Ohne große Begeisterung stapfte Gernot neben Mo durch das Laub. Er hatte nichts gegen Natur. Er joggte gerne durch den Park. Da gab es richtige Wege. Hier schlugen sie sich irgendwie durch das Unterholz. Gernot blieb mit seiner Stoffhose an einem Strauch hängen, zerrte entnervt und hörte zur Belohnung ein sattes Ratschen, als der Stoff riss.
Mo war ihm bereits mehrere Schritte voraus und drehte sich nun um. Bei ihm sah es so einfach aus, über das unebene Gelände zu wandern. Als gäbe es für ihn keine tückisch unter Laub verborgene Wurzeln und dornige Zweige, die nur darauf zu warten schienen, Gernot zu packen. »Alles in Ordnung?«
»Ja. Hab mir nur die Hose zerrissen«, murrte Gernot.
»Die ist auch nicht für einen Waldspaziergang geeignet«, teilte Mo ihm ungerührt mit.
»Ja, toll! Wie schade, dass ich meine Outdoorausrüstung zu Hause gelassen habe!«
»Du hast eine Outdoorausrüstung?« Mo hob die Brauen. »Du meinst, so eine Marken-Wanderhose mit Bügelfalten und wie geleckt aussehende Wanderschuhe?«
»Ja, genau!«, fauchte Gernot und bog einen extradornigen Zweig von seinem Gesicht weg. »Weil ich ein verweichlichter Städter bin, dem es nur ums gute Aussehen geht.«
Mo lachte gutmütig. »Sorry. Wenn wir zurück im Chalet sind, kann ich dir ne Jeans leihen. Sollen wir jetzt zurückgehen?«
»Nein.« Gernot schloss endlich zu ihm auf. »Zeig mir doch mal, was dir an dieser Wildnis gefällt. Interessiert mich wirklich.«
»Es ist jedenfalls kein Nichts.« Mo ging in die Hocke und zeigte auf eine moosbewachsene Baumwurzel. »Sieh dir das mal an.«
»Hm. Moos.«
»Nein, sieh es dir richtig an.«
Widerstrebend kauerte sich Gernot neben Mo. Er kannte Moos. Das war dieses grüne Zeug, das an feuchten Orten wuchs.
»Näher ran«, raunte Mo ihm ins Ohr. Na schön. Gernot beugte sich nach vorn, bis seine Augen nur wenige Zentimeter von dem Mooszeug entfernt waren. He, das war gar keine grüne Masse. Das waren winzige Pflänzchen. An zarten Stengeln entdeckte er hauchzarte Blüten. Es gab herzförmige Blätter und an einigen hingen Wassertropfen wie Perlen. Ein kleiner Käfer trippelte durch den Miniaturwald und bewegte die Fühler hin und her. Atemlos versank Gernot in der Betrachtung der neuen Welt, die sich ihm erschloss. Er wollte das zeichnen!
»Gerry?«, riss ihn Mos Stimme aus seiner stummen Begeisterung.
»Das ist toll«, flüsterte Gernot. Es erschien ihm passend, leise zu sprechen, als könnte er das reichhaltige Leben vor seiner Nase sonst stören. Eine Ameise ergriff beim Klang seiner Stimme die Flucht. Langsam erhob sich Gernot und achtete darauf, nicht versehentlich auf das Moos zu treten. »Gibt es das nur hier?«
»Nein. Kannst ja in Zukunft mal darauf achten. In der Stadt gibt es doch auch ein paar Grünanlagen.«
Über ihren Köpfen erklang ein stakkatoartiges Hämmern.
»Ein Buntspecht«, erklärte Mo. »Siehst du ihn? Er ist ziemlich klein. Achte auf einen roten Fleck.«
Es dauerte ein wenig, bis Gernot den Vogel entdeckte, der an den Baumstamm hämmerte. Spechte hatte er bisher nur auf Fotos gesehen. Mit neuem Interesse sah er sich um, während sie weiter durch den Wald gingen. Er nahm den würzigen Duft wahr, der sich angenehm mit dem von Mo vermischte. Sah die von den Blättern gefilterten Sonnenstrahlen, die über Rinde und Steine tanzten. An einem umgestürzten Baum betrachteten sie die große Wurzel, die halb aus dem Boden ragte. Mo zeigte Gernot einen Kiefernzapfen, der von einem Eichhörnchen angenagt worden war.
