Schade, dass ich nicht dabei sein konnte, als Onkel Hank und Justin Brandt Eisenmann mitnahmen, sondern mir alles erzählen lassen musste.
Onkel Hank beschloss, das Ende des Gottesdienstes abzuwarten. Er wollte sichergehen, dass er Eisenmann auch wirklich antraf und dass der Alte nicht vorher Wind von der Sache bekam. Darum postierte er sich mit Justin gegenüber von Sankt Lukas. Schlag elf – der Pastor von Sankt Lukas ist ein Pünktlichkeitsfanatiker – kamen die Kirchgänger einer nach dem anderen heraus. Manche schauten neugierig zu den beiden Beamten hinüber und wunderten sich, dass sich der Sheriff und sein Stellvertreter ausgerechnet vor ihrer Kirche die Beine in den Bauch standen.
Schließlich kam auch Eisenmann in seinem Maßanzug herausgeschlurft. Die goldene Uhrkette auf seiner Weste funkelte in der Sonne. Er plauderte mit dem Pastor und stieß ab und zu zur Bekräftigung seiner Worte den Stock mit dem goldenen Wolfskopf-Knauf auf den Boden. Als Onkel Hank die Vortreppe hochkam, drehte Eisenmann sich um und sagte: »Nanu, Sheriff! Was führt Sie an diesem wunderschönen Sonntag zu uns Lutheranern? Gehören Sie nicht der Vereinigten Kirche Christi an? Hoffentlich wollen Sie mich nicht noch einmal um Nachsicht für Ihren Neffen bitten. Was das betrifft, kann mich nämlich auch das üppigste Sonntagsmahl nicht umstimmen, christliche Nächstenliebe hin oder her.« Er fand sich anscheinend sehr witzig, denn er verzog das vernarbte Gesicht zu einem schiefen Grinsen.
Onkel Hank ging nicht darauf ein, sondern entgegnete ganz ruhig: »Es geht um Folgendes, Mr Eisenmann: Ich habe etwas gefunden, das Sie vor langer Zeit verloren haben. Vielleicht möchten Sie gern einen Blick darauf werfen.«
Eisenmann wurde wieder ernst und runzelte die Stirn. »Verloren? Ich habe nicht die leiseste Ahnung, was Sie meinen könnten, Hank.«
»Bitte sehr.« Onkel Hank hielt ihm zwei Plastikbeutel hin. Der eine enthielt Charles Eisenmanns goldenen Siegelring, der andere die Erkennungsmarke aus dem Zweiten Weltkrieg. Die Deutschen hatten die Rille in der Mitte eingestanzt, damit man die Marke durchbrechen konnte. Eine Hälfte verblieb zur leichteren Identifizierung bei dem Toten, die andere Hälfte diente dazu, die Zahl der Gefallenen auf den aktuellen Stand zu bringen. Aus dem gleichen Grund sind amerikanische Soldaten heute mit zwei Erkennungsmarken ausgestattet – im Zweiten Weltkrieg war Metall allerdings Mangelware.
Von Justin weiß ich, was dann geschah. Über Eisenmanns entstelltes Gesicht ging ein Ausdruck des Staunens, nur die Krokodilstränen liefen ihm unverändert über die Wange. Einen kurzen Augenblick bröckelte die Fassade des Mannes, der sich Charles Eisenmann nannte. Sein Blick wurde erst ungläubig, dann erschrocken – und dann irgendwie nicht mehr richtig menschlich.
Eisenmann rang um Fassung. Er stieß ein heiseres Kichern aus, gleichzeitig wurde er leichenblass, von den feuerrot leuchtenden Narben abgesehen. »Was soll das, Sheriff?«
»Das wissen Sie ganz genau.« Onkel Hank legte ihm die Hand auf den Arm. »Wenn Sie bitte mitkommen würden … Da drüben steht mein Wagen. Wir brauchen uns nicht unbedingt in aller Öffentlichkeit darüber zu unterhalten.«
Erst da schien Eisenmann die Umstehenden wahrzunehmen – die Mitglieder seiner Gemeinde, die stets geglaubt hatten zu wissen, wer er war. Er sagte leichthin: »Ich habe leider keine Zeit. Mein Mittagessen wartet.«
»Dann lassen Sie es warten. Kommen Sie bitte mit uns … Herr Wulf.«
Damit sei die Sache klar gewesen, erzählte Justin. Eisenmanns schiefem Mund entrang sich ein Ächzen und er schwankte. Er wäre hingefallen, hätten ihn Onkel Hank und Justin nicht bei den Armen gefasst und gestützt. Die Leute steckten tuschelnd die Köpfe zusammen, als die beiden Beamten den taumelnden Alten abführten.
