und redet auf ihn ein.

Mrs Grunewald hat rote Flecken im Gesicht und auf ihren Wangen sind weiße Streifen, wo die Tränen den Staub abgewaschen haben. Sie sagt: »Das ist mein Vetter Fritz. Wir dachten, er ist tot. Aber er ist gar nicht tot, denn hier steht er ja und … oh, oh, wir dachten, er ist tot …«

Jemand ruft aus der Menge. Es ist der Pastor von Sankt Lukas: »Ein Wunder! Gott schickt uns ein Zeichen! Diese Männer sind unsere Brüder!« Die Leute nicken. Manche brechen in Tränen aus.

Mr Eisenmann kommt durchs Fabriktor gelaufen. Er hat die Hemdsärmel bis zum Ellbogen hochgekrempelt, aber er sieht trotzdem wie ein König aus – ganz golden. Sein goldener Ring blitzt und seine dicke goldene Uhrkette glänzt, dass es blendet. Er spricht mit den Aufsehern, dann nimmt er den Oberaufseher mit und sie gehen zu dem Gefangenen mit den gelben Wolfsaugen. Sie stecken die Köpfe zusammen, und ihre Haare leuchten golden in der Sonne.

Schließlich beruhigen sich alle wieder. Mr Eisenmann hält eine Rede über Brüder und darüber, dass der Krieg die Familien auseinanderreißt. Er spricht auch über den Bürgerkrieg, über den ich gar nichts weiß, aber alle anderen, die nicht neu hier sind, wissen darüber Bescheid. Die Leute um mich herum weinen, und manche sagen leise zueinander, dass womöglich noch andere dabei sind: Brüder, Vettern, Onkel. Marta auf der anderen Straßenseite trocknet sich die Augen. Sogar der Wolf weint.

Als ich wieder zu Mrs Grunewald und Fritz Huber hinüberschaue, überlege ich, ob es vielleicht doch stimmt, was der Rabbi gesagt hat, nämlich dass alle Menschen Brüder sind, auch wenn sie verschieden aussehen – auch wenn sie aussehen wie Wölfe.

Jemand legt mir die Hand auf die Schulter. Ich drehe mich erschrocken um und hinter mir steht Papa. Sein Gesicht ist finster wie eine Gewitterwolke, sein Blick grimmig, und ich mache mich auf eine Abreibung gefasst. Ich ducke mich weg und stolpere über …

Da fällt er über mich her: Was machst du

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»… hier, Christian? Dieses Tablett kommt zu Mr Griffith ins Zimmer!«

Ich blinzelte und hätte Peggy das Essenstablett um ein Haar auf die Füße fallen lassen.

Dann piepste ein Monitor im Zimmer des Alten. Die Ärztin drehte sich flüchtig um und beugte sich wieder über den Patienten. Sie nahm seine Hand. »Hören Sie mich, Mr Witek? Blinzeln Sie bitte, wenn Sie mich hören.«

Das Gerät piepste weiter, und auf einmal juckte es mich in den Fingern. Ich dachte: Gebt mir einen Kugelschreiber, einen Bleistift, irgendwas …

»Haaallooo!« Peggy klang ein bisschen gereizt. »Mr Griffith wohnt zwei Türen weiter!«

»Huch …« Verwirrt schaute ich von dem Tablett zu Peggy und dann zu dem Alten im Bett. »’tschuldigung. Ich war … ich hab’s verwechselt.«

»Soso.« Peggy musterte mich misstrauisch, dann sagte sie etwas freundlicher: »Nicht so schlimm. Also los jetzt. Entschuldigen Sie bitte, Frau Doktor.«

»Kein Problem.« Die Ärztin sah mich mit einem Gesichtsausdruck an, den ich nicht deuten konnte. »Alles in Ordnung mit dir?«

Ach, ich hab nur mal eben einen kleinen Ausflug in einen fremden Körper gemacht. Diesmal war es ganz mühelos oder wie eine Art Zeitreise und ich war dabei wach …

»Jaja.«

»Wir haben alles im Griff, Frau Doktor.« Peggy schob mich hinaus. »Stimmt’s, Christian?«

Später, als sich der abendliche Hochbetrieb gelegt hatte, stellte mir Peggy zum Glück keine weiteren Fragen, was mit mir los gewesen war.

Ich hätte auch keine Antwort gewusst.