Ludwig schloss die Schlafzimmertür hinter sich. Er durchquerte den Raum, öffnete die Fenster und stieß die Fensterläden auf. Tief sog er den würzigen Waldduft ein. Er brauchte einen Moment für sich. Eigentlich brauchte er eine Woche für sich und genau das hatte er auch geplant, bis Hank ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht hatte. Auf was hatte er sich da nur eingelassen?
Dieses Chalet war sein Zufluchtsort. Bisher kannten es nur Hank und Ril und so hatte es auch bleiben sollen. Hierher zog sich Ludwig zwischen seinen Touren zurück, um Kraft zu schöpfen. Und nicht, um entführte Bonzensöhne zu beaufsichtigen. Hoffentlich reagierte von Ulenstett zügig auf die Lösegeldforderung. Hoffentlich konnte er überhaupt zahlen. So wie Ludwig der Mail seines Vaters entnommen hatte, war der Mann pleite. Sonst hätte er sich nicht auf den Deal eingelassen, seinen Sohn abzugeben. Win-Win-Situation hatte sein Vater das in der Mail genannt. Wo da allerdings der Win für Gernot sein sollte, wusste wohl niemand und es interessierte auch keinen. War ja nur ein Omega.
Ludwig stützte sich auf der Fensterbank ab. Irgendwann gegen Abend würde Ril hier auftauchen. Er hätte ihn ja gerne angerufen und ihm abgesagt, nur gab es hier kein Handynetz. Ein Umstand, den er sonst durchaus zu schätzen wusste und mit ein Grund, warum er ausgerechnet diesen Unterschlupf gewählt hatte. Also durfte er sich bald mit zwei Omegas herumschlagen. Seine Freude hielt sich in Grenzen. Für gewöhnlich schätzte er seine Nächte mit Ril, doch diesmal wünschte er sich, er würde aus irgendeinem Grund nicht zu ihrer Verabredung erscheinen. Dieser Wunsch würde vermutlich nicht in Erfüllung gehen, denn Ril war die Zuverlässigkeit in Person. Er füllte regelmäßig den Kühlschrank und Vorratsschrank des Chalets auf und kümmerte sich auch sonst um Ludwigs körperliches Wohl. In letzter Zeit sogar ein wenig zu enthusiastisch für Ludwigs Geschmack. Er würde ihn bald austauschen müssen. Nur war jemand wie Ril nicht eben leicht zu finden.
Nach den Operationen brauchte er das nicht mehr. An diesem Gedanken musste er sich festhalten. Er atmete noch einmal tief durch und war bereit, sich den verwirrenden Gefühlen zu stellen, die Gerry in ihm auslöste. Jedenfalls glaubte er das, bis er ihn auf dem Sofa sitzen sah, die Zeitung auf den untergeschlagenen Beinen und mit konzentriert gerunzelter Stirn auf einem Blatt Papier herumkritzelnd. Gerry war so versunken in seine Tätigkeit, dass er ihn gar nicht bemerkte. Außerdem wirkte er völlig entspannt und gelöst, ja, direkt glücklich. So hatte Ludwig ihn bisher nicht erlebt. Da war trotz seiner zugänglichen, vermeintlich offenen Art immer etwas Künstliches, Gezwungenes gewesen, als würde er sich nicht trauen, sein wahres Gesicht zu zeigen, als müsste er sich als jemand ausgeben, der er nicht war.
Und seit wann betätigte sich Ludwig als Menschenkenner? Er räusperte sich und brach den Bann. Gerry hob den Kopf und blinzelte, als hätte Ludwig ihn geweckt. Sofort setzte er das unschuldige Lächeln auf, das scheinbar seinen normalen Gesichtsausdruck darstellte.
»Alles okay mit deiner Nase?«, fragte Ludwig schroff.
