Kapitel 6

Gernot wurde den Verdacht nicht los, dass Hank gerade dabei war, ihn zu retten. Oder den genialen Entführungsplan, genau genommen. Mo - nein, Lui - schien ja überhaupt nicht begeistert davon zu sein. Und wie der sich aufspielte. Der kannte doch Gernots Vater gar nicht. Angst und Schrecken - pah! Das Einzige, das Waldemar von Ulenstett in Angst und Schrecken versetzen konnte, war vermutlich der drohende Verlust seiner Firma und ... Mist! Mistmistmist!

Das müde Gesicht seines Vaters stand Gernot plötzlich deutlich vor Augen. Die Art, wie er ihn in seinem Arbeitszimmer angesehen hatte ... Vor lauter Ärger über die drohende Verbandelung mit dem fremden Alpha hatte Gernot komplett den Grund für den Plan seines Vaters vergessen: Ein Zusammenschluss mit Schulze Dörenfeld ist die einzige Möglichkeit, die Firma zu retten.

Und noch ein fieses Wort blinkte vor ihm auf wie die Neonreklame auf der Bikerkneipe: Pleite!

Logischer Schluss: Wenn sein Vater pleite war, konnte er das Lösegeld nicht aufbringen. Oder hatte er vielleicht übertrieben, um Gernot davon zu überzeugen, sich dem Alpha in heldenhafter Opferbereitschaft in die Arme zu werfen? Nein, wenn es um die Firma ging, würde sein Vater sich niemals solche Scherze erlauben. Die war ihm viel zu wichtig.

Wichtiger als das Lebensglück seines einzigen Sohnes.

Gernot schluckte schwer. Sein Vater hatte sich entschieden. Für die Firma, gegen ihn. Und selbst wenn er zahlen wollte, denn er brauchte Gernot schließlich noch, um wieder zu Geld zu kommen, war es ihm vielleicht gar nicht möglich. Das hätte Gernot früher bedenken müssen. Jedenfalls, bevor er die Lösegeldsumme in den Raum geworfen hatte. Ob er Hank und Mo noch runterhandeln konnte? Oder Ratenzahlung beantragen?

Er war eben einfach dumm! Das musste er sich während seines Studiums schon jeden Tag anhören und das Blöde war, dass es stimmte. Würde sein Vater der Uni nicht ab und zu ein neues Gebäude, modernere technische Ausstattung oder zuletzt eine Schwimmhalle spendieren, wäre er schon längst geflogen. Dumm, dumm, dumm! Wütend hieb er mit der Faust auf das unschuldige Sofa. Besser, er verzog sich, bevor die Entführer in spe herausfanden, dass die Firma seines Vaters kurz vor der Pleite stand und mit Lösegeld nicht zu rechnen war.

Die Tür stand offen. Gernot sprang auf und marschierte los, doch ein Blick ins Freie reichte, um ihn seinen spontanen Fluchtversuch sogleich abbrechen zu lassen. Bäume. Und noch mehr Bäume. Und eine Art Buckelpiste, die in die Dunkelheit zwischen den Bäumen führte. Das war keine Straße, das war ein Witz. Er war mitten in der Wildnis gelandet.

Mo und Hank tauchten hinter den Autos auf und kamen auf das Chalet zu. Hank grinste wie ein Sieger und Mo verzog mürrisch den Mund, als er Gernot in der Tür entdeckte.

»Wo bin ich hier?«, rief Gernot aus. »Hier ist ja nichts! Absolut nichts!«

Mo starrte ihn an, als hätte er ihm soeben eröffnet, dass er vom Mars kam. »Nichts?«, echote er. »Hast du keine Augen im Kopf?«

»Doch, und hier ist nichts«, beharrte Gernot trotzig.

»Aber genau das wolltest du doch!«, erinnerte Hank ihn. »Ruhe zum Nachdenken an einem einsamen Ort.«

»Ja, aber doch nicht so einsam! Nicht so ... wildnismäßig. Ich dachte eher an ...« Gernot wurde klar, dass er überhaupt nicht gedacht hatte, wie üblich.

»Nichts also«, sagte Mo mit beißendem Spott. »Interessant. Du bist noch dümmer, als ich dachte.«

Obwohl Gernot genau das vorhin noch von sich selbst gedacht hatte, trafen ihn Mos Worte. Es traf ihn immer, wenn jemand das zu ihm sagte, egal ob die Profs oder seine Kommilitonen. Ja, er war dumm, aber mussten die ihm das ständig vorhalten?

»Hauptsache, reich«, sagte Gernot kühl und wandte sich ab. Er zog die Sicherheit des Chalets den grünen Untiefen des Waldes da draußen vor.