Im Laub entdeckte Gernot etwas Rötliches. »Ich glaube, da ist eins.« Neugierig trat er näher heran und erwartete, dass das Eichhörnchen oder was immer das für ein Tier war, vor ihm Reißaus nehmen würde, doch es regte sich nicht. Mit einem unguten Gefühl im Bauch beugte sich Gernot über das Tierchen. Es war wirklich ein Eichhörnchen. Schlaff lag es auf der Seite, die Augen geschlossen. »O nein«, stieß er hervor. »Ist es tot?«
Mo berührte es sacht mit den Fingerspitzen. »Nein. Vermutlich vom Baum gefallen.«
»Sowas passiert?«
»Leider ja.«
Gernot schluckte. Er fürchtete sich vor dem, was Mo als Nächstes sagen würde. Dass dies der Lauf der Natur war und sie nichts für das Tier tun konnten.
Mo zog sein Shirt aus. »Wir nehmen es mit. Ich werde versuchen, herauszufinden, was ihm fehlt.«
Mit wild klopfendem Herzen sah Gernot zu, wie Mo das Eichhörnchen behutsam in sein Shirt wickelte und hochhob. In dem Moment wäre er ihm am liebsten um den Hals gefallen und hätte ihn abgeknutscht. Auf dem Weg zum Chalet musste er sich zusammenreißen, um Mo, seinem Helden, nicht die ganze Zeit schmachtende Blicke zuzuwerfen. Zum Glück musste er sich darauf konzentrieren, wo er hintrat.
»Es ist noch ein junges Eichhörnchen«, stellte Mo fest. »Ich schätze, es ist auf den Kopf gefallen oder hat sich irgendwo oben im Baum bei einem Sprung den Kopf gestoßen. Ich seh gleich mal nach, ob Knochen gebrochen sind.«
»Musst du es dann töten?«, fragte Gernot beunruhigt.
»Was? Nein. Dann schiene ich den Bruch so gut es geht. Allerdings muss das Hörnchen dann in eine spezielle Auffangstation, in der es sich bis zur Auswilderung erholen kann.«
»Es gibt extra Stationen für Eichhörnchen?«
»Ja, für Wildtiere. Manche Leute haben sich auf Hörnchen spezialisiert. Ein Bekannter von mir hat eine große Voliere im Garten, in der zurzeit etwa zehn Eichhörnchen darauf warten, wieder in die Freiheit entlassen zu werden. Im Frühjahr kommt es oft vor, dass sie aus dem Nest fallen oder die Mutter getötet wird. Er hat viele von ihnen mit der Flasche großgezogen. Das sollte man allerdings nur machen, wenn man Erfahrung damit hat. Also, falls du mal ein Eichhörnchen finden solltest, bring es zum Tierarzt oder ruf dort an und lass dir Kontaktadressen geben.«
Gernot hatte gebannt zugehört und stellte überrascht fest, dass sie schon am Chalet angekommen waren. Nach Mos Anweisungen breitete er ein Küchenhandtuch auf der Theke aus und sah zu, wie Mo das Hörnchen vorsichtig untersuchte. Das Hörnchen regte sich und öffnete die Augen einen Spalt weit, wirkte aber benommen.
»Keine Brüche«, stellte Mo fest. »Setz doch mal den Wasserkocher in Gang, wir geben ihm gleich ein bisschen Fencheltee.«
Gernot beeilte sich. »Also eine Kopfverletzung? Wird es wieder gesund?«
»Schwer zu sagen. Könnte eine Gehirnerschütterung sein, da kann ich nicht viel machen. Hoffen wir, dass sich das Kerlchen erholt.«
»Ist das ein Männchen?«
»Ja. Höchstens ein halbes Jahr alt.«
Und unglaublich niedlich. Gernot streckte die Hand aus und berührte sacht die Puschel an den Öhrchen. Das Hörnchen zuckte mit der Nase und er zog sie rasch zurück.
»Eichhörnchen können übrigens ziemlich übel zubeißen«, teilte Mo ihm mit. Er wickelte das Tier in das Handtuch, sodass nur noch der Kopf herausschaute. Dann brachte er es zum Sofa und formte aus einer Decke ein Nest, in das er das Hörnchen bettete.