Prompt zuckte Gerrys Hand hoch und rieb über die Nasenspitze. »Ja, alles in Ordnung. Wirst du mir erzählen, wer dieser Ril ist, oder soll das eine Überraschung werden?«
»Ich hab dir doch gesagt, dass ihr euch nicht zu Gesicht bekommen werdet.«
»Willst du mich oben im Schlafzimmer einsperren?«
»Gute Idee. Aber ich dachte an das Badezimmer. Falls du zur Toilette musst.«
»Wie rücksichtsvoll.« Gerry warf einen Blick auf das Papier, auf dem er herumgekritzelt hatte. »Willst du gar nicht sehen, was ich gezeichnet habe?«
»Nein.«
»Schade. Ist nämlich gar nicht schlecht geworden.«
Heiliger Schrott! Fiel der Kleine nun zurück in seine Kindergartenzeit und wollte überall sein Bildchen herumzeigen, um Anerkennung zu ernten?
Ludwig gab nach. »Okay, dann zeig es mir. Aber ich kleb das nicht an den Kühlschrank.«
Gerry reichte ihm das Blatt. Zuerst warf Ludwig nur einen flüchtigen Blick darauf und bereitete sich darauf vor, es mit einem mehr oder weniger höflichen Kommentar zurückzugeben. Doch den vergaß er sofort. Denn Gerry hatte ihn gezeichnet. Mit wenigen Strichen hatte er ihn eingefangen, als er draußen mit Hank am Auto gelehnt hatte. Hank war auch ganz gut getroffen. Aber Ludwig klebte an der Art fest, in der Gerry seine Haltung festgehalten hatte, die Neigung seines Kopfes, die lässig übereinandergeschlagenen Füße, das halb genervte, halb liebevolle Lächeln auf seinen Lippen. Irgendwie war es Gerry gelungen, seine Stimmung in diesem Moment darzustellen.
»Gefällt es dir?«, fragte Gerry ohne eine Spur von Unsicherheit in der Stimme. Offenbar wusste er, was er drauf hatte.
»Ja, das ist gut«, sagte Ludwig heiser. »Studierst du ... Kunst oder sowas?«
Gerry schnaubte. »Nein. Darauf kommst du nie.«
»Grafik-Design?«
»Betriebswirtschaftslehre.«
»Ah.« Behutsam legte Ludwig die Zeichnung auf den Wohnzimmertisch. »Verstehe.«
»Nein, tust du nicht«, sagte Gerry leise, ohne ihn anzusehen. Er zupfte an einem losen Faden, der aus dem Sofabezug hing. »Du denkst jetzt, ich studiere das, was mein Vater will. Aber so ist es nicht. Ich interessiere mich dafür. Und das Zeichnen ist nur ein Hobby. Damit kann ich weder Geld verdienen noch später die Firma übernehmen. Und jetzt sag bloß nicht, ich könnte das sowieso nicht, weil ich ein Omega bin. Ich werde es tun. Ich kann alles tun, was ich will. Und ich werde frei sein. Mir soll später kein Alpha vorschreiben, was ich tun oder lassen soll. Ich werde unabhängig sein. Und das könnte ich nicht, wenn ich Kunst studiere.«
Ludwig fiel kein auch nur annähernd passender Kommentar dazu ein. Er hatte Gerry unterschätzt. Hatte ihn für einen verwöhnten, feierfreudigen reichen Pinkel gehalten, der sich nur für Spaß und cooles Auftreten in den Social Medias interessierte. Der nur an sich dachte. Na gut, wenn er frei und unabhängig sein wollte, dachte er an sich, aber war das nicht sein gutes Recht? Ein Recht, das jedem Alpha von vorneherein zustand? Einem Omega aber nicht. Konnte er Gerry wirklich dafür verachten, dass er für seine Freiheit kämpfte? Allerdings behagten ihm die Mittel nicht sonderlich ... Die eigene Entführung vorzutäuschen war schon harter Tobak.
