Kapitel 2

Erst, nachdem Gernot hundert Meter gelaufen war, fiel ihm ein, dass er den Beetle doch direkt vor dem Drunken Sloth geparkt hatte. Er stapfte zurück. Der kühle Nachtwind trocknete die Tränen auf seinen Wangen und ließ seinen Kampfeswillen zurückkehren. Kompromisse? Nicht mit ihm. Es war doch nicht seine Schuld, dass die Firma seines Vaters Miese machte. Für diesen öden Geschäftskram hatte er sich sowieso nie interessiert. Und jetzt auf einmal wollte sein Vater ihn für irgendwelche üblen Pläne einspannen? Nein, da machte er nicht mit. Er würde fortgehen. Dann würden die schon merken, wie sehr sie an ihm hingen und sich Sorgen machen und sich schwören, nie wieder so etwas Furchtbares von ihm zu verlangen.

Der Beetle war weg.

Kein Zweifel. An der Stelle neben dem Parkverbotsschild befand sich nun ein freier Platz.

»Der ist eben abgeschleppt worden«, rief jemand.

Gernot fuhr herum. An der Wand neben der Eingangstür des Drunken Sloths lehnte ein Kerl mit stoppelkurzem Haar und Lederjacke. Alphaduft wehte zu Gernot herüber. Aber auch ohne hätte Gernot sofort gewusst, wen er vor sich hatte. Alles an dem Typ schrie Alpha. Seine selbstbewusst-lässige Haltung, die breiten Schultern und die abschätzige Art, mit der er Gernot nun abcheckte. »Schicker Wagen. Deiner?«

»Zufällig ja!«, fuhr Gernot ihn an. »Hättest du die nicht aufhalten können?«

»Warum sollte ich?« Träge stieß sich der Kerl von der Wand ab. »Aber reg dich ab, Kleiner. Ich biete dir eine Mitfahrgelegenheit an.«

In dem Moment ging die Tür auf und Tom trat auf den Bürgersteig. Ein Ausdruck von Erleichterung flog über sein Gesicht, als er Gernot entdeckte. »Gerry, es tut mir leid, komm wieder rein. Renn bitte nicht immer einfach weg. Wir können doch ...«

»Lass mich in Ruhe!«, schnauzte Gernot ihn an. »Ich brauch deine Hilfe nicht!«

Der Alpha grinste Tom an. »Er ist sauer, weil sein Schickimickiauto gerade abgeschleppt worden ist.«

»Ach Mist«, sagte Tom. »Los, komm mit rein, trinken wir erst mal was zusammen.«

»Ich verzichte!«, zischte Gernot. »Wenn du nicht hier arbeiten würdest, wär das gar nicht passiert mit dem Auto.« In einem hinteren Winkel seines Gehirns war ihm klar, dass diese Anschuldigung jeglicher Logik entbehrte, aber er war wütend. Auf seinen Vater, auf Tom, auf sich selbst und auf das Leben allgemein. Er wollte nur noch weg. Weg von seinem verräterischen angeblichen Freund. Impulsiv wandte er sich an den Alpha. »Gilt dein Angebot noch?«

»Klar, mein Wagen steht gleich hier vorne.« Er deutete auf eine rostige Schrottkarre. Egal. Fahren würde das Ding ja wohl noch.

Gernot marschierte zur Beifahrertür. »Fahren wir!«

»Sei nicht so ein Dummkopf!«, rief Tom. »Du willst doch nicht wirklich zu dem fremden Typ ins Auto steigen!«

»Doch, genau das will ich.« Trotzig schob Gernot das Kinn vor. »Du hast mir gar nichts zu sagen, du ... du ... Verräterschwein!«

Der Alpha schloss ihm die Tür auf und er stieg ein. Im Losfahren sah er Toms entsetztes Gesicht durch die Seitenscheibe und zeigte ihm den Stinkefinger.