»Stoßen Sie sich nicht den Kopf«, sagte Onkel Hank, als er Wulf auf den Rücksitz verfrachtete und ihm den Stock mit dem Wolfskopf aus dem kraftlosen Griff wand. (Bestimmt hatte es dem falschen Eisenmann einen Heidenspaß gemacht, die Leute mit einem Symbol zu verhöhnen, dessen Bedeutung nur er kannte und das nicht nur für seinen richtigen Namen stand, sondern auch für seine Panzereinheit.) »Den nehme ich lieber an mich, wenn’s recht ist.«
Eisenmann – beziehungsweise laut Mordechai Witeks Skizzenbuch Hermann Wulf, Nummer 31G-3945 – schaute flehend zu Onkel Hank auf. Seine Lippen bebten, und Justin berichtete, ihm seien echte Tränen über die verunstalteten Wangen gelaufen.
»Man kann mich doch nach so langer Zeit nicht mehr hinrichten, oder?«, fragte der Alte ängstlich. »Außerdem war Witek bloß ein Jude.«
»Am besten sagen Sie jetzt gar nichts mehr.« Onkel Hank beugte sich ins Auto und gurtete Wulf an. »Auf Ihre letzte Bemerkung möchte ich nur erwidern: Witek war ein Mensch, ein Familienvater – wie so viele.«
Echt schade, dass ich nicht dabei sein konnte! Aber wenn ich mir vorstelle, wie die braven Bürger von Winter dem Streifenwagen nachschauten, kommt mir noch eine andere Frage: Wie viele haben etwas geahnt? Womöglich etwas gewusst?
+ + +
Stattdessen schlief ich den ganzen Tag wie ein Toter. Kurz nach fünf kam Onkel Hank nach Hause, aber ich hörte ihn nicht. Ausnahmsweise schlief ich tief und fest. Falls ich etwas träumte, konnte ich mich jedenfalls nach dem Aufwachen nicht daran erinnern.
Als ich wach wurde, war es längst dunkel, und im Haus war es still. Im Haus schon, aber … Ich blieb reglos liegen und hoffte, dass ich mich irrte. Leider nicht.
Mist. Und jetzt?
Mein Wecker zeigte 8:13, und ich hatte Hunger. Ich tappte die Treppe runter, machte mir eine Schüssel Schoko Smacks und aß im Stehen. Als ich mich wieder einigermaßen wie ein Mensch fühlte, spülte ich die Schüssel ab, goss mir einen kalten Orangensaft ein und trank das Glas in einem Zug leer.
Dann stand ich reglos da und lauschte. Wie erwartet, hatte das Essen nicht viel geholfen. Ich kam auf die Idee, Dr. Rainier anzurufen.
Daraufhin stellte ich fest, dass der Anrufbeantworter wie wild blinkte. Angezeigt wurden acht Anrufe, aber die ersten fünf Anrufer hatten nichts aufs Band gesprochen. Wahrscheinlich hatten sich irgendwelche Leute erkundigen wollen, was vor der Kirche los gewesen war. (Onkel Hank schimpfte immer, die Leute würden einfach nicht kapieren, dass es nicht Aufgabe der Polizei war, Klatsch und Tratsch zu verbreiten.)
