Dieser blöde Hank hatte Gernot zwar im Chalet eingesperrt, warum auch immer, was den vollen Kühlschrank betraf aber nicht zu viel versprochen. Nachdem Gernot den ersten Schreck überwunden und eine Stunde vergeblich nach einer Fluchtmöglichkeit gesucht hatte, war ihm der Hunger dazwischengekommen. Er verschob seinen Ausbruchsversuch auf später und inspizierte den Kühlschrank. Bier. Da rümpfte er gleich die Nase. Außerdem fand er jedoch Obst, Gemüse und verschiedene Saucen sowie Toastbrot. Er stellte sich ein Sandwich zusammen und verzog sich auf das Sofa. Während er kaute, dachte er darüber nach, was Hank mit ihm vorhaben mochte.
Ihn als Sexsklaven halten? Unwahrscheinlich, da er nicht mal versucht hatte, seine Qualitäten in dieser Hinsicht auszutesten. Lösegeld fordern? Dazu müsste Hank wissen, dass es etwas zu holen gab. Moment ...
Kohle scheinen deine Herrschaften zu haben, wenn sie dir so ein Auto geschenkt haben.
Also war der Beetle schuld daran, dass ihn jemand entführt hatte. Nach einer kurzen, heftigen Panikattacke hielt sich seine Furcht in Grenzen. Sein Vater würde schon zahlen. Und Hank hatte keinen sonderlich bedrohlichen Eindruck auf ihn gemacht. Da er offenbar spontan auf Grund seines teuren Autos entschieden hatte, ihn zu kidnappen, handelte es sich bei ihm nicht um einen Profi. War das gut oder schlecht? Möglicherweise würde Gernot ihn beraten müssen, was die Formalia einer üblichen Entführung anging. Nicht, dass er schon mal in den Genuss einer solchen gekommen wäre. Aber seit Kindesalter hatte er ein Sicherheitstraining absolvieren müssen, das unter anderem Verhalten in genau einem Fall wie diesem einschloss.
An Grundsatz eins erinnerte er sich besonders gut: Mit den Entführern kooperieren. Dafür sorgen, dass er von einem anonymen Opfer zu einem sympathischen Menschen für sie wurde. Umso größer die Hemmung, ihm etwas anzutun. Persönliche Bindungen zu den Entführern knüpfen. Aber auch nicht zu enge. Zählte dazu, einem Entführer vor die Füße zu kotzen?
Gernot stellte sich seinen Vater vor, wie er voller Sorge die Lösegeldforderung las und bitter bereute, dass sie im Streit auseinandergegangen waren. Eigentlich war diese Entführung genau das, was er brauchte. Viel besser, als nur für ein paar Tage sang- und klanglos unterzutauchen. Hauptsache, die ganze Sache ging vor seinem Urlaub über die Bühne.
Er checkte sein Smartphone, stellte fest, dass es nur noch mit zwanzig Prozent Akkuladung aufwarten konnte und dass es sowieso kein Netz gab. Da war er wohl wirklich mitten in der Wildnis gelandet. Schade, dass er nicht aus den Fenstern sehen konnte. Womöglich konnte er später mit Hank etwas aushandeln, wenn er ihn davon überzeugte, dass er keinen Fluchtversuch starten wollte. Gelangweilt stöberte er durch das Bücherregal. Viele Reiseberichte, ein paar Thriller, Fachbücher über Tiermedizin, Kochbücher. Hanks Kumpel war also ein reiselustiger Tierarzt mit Hang zu Spannungsliteratur, der gerne kochte. Und sich vermutlich öfter mal in diesem Haus aufhielt, dem Frischegrad des Kühlschrankinhalts nach zu urteilen. Ob Hank ihm von der Entführung erzählt hatte?
Motorengebrumm ließ Gernot aufhorchen. Gut möglich, dass er schon bald Antwort auf seine Frage bekommen würde. Er lief zum Fenster und drückte die Nase an die Scheibe, versuchte, durch den schmalen Spalt zwischen den Fensterläden zu spähen. Keine Chance. Mit knirschenden Reifen kam das Auto draußen zum Stehen, eine Tür schlug zu und wenig später klackerte ein Schlüssel ins Schloss. Die Tür flog auf und ein Mann betrat die gute Stube des Chalets. Der Alphaduft überschwemmte Gernots Sinne. Er musste die Luft anhalten, um sich auf das Aussehen des Kerls konzentrieren zu können.
Nicht Hank. Genauso groß, wenn nicht größer, aber nicht so bullig. Schwarze wirre Locken. Und das Gesicht ...
Es war unhöflich, jemanden anzustarren, doch Gernot konnte den Blick nicht von dem Gesicht dieses Mannes wenden. Wie aus einzelnen Flächen zusammengesetzt zeigte es verschiedene Farben von blassrosa über sonnengebräunt bis weiß. Die Haut schien auch unterschiedliche Strukturen zu haben. Sah aus wie ... ein Mosaik. Genau, das war es. Ein fremdartiges, faszinierendes, wunderschönes Mosaik, das sich zu einem bemerkenswerten Gesicht mit markanter Nase und einem geschwungenen Mund zusammensetzte, das rechte Auge in einem warmen Bernsteinton, das linke von einer schwarzen Klappe bedeckt. So ein Gesicht hatte Gernot noch nie gesehen. Am liebsten hätte er gleich zu Farbe und Papier gegriffen, um es zu malen.