Der Alpha lachte kehlig. »Du bist mir ja ne Marke. Wo soll’s denn hingehen?«

Ja, wohin? Gernot rieb sich die brennenden Augen. »Keine Ahnung.« Er musste brüllen, um sich über den Lärm der Anlage verständlich zu machen. An der hatte der Alpha nicht gespart. Satte Bässe ließen den Wagen vibrieren.

»Lust, noch einen Drink zu nehmen? Dann kannst du noch ne Weile darüber nachdenken«, schlug er vor.

Alles war besser, als mit eingezogenem Schwanz nach Hause zurückzukehren, also nickte Gernot. Gegen einen Drink hatte er nichts einzuwenden. Verschaffte ihm Zeit, seine Freundesliste durchzugehen. Bei irgendjemandem konnte er doch sicher ein paar Nächte unterkommen. Nur solange, bis sein Vater sich besann und es ihm so richtig leidtat.

Die Kneipe, in die der Alpha Gernot mitnahm, sah von außen noch schäbiger als das Drunken Sloth . Hier hingen keine Studenten ab, sondern offenbar die Mitglieder von Bikergangs, wie das Aufgebot an Motorrädern vor dem Schuppen zeigte. Innen lungerten Kerle in Leder um Billardtischen herum oder lehnten sich an Stehtische, große Bierhumpen in den Pranken. Gernot zweifelte an seiner Entscheidung, den Alpha zu begleiten, dessen Namen er nicht mal kannte.

Als hätte der seine Gedanken erraten, drehte er sich zu ihm um. »Ich bin übrigens Hank«, sagte er.

»Gerry«, murmelte Gernot. Er folgte Hank zur Theke und versuchte, die Blicke der Alphas zu ignorieren. Ein paar Omegas waren auch zugegen, die schmiegten sich leicht bekleidet an die Biker und musterten Gernot ebenfalls. Ob die Konkurrenz in ihm sahen? Oder starrten ihn alle an, weil schon sein Aussehen zeigte, dass er nicht hier her gehörte? Er wünschte, er hätte wenigstens seine Lederjacke angezogen. Stattdessen trug er Chinos und ein Designershirt, darüber einen edlen Merinohoodie in seiner Lieblingsfarbe Petrol. Zwischen all den in schwarzes Leder gehüllten kräftigen Alphakörpern kam er sich vor wie ein exotischer Vogel, der drauf und dran war, zerquetscht zu werden. Das änderte allerdings nichts daran, dass sein Herz eher angenehm aufgeregt als ängstlich pochte.

Ohne ihn zu fragen, was er wollte, bestellte Hank ihm ein Bier und einen Shot, der in einem Pinnchen serviert wurde. Gernot verkniff sich die Frage, was das für ein Getränk war und kippte das Zeug auf Ex, wie Hank es vormachte. Scharf und süß zugleich rann es ihm durch die Kehle und hinterließ ein warmes Gefühl in seinem Bauch. Hank nickte ihm anerkennend zu und orderte noch zwei. »Und jetzt erzähl mal, warum du so ne Scheißlaune hast.«

Gernot trank auch den zweiten Shot. Eigentlich ging es Hank nichts an. »Ärger mit meinem Vater«, sagte er daher nur vage. »Krieg ich noch einen?«

Er schob das leere Pinnchen zu Hank rüber. Der gab dem Barkeeper einen Wink und wandte sich wieder Gernot zu. »Wohnst noch Zuhause bei Mommy und Daddy, was? Harte Zeit. Aber Kohle scheinen deine Herrschaften zu haben, wenn sie dir so ein Auto geschenkt haben.«

»Woher weißt du, dass ... ach egal.« Gernot griff nach dem Shot. »Es geht immer nur um Kohle«, murrte er. »Keiner fragt, was ich will.«

»Ich hab dich vorhin gefragt«, erinnerte Hank ihn. Auffordernd schob er ihm das Bier hin. »Das waren jetzt genug Shots. Trink mal Bier, das beruhigt.«

Gernot hasste Bier. Trotzdem nahm er einen Schluck. Zum Glück war das Zeug so kalt, dass er kaum etwas schmeckte. »Ich will einfach ein paar Tage raus. Brauch Zeit zum Nachdenken.« Seine Zunge fühlte sich seltsam schwer an. Er rieb sie probeweise am Gaumen. Der war viel dicker und pelziger als gewohnt.