Der sechste Anruf war von Sarah. »Hi, Christian … ich hab gehört, was in der Scheune passiert ist … na ja, zum Teil. Die Radartypen haben bei Gina gefrühstückt und ein bisschen zu laut geredet oder so. Egal, ich find’s cool und hoffe, dass du dich davon erholt hast und meine Halloween-Party am Samstag nicht vergisst. Um sieben geht’s los. Wir wollen alberne Spiele machen, Apfeltauchen und so. Wird bestimmt lustig. Sehen wir uns in der Schule? Okay, also, bis dann.«
Die Stimme des nächsten Anrufers erkannte ich sofort wieder. »Hallo, Christian, hier ist Rabbi Saltzman. Wir haben am Freitag miteinander telefoniert. Ich wollte dich zurückrufen, aber eine Frau Dr. Rainier ist mir zuvorgekommen. Sie hat mich heute Vormittag angerufen, gleich nach meinem Unterricht in der Sonntagsschule. Ich muss wohl etwas weiter ausholen. Gleich nach unserem Telefonat habe ich im Altenheim angerufen und erfahren, dass David gestorben ist. Ich habe mich mit seinem Nachlassverwalter in Verbindung gesetzt, einem Anwalt, und … oje, hoffentlich ist das Band nicht gleich voll! Jedenfalls meinte Dr. Rainier, dass die Polizei noch nach den Überresten weiterer Familienangehöriger sucht, und ich komme nach Winter, wahrscheinlich nächste Woche. Wollen wir uns treffen? Ruf mich doch mal an, dann machen wir einen Termin aus.« Er hinterließ seine Handynummer und legte auf.
Die letzte Anruferin war Dr. Rainier. Sie kam sofort auf den Punkt: »Ich erwarte dich am Dienstag in meiner Praxis, Christian. Wir müssen besprechen, wie wir weiter vorgehen wollen.« Pause: »Das war … schon doll. Du bist sehr mutig. Lass dir von niemandem etwas anderes erzählen.« Pause. »Aber triff jetzt bitte noch keine Entscheidungen und mach um Himmels willen keine Dummheiten, weil du womöglich Schuldgefühle hast. In Ordnung?«
Ich war wie vor den Kopf geschlagen.
Woher wusste Dr. Rainier, dass sich das Raunen zurückgemeldet hatte?
+ + +
Ich hielt mich an ihre Bitte und machte keine Dummheiten. Aber ich unternahm auch nichts in Bezug auf die gemalte Tür an meiner Wand, weder in der einen noch in der anderen Richtung.
In der Schule war es eigentlich wie immer. Meine Mitschüler standen in Grüppchen zusammen, warfen mir neugierige Blicke zu und tuschelten. Allerdings nicht alle, was mich echt überraschte. Manche fragten auch ganz locker: »Na, alles klar?«, und so.
Die Mittagspause verbrachte ich mal wieder im Kunstraum. Dort kam mir alles so fremd vor, als wäre ich hundert Jahre nicht mehr dort gewesen. Ich selbst kam mir wie ein Fremder vor. Die Zeichnung von meiner Mutter stand mit einem Tuch zugehängt noch auf der Staffelei. Ich hielt kurz inne, bevor ich das Tuch von ihren vielen Gesichtern hob.
Ich betrachtete ihre Augen, die ich so gut kannte, ihr Gesicht, das ich in meinen Wachträumen vor mir gesehen hatte. Ich spürte Mordechai Witeks Pinsel in der Hosentasche. Natürlich wollte ich damit nicht auf einer Kohlezeichnung rumpfuschen, aber ich konnte mich einfach nicht von ihnen trennen. Ich hielt mich sozusagen an den Pinseln fest wie ein Ertrinkender, der sich an einem Ast festklammert.
Ertrank ich denn? Drohte mich ein Wasserfall in den Abgrund zu reißen? Das lag ganz bei mir, das spürte ich. David hatte mich als Sprachrohr benutzt, aber ich hatte diese Gabe auch schon vorher besessen. Sogar als David schon im Sterben gelegen hatte, war es mir gelungen, eine gedankliche oder seelische oder was auch immer für eine Verbindung mit ihm herzustellen.
Aber jetzt war er tot. Als ob einem ein Geldstück in den Gully fällt, und man kriegt es nicht mehr raus – so kam ich mir vor.
Meine Mutter dagegen war noch da. Ich musste mich nur überwinden, mit ihr in Verbindung zu treten.
Ich hängte die Kohlezeichnung wieder zu. Ich hatte keinen Strich daran getan.
Dann setzte ich mich allein auf die Hintertreppe der Schule und aß mein Brot. Die Stufen waren hart, und das Brot schmeckte wie Sägemehl.