»Hey. Tut mir leid«, hörte er Mo sagen und dachte erst, er hätte sich verhört. Erstaunt drehte er sich um. Mo sah ehrlich zerknirscht aus. »Entschuldige. Du bist eben ein Stadtmensch. Ist ja klar, dass du ...«

»Ein dummer Stadtmensch«, erklärte Gernot würdevoll. »Und da wir das nun geklärt haben, können wir dann mal mit der Nachricht an meinen Vater anfangen? Ich glaube, es ist angemessen, wenn wir Buchstaben aus einer Zeitung ausschneiden und aufkleben.«

»Das ist doch ein olles Klischee«, murrte Mo. »Ich koch Tee.«

Er verzog sich zur Küchenzeile. Hank blinzelte Gernot verschwörerisch zu. »Ich bin auch für die Zeitungsbuchstaben. Dann sieht dein Vater gleich, was Sache ist. Man muss das Bier ja nicht immer neu erfinden.«

»Rad!«, rief Mo zu ihnen herüber.

»Hä?«

»Ach, vergiss es.« Mo warf ihnen eine Zeitung zu. Die war eine Woche alt. War er so lange nicht in dem Haus hier gewesen? Wo kam das frische Zeug im Kühlschrank her?

Die nächste halbe Stunde saß Gernot mit Hank einträchtig auf dem Sofa und schnipselte die Lösegeldforderung. Mo hatte sich nach draußen verzogen. Ins Nichts, wie er laut verkündet hatte.

»Warum hat ihn das so wütend gemacht?«, fragte Gernot und schnitt sorgfältig das Wort keine aus. Aus der Anzeige für einen Smartphonevertrag (Keine versteckten Kosten!) entnommen sah es nun einer Karriere als Teil einer klischeehaften Drohung entgegen (Keine Polizei!).

»Ach, Lui liebt nun mal den Wald«, sagte Hank abwesend. »Mach dir nichts draus.«

»Woher kennt ihr euch? Ihr seid so unterschiedlich.«

Hank musterte Gernot mit gerunzelter Stirn und Gernot zog unbehaglich die Schultern hoch. Das war wohl heute sein Tag der Fettnäpfchen. »Auf gute Art«, fügte er hinzu. »So ... ergänzend.«

»Ich glaube nicht, dass es gut ist, wenn du so viel über deine Entführer erfährst«, erklärte Hank unerwartet vorausschauend. »Nur für den Fall, dass du uns später noch drankriegen willst.«

Gernot legte die Schere weg und richtete sich auf. »Das würde ich niemals tun! Mein Wort gilt. Wir ziehen das zusammen durch und ich bin kein Verräter!«

»Ja, schon gut.« Hank klebte Polizei neben Gernots Keine . »Trotzdem ist es besser, wenn du nichts über uns weißt. Falls die dich später verhören.«

Darüber hatte Gernot noch gar nicht nachgedacht. Die Vorstellung, sich einem polizeilichen Verhör unterziehen zu müssen, behagte ihm gar nicht. Er tippte auf den zuletzt geklebten Teil ihrer Botschaft. »Ich überzeuge meinen Vater davon, dass es sich nicht lohnt, die Polizei nachträglich einzuschalten. Außerdem will er bestimmt einen Skandal vermeiden.«

Vorausgesetzt, er pfiff nicht auf die Anweisung und verständigte sofort die Polizei, weil er sowieso keine Möglichkeit sah, das Geld aufzutreiben. Womöglich war das Ganze hier doch keine so gute Idee gewesen. Mit gemischten Gefühlen sah er zu, wie Hank ihr nicht sonderlich kunstvolles Werk faltete und in einen Umschlag steckte. Er reichte Gernot einen Stift. »Schreib mal die Adresse drauf!«

Gernot rollte mit den Augen. Es gab tatsächlich noch jemanden, der dümmer war als er? »Na klar, damit mein Vater sofort meine Handschrift erkennt.«

»Ach ja. Dann mach ich das.«

»Dann hättest du ja auch sofort die ganze Botschaft schreiben können!«

»Hm.« Hank kratzte sich mit dem Stift am Kinn, warf ihn auf den Tisch und schnappte sich wieder die Zeitung. »Okay. Kapiert. Schreib die Adresse hier auf das Blatt, damit ich die passenden Buchstaben raussuchen kann.«

Das tat Gernot und während Hank leise vor sich hinfluchte, weil sein Name angeblich so lang war, schnitt er sich eine Strähne von seinem Haar ab.

»Was soll das denn?«, rief Mo von der Tür. Offenbar reichte ihm sein Ausflug ins Nichts.

Gernot hielt die Haarsträhne hoch. »Das ist ein Beweis, dass ihr mich wirklich gekidnappt habt.« Irgendwie kam ihm das alles so vorsintflutlich vor. Verschickten Entführer nicht heutzutage Videobotschaften, auf denen die Opfer auf einem Stuhl in einem kargen Raum hockten und mit gequälter Miene eine Zeitung mit aktuellem Datum in die Kamera hielten? Vor der nächsten Entführung musste er unbedingt recherchieren.