»Zufällig kann ich dir da weiterhelfen«, hörte er Hank sagen.

Misstrauisch schielte er zu ihm rüber. Der massige Alpha lehnte lässig am Tresen und verzog keine Miene.

»Warum willst du mir denn helfen? Du kennst mich doch gar nicht.«

»Ich fand’s irgendwie gut, wie du das Weichei da am Sloth runtergeputzt hast. Ich mag freche Omegas. Außerdem war ich selbst mal in einer ähnlichen Situation wie du und mir hat damals auch jemand geholfen.«

»Das glaube ich kaum. Ich meine, dass du in einer ähnlichen Stui... Stiu...« Gernot gab auf.

Hank neigte sich vertraulich zu ihm. »Ein Kumpel von mir hat ne Jagdhütte. Also eigentlich ist es schon besser als ne Hütte. Chalet nennt er das Teil. Und ich hab einen Schlüssel. Wenn du willst, fahr ich dich hin und hol dich in ein paar Tagen wieder ab. Ist immer genug zu Essen da und gibt sogar einen Whirlpool auf der Veranda. Genau richtig, um mal auszuspannen.«

Das hörte sich schon fast zu gut an, um wahr zu sein. »Und wo ist der Haken?«, fragte Gernot. Er mochte eventuell ein wenig angeschickert sein, aber denken konnte er noch glasklar. Naja, milchglasklar.

»Mann, bist du misstrauisch.« Hank versetzte ihm einen sachten Schubs in die Seite. »Ich will dir was Gutes tun, Kleiner. Vorschlag: Wir fahren zum Chalet und wenn es dir nicht gefällt, nehm ich dich wieder mit in die Stadt.«

»Deal«, brachte Gernot hervor. Ansehen schadete nichts. Mit einem Mal hatte Hank es eilig, sein Bier zu leeren. Gernot hatte an seinem nur genippt, doch das schien Hank gar nicht zu bemerken. Er legte den Arm um seine Schultern und sie verließen die Bikerkneipe. Gernot mochte es nicht, wenn ihm Fremde so nahe kamen und er versuchte, sich aus Hanks Griff zu winden. Prompt geriet er aus dem Gleichgewicht und wäre gestürzt, wenn Hank ihn nicht festgehalten hätte.

»Hoppla, Kleiner«, sagte Hank amüsiert. »War wohl ein Shot zu viel, was? Atme mal tief durch.«

Gehorsam sog Gernot die kalte Nachtluft in die Lungen. Schwindel packte ihn und ließ den Boden unter seinen Füßen schwanken. Er hätte diese Shots nicht trinken sollen ... Benommen ließ er sich von Hank zum Auto führen und auf den Beifahrersitz bugsieren. Hank schnallte ihn sogar an. Er hörte die Autotür zuklappen. Zum Schwindelgefühl gesellte sich Übelkeit. Nur einen Moment die Augen schließen ...

Jemand schüttelte ihn und er schreckte auf.

»Aufwachen. Dornröschen«, sagte eine spöttische Stimme.

Es war dunkel und kalt und Gernot war schlecht. Er bekam gerade noch mit, dass er in einem Auto saß. In letzter Sekunde schwang er die Beine nach draußen und beugte sich vor. Würgend gab er sein Abendessen von sich. Lachs an Wildreis mit Brokkoli. Erkennen konnte man das allerdings nicht mehr. Ein undefinierbarer Brei landete auf braunen Kiefernnadeln, gülden angestrahlt von der Innenbeleuchtung des Wagens.