+ + +
»Was geht in dir vor?«, fragte Dr. Rainier.
»Ich will nicht mehr herkommen. Nicht weil ich sauer auf Sie bin oder keinen Bock hab, mit Ihnen zu reden. Aber es steht jetzt ja wohl fest, dass ich nicht geisteskrank bin und nächstens Amok laufe oder so, sondern dass ich eine ungewöhnliche Gabe besitze. Ich muss allein rausfinden, was ich damit anfange.«
»Weißt du denn inzwischen, um was für eine Gabe es sich handelt und was du damit anfangen könntest?«
Ich schüttelte den Kopf. Es klingt bescheuert, aber ich hatte mit dem Gedanken gespielt, dass ich vielleicht eine Art übersinnlicher Verbrecherjäger werden konnte. Immerhin hatte ich entscheidend dazu beigetragen, zwei Morde aufzuklären und den falschen Mr Eisenmann zu entlarven. Und dann war da noch das eingemauerte Baby.
»Haben Sie es bekommen?«, fragte ich.
Dr. Rainier öffnete auf ihrem Computerbildschirm ein Foto. »Ich habe es mit dem Handy abfotografiert. Hoffentlich erkennst du genug.«
Und ob! Ich deutete auf das rote Haarband. »Auf dem Foto in Mordechai Witeks Brieftasche trägt sie es auch. Und sie hat ein ziemlich fliehendes Kinn. Sie und ihre Mutter sehen sich sehr ähnlich.«
»Du meinst, beide litten an Treacher-Collins? Das kann gut sein. Das Haarband sollte Martas fehlende Ohren verdecken, und die Mutter hat die Missbildung mit ihrer Frisur kaschiert. Ob sie beide taub waren?«
Bestimmt. Hatte Wulf nicht zu Daecher gesagt, die Frauen würden den Lärm in der Scheune nicht hören?
Marta hatte Dolmetscherin werden wollen – aber nicht für Deutsch oder Polnisch, sondern für Gebärdensprache. Darum fuchtelte sie auch in Davids Erinnerung immer mit den Händen.
Dr. Nichols wollte die DNA des Babys mit der von David und Mordechai vergleichen, um die Verwandtschaft festzustellen. Und wer war nun der Vater des Kindes? Ich hätte die Hand dafür ins Feuer gelegt, dass es Eisenmann war, beziehungsweise Hermann Wulf. Aber was nach der Geburt aus Marta geworden war und weshalb sie ihr Baby Wulf überlassen hatte, würde ich wohl nie erfahren, weil David es auch nicht gewusst hatte. Damit hätte auch Onkel Hank mit seiner Vermutung recht, dass ein Dienstmädchen das Kind zur Welt gebracht hatte, denn ich wusste aus einer meiner Visionen, dass Marta Catherine Blevertons Angestellte gewesen war. (Das durfte ich Sarah leider noch nicht verraten, aber der Gentest würde es an den Tag bringen.)
Trotzdem blieben etliche Fragen offen. Warum war das Haus der Witeks abgebrannt? Warum hatte Daecher Wulf nie auffliegen lassen? (Vermutlich hatte sich der falsche Eisenmann Daechers Schweigen erkauft.) War Catherine Bleverton wirklich betrunken aus dem Boot gefallen, oder hatte sie jemand über Bord gestoßen, weil sie die Wahrheit ahnte oder erraten hatte?
Ich setzte hinzu: »Und der Brand in der Synagoge ist auch noch nicht aufgeklärt.«
»Manche Rätsel lassen sich eben nicht aufklären, und wenn man noch so tief in der Vergangenheit gräbt. Stell dir lieber die Frage, wie du mit deiner eigenen Vergangenheit umgehen willst.«
»Sie meinen … mit meiner Mutter? Woher wissen Sie, dass ich das Raunen wieder höre?«
»Das weiß ich gar nicht. Ich hatte nur so ein … Gefühl. Eine Vorahnung, könnte man auch sagen.«
Ich staunte immer wieder, dass sie mir tatsächlich glaubte und ihre Skepsis zurückstellte. Das ging über therapeutisches Einfühlungsvermögen hinaus, fand ich.
»Also – was hast du vor?«, fragte sie.