»Naja, wenn du in BWL nur halb so gut bist wie im Zeichnen ...«, sagte Ludwig lahm.
Wieder schnaubte Gerry. »Ja, das wäre wunderbar. Aber wie du vorhin schon ganz richtig festgestellt hast, bin ich dumm. Es fällt mir schwer, Zusammenhänge zu begreifen. Wenn ich Lehrbücher oder Skripte durcharbeite, verwandelt sich mein Gedächtnis in ein Sieb. Meine bestandenen Hausarbeiten hab ich alle gekauft. Also, nein. Ich bin ein total beschissener BWL-Student.«
»Tut mir leid«, sagte Ludwig ehrlich. Er hätte gerne noch hinzugefügt, dass er vermutlich aber ein großartiger Kunststudent wäre, ließ es aber.
Gerry seufzte theatralisch. »Ja, mir auch. Du verstehst das bestimmt nicht, denn als Mediziner musst du so richtig klug sein.«
»Mediziner?«
»Du bist doch Tierarzt, oder?« Gerry zeigte auf das Bücherregal.
»Ich bin LKW-Fahrer.«
Gerry hob die Brauen und nickte langsam, als glaubte er ihm kein Wort. »Alles klar. Hey, Herr LKW-Fahrer, würden Sie mir die Ehre erweisen, sich von mir zeichnen zu lassen?«
»Das hast du doch schon.«
»Nein, ich meine, mit Modellsitzen.«
»Nackt?«
Gerry verzog keine Miene. »Sehr gerne. Hab mich nicht zu fragen getraut.«
Das wiederum glaubte Ludwig ihm nicht. Zugegeben, die Vorstellung, sich als Aktmodell zu betätigen, hatte was ziemlich Erregendes.
»Wir können auch mit einem Portrait anfangen«, fügte Gerry hinzu.
»Im Ernst? Du willst diese Monsterfresse zeichnen?« Ludwig tippte sich an die Stirn.
Gerry zuckte zusammen und verzog gepeinigt den Mund. »Sag das nicht. Bitte. Siehst du dich wirklich selbst so? Ich tu’s nämlich nicht.«
»Hab ich gemerkt«, murmelte Ludwig, mehr zu sich selbst. Und er merkte es die ganze Zeit. Sonst achteten die Menschen, mit denen er redete, immer peinlich genau darauf, ihm nur nicht zu lange und auffällig ins Gesicht zu sehen. Ihre Blicke huschten nervös in der Gegend herum, als hätten sie Angst, sein Aussehen könnte sie anstecken, wenn sie zu genau hinschauten. Er wusste, dass sie nur versuchten, ihn nicht zu verletzen, doch genau das taten sie. Im Laufe der Jahre hatte er sich daran gewöhnt. Es war normal für ihn geworden. Gerry dagegen ... während sie sich unterhielten, verhielt er sich, als wäre rein gar nichts Schreckliches an Ludwigs Gesicht. Als würde es ihm sogar gefallen. In der Art und Weise, mit der sein Blick beiläufig über Ludwigs Nase glitt, sich auf sein Auge richtete oder Abstecher zu seinen Lippen machte und dort ein wenig zu lange verweilte, versetzte er Ludwig in eine Zeit zurück, in der die Menschen ihn attraktiv gefunden hatte und ihn gerne ansahen. Ein erschreckend gutes Gefühl.
»Sollen wir was kochen?«, fragte er.
Gerry strahlte. »Ja! Ich bin am Verhungern. Hab heute morgen nur ein Sandwich gegessen. Wann kommt denn Ril? Wir könnten ihn zum Essen einladen. Er ist der, der sich um dein Chalet kümmert, wenn du nicht da bist, oder? Bist du oft wochenlang unterwegs, so als LKW-Fahrer? Wohin hat dich deine letzte Tour geführt? Nein, sag nichts, ich rate. Italien? Spanien? Ha, Spanien, stimmt’s? Wie viele Stunden am Stück darfst du fahren?«
Ludwig stöhnte. »Leg mal ne Pause ein. Und beim Kochen hältst du die Klappe, sonst musst du Zwiebeln schneiden.«
»Cool! Das hab ich noch nie gemacht.«
Ludwig stöhnte erneut.