»Noch nie ne Monsterfratze gesehen?«, fuhr der Mann ihn an und löste ihn aus seiner andächtigen Bewunderung. Er blinzelte und stieß den angehaltenen Atem aus. Sogleich flutete der betörende Duft des Mannes seine Nase. Seit wann rochen Alphas so gut?
Er riss sich zusammen. »Hi«, sagte er möglichst lässig. »Bist du der kochende Tierarzt?«
»Der ... was?« Der Mann zog die Brauen zusammen. Eine sah aus, wie aus drei Teilen zusammengesetzt und in der Mitte fehlte ein Stück. Nun erst begriff Gernot. Das Gesicht des Mannes wirkte vermutlich auf die meisten Menschen entstellt. Der Mosaikeffekt, der ihm so gefiel, rührte von Narben und Hauttransplantationen her. Dieser Mann war es sicher gewohnt, mit Abscheu angestiert zu werden, daher seine heftige Reaktion. Menschen konnten so blind sein!
Gernot deutete auf das Bücherregal. »Na, die Bücher. Kochen, Reisen, Tiermedizin ... das hier ist doch dein Chalet, oder?«
Der Blick des Mannes huschte zum Regal und zurück zu Gernot. Die geschwungenen Lippen verliehen ihm einen leicht spöttischen Gesichtsausdruck, doch gerade jetzt sah er eher verwirrt aus, als hätte Gernot ihn aus dem Konzept gebracht.
»Hallo, ich bin Gerry«, sagte Gernot höflich in der Hoffnung, dass der Mosaik-Mann sich auch vorstellen würde. Tat er nicht. Er musterte Gernot lediglich misstrauisch.
»Darf ich erfahren, wie du heißt?«, erkundigte sich Gernot.
»Das geht dich einen Scheiß an.« Der Mann verschränkte die Arme vor der Brust. »Hör mal, Gerry. Hier liegt ein dummes Missverständnis vor. Mein Kumpel hat dich versehentlich eingeschlossen und ...«
Gernot hob die Hand. »Halt, stopp! Ich glaube, da liegst du falsch. Hast du schon mit Hank gesprochen? Ich wette, er hat mich entführt.«
»Wie kommst du denn auf den Scheiß?«
Scheiß war offenbar das Lieblingswort des Mosaik-Mannes.
»Diese Erklärung kommt mir am wahrscheinlichsten vor«, erwiderte Gernot. »Wenn du mir deinen Namen nicht verrätst, darf ich dich Mo nennen?«
»Du brauchst mich überhaupt nicht mit Namen anzureden. Los, komm, ich fahr dich nach Hause.« Mo ruckte mit dem Kopf Richtung Tür.
Gernot blieb sitzen. »Hank hat mir versprochen, dass ich ein paar Tage hierbleiben darf.« Vielleicht lag er völlig falsch mit der Entführungssache. Vielleicht hatte Hank die Tür wirklich aus Versehen abgeschlossen ... ach Blödsinn. Wesentlich logischer erschien Gernot der Schluss, dass Mo nicht mit dem Plan seines Kumpels einverstanden war und nun so tat, als wüsste er von nichts.
Leider war er kein sonderlich guter Schauspieler. Sein finsterer Blick zeigte eine Mischung aus Schuldgefühlen und Ärger. »Pech. Das ist mein Haus und ich brauche es. Such dir ein Hotel oder so. Mir egal. Ich fahr dich in die Stadt, wohin du willst.«
»Kann ich mit Hank reden?«
»Hank hat hier nichts zu sagen. Der hat schon genug Sch...« Mo unterbrach sich und stierte Gernot noch finsterer an. Mit seinem wilden Haar und der Augenklappe sah er aus wie ein Pirat.
Gernot dachte nicht daran, so schnell aufzugeben. »Wenn ich verspreche, dass ich dich nicht stören werde, darf ich dann zwei Tage bleiben?« Erstmal zwei Tage. Raufhandeln konnte er später immer noch. Wenn Mo, der Pirat, erst gemerkt hatte, was für angenehme Gesellschaft er darstellte. »Ich helfe auch beim Verfassen der Lösegeldforderung.«
»Blödsinn. Es gibt keine scheiß Lösegeldforderung. Und ich will hier meine Ruhe haben.«
»Ich werde nur ganz ruhig hier sitzen und lesen.« Wie zum Beweis hielt Gernot das Buch hoch, das er aus dem Regal genommen hatte. Mit blauen Chucks drei Wochen Backpacking durch Tibet.
Mo stöhnte eindeutig genervt. Er drehte sich um und ging zur Küchenzeile, hantierte dort herum. Gernot hörte Wasser rauschen.
»Auch einen Tee?«, fragte Mo knurrig.