»Weiß nicht«, antwortete ich wahrheitsgemäß. »Meine Mutter sucht nach mir. Die Stimmen rufen mich. Was würden Sie denn tun, wenn Ihre Mutter Hilfe braucht?«
Sie schwieg lange, dann erwiderte sie: »Das kann ich dir nicht so aus dem Stand beantworten. Es geht ja nicht darum, dass du deine Mutter aus einem brennenden Haus retten oder ihr eine neue Bleibe suchen müsstest. Du weißt nicht, ob der lange Aufenthalt auf der anderen Seite sie nicht verändert hat. Womöglich ist sie nicht mehr die Mutter, an die du dich erinnerst.
Keine Mutter bleibt immer die Gleiche, und zwar nicht nur, weil sie selbst sich verändert, sondern weil sich die Kinder verändern. Kind bleibt man zwar immer, aber das Leben geht weiter. Zum Elternsein gehört auch, dass man verlassen wird.«
»Wie meinen Sie das?«
»Sobald ein junger Mensch zu Hause auszieht, ändert sich das Verhältnis. Wenn du mal so weit bist, wirst du auch nicht mehr zurückwollen. Und Hank hätte als dein Ersatzvater versagt, wenn er darauf bestehen würde.«
»Na ja, es fällt ihm schon schwer, mich loszulassen …« Ich erzählte ihr von der Geschichte mit Dekker. »Dann hat er wohl versagt.«
»Dass er bei der Vorstellung, dich loszulassen, gemischte Gefühle hat, finde ich nur verständlich. Da geht es ihm nicht anders als den allermeisten Eltern. Du bist sein nächster und einziger Angehöriger, und er sieht bei seiner Arbeit viel Schreckliches. Er weiß nur zu gut, was alles passieren kann. Das übermäßige Sorgenmachen ist bei ihm auch eine Berufskrankheit. Trotzdem – er ist hier, und er ist immer für dich da. Du brauchst nur die Hand auszustrecken.«
Wir wechselten das Thema und besprachen, wann ich wieder nach Espenwald kommen sollte. Dr. Rainier war dafür, dass ich mit meinen Sozialstunden weitermachte. Sie war zuversichtlich, dass ich meine … Gabe … besser in den Griff bekommen würde und womöglich noch anderen Bewohnern helfen konnte, sich selbst wiederzufinden. Ich durfte mich nur nicht in wieder in den Sog von Wut und Tod begeben, beziehungsweise solche Gefühle bei den Leuten anzapfen.
»Du willst doch bestimmt nicht ab heute ein Einsiedlerdasein führen und dich verkriechen, damit keiner an dich rankommt und umgekehrt, oder? Ich möchte, dass du dir Mühe gibst, in der Gegenwart zu leben und im Kontakt mit deinen Mitmenschen zu bleiben.«
Ich versprach ihr jedenfalls, es zu versuchen.
+ + +
Als wir schon an der Tür standen, sagte sie noch etwas Merkwürdiges.
»Ich weiß, dass du eine schwere, dunkle Zeit durchmachst, Christian. Dass du am liebsten flüchten würdest. Dass du jetzt nur das Negative siehst und unglücklich bist. Die Welt ist voller Abgründe, und die Heerscharen der Finsternis liegen immer auf der Lauer. Aber denk dran«, sie fasste mich an den Schultern, »es gibt auch die Heerscharen des Lichts. Nenn es Seele, nenn es Gott, nenn es Menschlichkeit oder Hoffnung – ganz egal. Das Einzige, was zählt, ist: Das Licht ist da.« Sie ballte über meiner Brust die Faust. »Das Licht ist Macht, die Macht der Liebe, und die Liebe ist stark.«
Ich erwiderte halb fasziniert, halb belustigt: »All you need is love?«
»Stell dich nicht dumm, dafür bist du viel zu intelligent. Nur von Liebe allein kann der Mensch natürlich nicht leben. Eine übergroße Liebe, die sich über alle Vernunft hinwegsetzt, kann aber auch zerstörerisch wirken, ja tödlich sein. Also sieh dich vor. Du wirst die Dunkelheit besiegen, wenn du auf dein Herz hörst, Christian, davon bin ich überzeugt. Du darfst dich nur nicht beirren lassen.«