Eine halbe Stunde später schielte Gerry begehrlich zu dem Topf, der auf der Arbeitsplatte neben dem Herd stand. »Das war großartig!«, verkündete er. »Hab selten sowas Gutes gegessen.«
»Es ist nur ein Risotto. Willst du noch was?« Gerrys Blick war Ludwig nicht entgangen.
»Sollten wir nicht was übrig lassen für Ril?«
»Der steht nicht auf Risotto«, behauptete Ludwig und sah zufrieden zu, wie sich Gerry den Teller erneut volllud. Tatsächlich hatte er keine Ahnung, auf was Ril stand, wenn es um Essen ging. Interessierte ihn auch nicht. Nur keine zu enge Bindung. Sie unterhielten eine reine Geschäftsbeziehung.
»Zuhause habt ihr doch bestimmt einen Koch, oder?«, erkundigte sich Ludwig. Eigentlich interessierte ihn das auch nicht, oder jedenfalls nur ein bisschen. Vielleicht wollte er sich nur seine Vorurteile bestätigen lassen.
»Wir haben Hector. Er kocht, ist der Chauffeur meines Vaters, kümmert sich um den Garten«, gab Gerry bereitwillig Auskunft. »Aber seit ich studiere, esse ich in der Mensa der Uni. Ich hab keine Lust, mittags zum Essen nach Hause zu fahren. Reicht schon, dass ich da noch wohnen muss und keine Studentenbude beziehen darf. Und abends bin ich meistens unterwegs.«
»Lerngruppen, vermutlich«, bemerkte Ludwig trocken.
Gerry wurde nur ein klein wenig rot. »Genau. Lerngruppen. Da bestellen wir meistens Pizza oder so.« Er schob den leeren Teller von sich. »Jedenfalls nicht so gut wie das hier! Das Beste ist, dass ich das jetzt selbst hinbekomme. Glaube ich. Damit kann ich meine Freunde demnächst überraschen.« Ein Schatten flog über sein Gesicht. »Das heißt, wenn alles gut läuft und mein Vater nicht ... ach, egal.«
»Mal angenommen, dein Vater würde dich wirklich noch zwingen, den Alpha zu heiraten, müsstest du dein Studium denn dann aufgeben?«
»Was denn sonst?«, fragte Gerry düster. »Dem Alpha geht es doch nur darum, dass ich einen Adelstitel habe und ihm Zugang zu irgendwelchen gesellschaftlichen Veranstaltungen verschaffen kann. Da muss ich dann sehr wahrscheinlich immer mit. Und außerdem geht es um die Zeugung eines Erbens. Da bleibt mir wohl nicht mehr viel Zeit für ein Studium. Davon abgesehen gefällt es keinem Alpha, wenn der Omega zu viel weiß und eventuell sogar auf eigenen Füßen stehen könnte.«
»Sind ja nicht alle Alphas gleich.«
»Die ich kenne, schon. Und so, wie ich den Bauernsohn einschätze, wird er auf jeden Fall so sein. Sonst würde er sich doch gar nicht auf so etwas einlassen.«
»Vielleicht zwingt sein Vater ihn auch dazu.«
Gerry sah Ludwig forschend an. »Ist dir das passiert? Hat dein Vater dich zu etwas zwingen wollen und darum bist du jetzt LKW-Fahrer und kein Tierarzt?«
»Ich bin gerne LKW-Fahrer«, antwortete Ludwig wahrheitsgemäß. Und ja, sein Vater ärgerte sich schwarz darüber, was den Job gleich noch etwas attraktiver machte. »Was hältst du von einem Verdauungsspaziergang ins Nichts?«