Jemand fluchte.

Das war dieser Alpha. Hank. Gernot konnte nicht fassen, dass er mit ihm gefahren war! Und wo war er überhaupt? Mühsam hob er seinen bleischweren Kopf. Bäume. Ein Holzhaus mit Veranda. O nein! Dunkel erinnerte sich Gernot an Gerede über ein Chalet. Das musste es sein und wie es aussah, befand es sich mitten im Nirgendwo. Keine Straßenbeleuchtung, ja, klar, gab ja keine Straße, nur eine Art Piste, und Autos waren auch nicht zu hören, nur im Wind ächzende Bäume und raschelnde Blätter.

»Ich will nach Hause«, sagte Gernot. Hörte sich jämmerlich an, aber das war ihm egal.

»Du hast das Chalet doch noch gar nicht gesehen«, murrte Hank. »Konntest du nicht früher sagen, dass du kotzen musst?«

»Ich will nach Hause«, wiederholte Gernot, noch eine Spur kläglicher. Ihm war zum Heulen zumute.

»Na komm, wir gehen rein und du trinkst Cola oder so, und dann fahr ich dich nach Hause.« Überraschend sanft umfasste Hank Gernots Arm und zog ihn aus dem Auto. Mit eingeschlafenen Beinen stolperte Gernot neben ihm her, ein paar Stufen hoch, über die Veranda. Geschlossene Fensterläden aus Holz. Eine Tür aus Holz. Das ganze Ding schien aus Holz zu sein. Gernot revidierte diesen Eindruck, nachdem Hank ihn ins Haus geschoben hatte, denn sein Blick fiel sofort auf ein Sofa. Er steuerte es mit wackligen Knien an und ließ sich in die weichen Polster sinken.

»O Mann, dir geht’s ja echt dreckig«, ließ sich Hank vernehmen. »Ich seh mal nach, ob es Aspirin oder sowas im Badezimmer gibt.«

Gernot lehnte den Kopf an die Rückenlehne des Sofas. Schwerkraft zog an seinen Lidern. Er gab nach und schloss die Augen. Irgendwo im Haus fiel eine Tür zu. Er wollte nach Hause.

 

Als er die Augen wieder öffnete, fiel graues Licht durch die Ritzen zwischen den Fensterläden und malte Streifen auf den Teppich, der den Dielenboden bedeckte. Schläfrig musterte Gernot den offenen Kamin, das Bücherregal, den Ohrensessel ... sah alles sehr gemütlich aus.

»Hank?«, krächzte er. Wie lange hatte er geschlafen? Hatte Hank ihm noch die Aspirin gegeben? Es ging ihm eigentlich ganz gut, nur sein Magen fühlte sich hohl an. Ein wenig schwankend kam er auf die Füße und sah sich um. Das geräumige Zimmer war Wohnzimmer und Küche in einem. Eine Treppe führte in den ersten Stock und hinter einer Tür vermutete Gernot das Badezimmer. Er lag richtig, allerdings gab es nur eine Toilette und ein kleines Waschbecken. Vermutlich gab es oben noch ein größeres Bad. Gernot pinkelte und schöpfte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Den Blick in den Spiegel vermied er lieber.

»Hank?«

Zögernd stieg er die Treppe hoch. Oben fand er zwei Schlafzimmer. Auch hier waren die Fensterläden geschlossen. Wie vermutet gab es ein großes Badezimmer mit Dusche und sogar einer Badewanne. Sah alles modern aus, wie frisch renoviert.

Keine Spur von Hank.

Gernot ging wieder nach unten und direkt zur Haustür. War Hank etwa einfach gefahren, ohne sich zu verabschieden? Gleich würde Gernot sehen, ob sein Auto noch vor dem Haus stand.

Nein, würde er nicht.

Die Tür war verschlossen.

Er war eingesperrt.