Unter Mos Blick wurde ihm ganz anders. Scham überflutete ihn. Er ließ die blonde Strähne auf den Tisch fallen und senkte den Kopf. Für ihn war das hier nur ein Spiel. Er dachte an all die Menschen, die wirklich entführt wurden. Die Todesangst hatten und misshandelt wurden. Von denen keine Haare, sondern Körperteile verschickt wurden und die oftmals nicht mit dem Leben davonkamen. Und er dachte an seinen Vater, der den Umschlag öffnete und auf die Locke starrte.

Aber er konnte jetzt keinen Rückzieher mehr machen, auch wenn Reue und Schuld seine Augen brennen ließen und seinen Magen verknoteten. Er musste das tun, wenn er nicht für den Rest seines Lebens das Statusobjekt eines Alphas sein wollte. Den Rest seines Lebens in Gefangenschaft zu verbringen war doch wohl wesentlich schlimmer, als seinem Vater ein paar Tage Sorgen zu bereiten.

Hank stopfte die Haarsträhne recht lieblos in den Umschlag und klebte ihn zu. »So, das hätten wir!«, verkündete er und rieb sich die Hände. »Ich muss los, hab gleich nen Job. Da werfe ich den Brief in den nächsten Kasten. Was für Porto kommt da drauf?«

»Nein, das machen wir anders«, widersprach Mo. »Vom Poststempel kann man Rückschlüsse ziehen. Ich gebe den Brief Ril mit, der kann ihn direkt in den Hausbriefkasten werfen.«

»Aber da gibt es doch bestimmt Sicherheitskameras.«

Mo und Hank sahen Gernot erwartungsvoll an.

»Ja«, sagte Gernot. »Jede Menge Sicherheitskameras.« Die er regelmäßig außer Kraft setzte, jedenfalls die eine, die sein Zimmerfenster im Visier hatte. Sein Vater sah es nicht so gerne, wenn er mitten in der Woche auf Partys ging. Dabei waren das die besten!

»Ril packt vorher Schlamm auf sein Nummernschild und in seiner Motorradkluft erkennt ihn eh keiner«, entschied Mo. Er nahm Hank den Brief aus der Hand. »Er wollte heute irgendwann vorbeikommen.«

»Wer ist das?«, fragte Gernot. »Kann man ihm vertrauen?«

Hank und Mo wechselten einen Blick. »Ja«, sagten sie gleichzeitig. Mo fügte hinzu: »Geht dich ansonsten nichts an, wer das ist. Er wird dich nicht zu Gesicht bekommen. Und du ihn auch nicht.«

Das stachelte Gernots Neugier natürlich erst recht an. Er vermutete, dass es sich bei Ril um eine Art Hausmeister handelte, der zum Beispiel für den gefüllten Kühlschrank verantwortlich war. Hank hob zum Abschied die Hand und Mo begleitete ihn aus dem Haus. Er schloss die Tür nicht und Gernot huschte los und spähte durch den Türspalt nach draußen. Mo und Hank lehnten an Hanks Schrottkarre und redeten. Hank lachte über etwas, das Mo sagte und Mo strubbelte ihm durch das kurze Haar. Ihr freundschaftliches Einvernehmen versetzte Gernot einen Stich. Er dachte an Tom. Den hatte er für seinen besten Freund gehalten, aber nach dem, was im Sloth passiert war, konnte er den wohl vergessen. Ausgerechnet Tom! Den Menschen, dem er vertraute und den er so gut kannte. Offenbar doch nicht. Wie hatte er sich so vertun können?

Zugegeben, während der letzten Wochen, oder eher Monaten, hatte er nicht viel Zeit mit Tom verbracht. Er war nun mal mit seinem Studium beschäftigt gewesen. Und damit, mit seinen neuen Freunden Party zu machen, wie er sich eingestand. Ob Tom das verärgert hatte? Er hatte nie was gesagt. Nur manchmal auf Gernots Studienkollegen herumgehackt. Na schön, einige von denen wirkten vielleicht wie arrogante Schnösel, aber ...

Die Tür traf Gernot an der Nase. Er taumelte zurück, stolperte über seine eigenen Füße und landete auf dem Hintern. Eine Hand auf die Nase gedrückt blinzelte er zu Mo hoch, der ihn verblüfft musterte. Mit einem Höllenlärm sprang draußen die Schrottkarre an.

»Ich wollte nur ...«, fing Gernot an. »Sag mal, woher kennst du Hank?«

Mo hätte ihm wenigstens mal aufhelfen können, doch er stiefelte wortlos an Gernot vorbei und stieg die Treppe hoch.

»Und wer ist Ril?«, rief Gernot ihm nach. Das konnten ja ein paar interessante Tage werden. Trotz seiner schmerzenden Nase freute sich Gernot darauf. Schließlich musste er herausfinden, wieso Mo so gut roch. Und ob er mal mit blauen Chucks durch Tibet gewandert war.