Na also. Der konnte ja beinahe nett sein.
»Gerne. Am liebsten Pfefferminz.«
»Igitt. So einen Scheiß hab ich nicht da. Es gibt schwarzen Tee, entweder mit oder ohne Milch.«
»Dann mit, bitte.«
Mo lehnte sich an den Küchentresen und musterte Gernot. Er wirkte nicht mehr ganz so finster. Aber immer noch verwegen genug, um Gernots Herz schneller schlagen zu lassen. »Wieso willst du deine Zeit in einer einsamen Hütte verplempern? Hast du keine Schule?«
»Ich gehe zur Uni«, erklärte Gernot würdevoll. »Und das selbe könnte ich ja wohl dich fragen.«
»Ich hab nix Besseres zu tun.«
»Ich auch nicht.«
Sie fochten ein stummes Blickduell aus, das von dem lauter werdenden Blubbern und Zischen des Wasserkochers untermalt wurde. Das Zischen brach abrupt ab und Mo wandte sich ab, um den Tee aufzugießen. Zuerst brachte er zwei große Becher zum Wohnzimmertisch und stellte sie dort ab, ging zurück zum Kühlschrank und holte Milch. Er ließ sich in den Ohrensessel fallen und streckte die langen Beine aus.
»Na schön, ich hab Ärger mit meinem Vater«, gab Gernot zu. Er hoffte, dass er Mo mit diesem Bekenntnis leichter überreden konnte, ihn ein paar Tage hier zu dulden.
»Schlägt er dich?«
»Was? Äh ...« Gernot zögert nur kurz. »Ja, genau. Und er misshandelt mich seelisch. Ich musste da einfach weg.«
»Seelisch?«
Eigentlich konnte Gernot genauso gut die Wahrheit sagen, die war schließlich schlimm genug. »Mein Vater will mich an einen fremden Alpha verkaufen.«
»Aha.« Mo wirkte nicht sonderlich beeindruckt. Er nippte an seinem Tee, ohne eine Miene zu verziehen. »Macht man das nicht so mit Omegas?«
»Na das ist ja typisch Alpha! Bist du einer von denen, die Omegas als Menschen zweiter Klasse betrachten, die keine Rechte besitzen und deren einziger Sinn und Zweck darin besteht, Kinder in die Welt zu setzen?«
In Mos Auge blitzte es belustigt auf und Gernot erkannte zu spät, dass er ihn nur hatte provozieren wollen. »Naja, wie auch immer«, sagte er, verlegen, weil er darauf hereingefallen war. »Mein Vater hat jedenfalls viel Geld und um mal auf die Entführung zurückzukommen ...«
»Es gibt keine Entführung.« Jeglicher Ausdruck von Amüsement war aus Mos Gesicht verschwunden. »Wenn du deinen Tee getrunken hast, fahre ich dich in die Stadt.«
»Ich ... könnte auch bezahlen. Ich hab ... Moment ...« Gernot wollte seine Brieftasche aus der Gesäßtasche seiner Jeans ziehen und fühlte nur Stoff.
»Suchst du die?« Mo wies mit dem Kinn auf die Theke, die den Wohnbereich von der Küche trennte.
Da war aber nichts, Gernot hatte die Küche gründlich durchsucht.
»Hocker«, ergänzte Mo und nun sah Gernot das schwarze Leder seiner Brieftasche, das sich kaum von der Sitzfläche des Barhockers an der Theke abhob. Er sprang auf und wollte schon lossprinten, da fiel ihm ein, dass er damit einen äußerst unsouveränen Eindruck auf Mo machen würde. Aus irgendeinem Grund wollte er nicht so auf ihn wirken. Also schlenderte er zu dem Hocker, griff ohne Hast nach der Brieftasche und klappte sie auf. Kreditkarten, Führerschein, Studentenausweis, alles da. Es steckten auch noch ausreichend Scheine darin. Wie viele das waren wusste Gernot nicht, also lohnte es nicht, sie zu zählen. Er nahm sie heraus und schlenderte zurück zum Tisch, legte sie neben den Becher von Mo.
»Hier, bitte. Reicht das als Anzahlung für drei Übernachtungen?«
»Ich will dein Scheißgeld nicht.« Mit angewiderter Miene betrachtete Mo die Scheine, als hätte Gernot soeben einen Hundehaufen neben seinen Tee platziert. Ein harter Brocken. Ratlos setzte sich Gernot wieder auf das Sofa. Er war es gewöhnt, dass er mit Geld alles regeln konnte. Naja, fast. Bei der letzten Klausur hatte es nicht so gut funktioniert und ihm beinahe einen Schulverweis eingebracht. Wie hatte er auch ahnen können, dass der Dozent dermaßen spießig auf einen kleinen finanziellen Anreiz für die Vergabe einer guten Note reagieren würde?
Vielleicht wirkte bei Mo der Mitleidseffekt? Gernot versuchte, möglichst bemitleidenswert auszusehen. Er setzte seine beste Leidensmiene auf.
»Was ist los? Musst du aufs Klo?«, fragte Mo schroff.
Mist.