»Kennen sich alle LKW-Fahrer so gut mit Tieren aus?«, fragte Gernot. Das konnte er sich nicht verkneifen.
Mo richtete sich auf und grinste ihn an. »Einige schon. Können alle BWL-Studenten so gut zeichnen?«
Gernot erwiderte das Grinsen. »Einige schon!«
Mo deutete auf seine Hose, die nicht nur zerrissen, sondern auch verdreckt war. »Komm mit, ich geb dir was anderes zum Anziehen.«
Gernot folgte ihm die Treppe hoch ins Schlafzimmer. Er zweifelte daran, dass ihm eine Hose von Mo passen würde. Mo war nicht nur größer als er, sondern auch muskulöser. Nicht so ein Schrank von Mann wie Hank, aber doch kräftiger als Gernot. Oben im Schlafzimmer fiel Gernot sofort auf, dass die Fenster offenstanden. Er hätte sich also gar nicht wie ein Gefangener fühlen müssen, sondern einfach nur die Fenster und die Läden davor öffnen können. Zur Not hätte er sogar aus einem der Fenster klettern können ... Aus diesen Fenstern besser nicht, die lagen ein wenig zu weit über dem Boden. Dafür boten sie eine beeindruckende Aussicht ins Grüne. Nicht ins Nichts. In eine Welt voller Wunder. Gernot fühlte sich an seine ersten Tauchgänge erinnert. Dieser Wald könnte ihm nicht fremder sein als die Unterwasserwelt.
»Hier, probier mal.« Mo reichte ihm eine verwaschene Jeans, die erstaunlich passend aussah. Die gehörte eindeutig nicht ihm. Einem Lover? Diesem geheimnisvollen Ril?
Ohne sich die Mühe zu machen, ins Bad zu gehen, streifte Gernot seine ruinierte Hose ab und stieg in die Jeans. Etwas weit am Hintern aber sonst gut. Er konnte es sich nicht verkneifen, sich vor Mo einmal um sich selbst zu drehen und danach die Hände in die Hüften zu stemmen. »Und?«
»Hm.« Mo räusperte sich. »Passt, würde ich sagen.« Ein wenig zu hastig wandte er sich ab und trampelte die Treppe hinunter.
War Gernot zu weit gegangen? Er fand Mo attraktiv. Sehr sogar. Und er hatte das Gefühl, dass es Mo mit ihm ähnlich ging. Das war neu für ihn. Sonst brachte er Alphas nur Abneigung entgegen. Er blieb lieber in seinem Freundeskreis, der nur aus Omegas bestand. Bisher hatte er fest daran geglaubt, dass er sich nie auf einen Alpha einlassen würde. Mo brachte seinen Entschluss ganz schön ins Schwanken. Er dachte an einen Spruch, den jeder Omega kannte: Zeig niemals auch nur das leiseste Interesse an einem Alpha, wenn du nicht bereit bist, bis zum Äußersten zu gehen.
Oder auch die derbere Variante: Flirte nie mit einem Alpha, wenn du nicht ficken willst.
Alphas waren triebgesteuert. Wenn sie erst auf Touren gebracht worden waren, konnten sie sich nicht beherrschen. Da half auch kein Nein mehr. Und Schuld war immer der Omega, der es hätte besser wissen müssen. Der es doch eigentlich gewollt hatte.
Gernot wusste nicht, was er wollte. Aber umso besser, was nicht. Nämlich der Besitz eines Alphas zu sein und sich von ihm bevormunden lassen.
Und bis zum Äußersten gehen mit Mo?
Die Vorstellung reizte ihn viel zu sehr. Besser, er dachte nicht weiter darüber nach.
Unten duftete es nach Fencheltee. Mo stand hinter der Küchentheke und sah auf, als Gernot die Treppe herunterkam. »Möchtest du Tee? Ist zwar kein Pfefferminz aber auch so ein Krankheitszeug.«
»Och, so eine Tasse würde ich wohl nehmen.«
Mo schenkte ihm Fencheltee aus der Kanne in einen Becher und kippte auch ein wenig auf eine Untertasse. »Zum Abkühlen«, erklärte er. »Wir dürfen dem Hörnchen nicht zu viel geben, das wäre schädlich. Mal sehen, ob es ein paar Tropfen nimmt.«
Mit dem Becher in der Hand schlich sich Gernot ans Sofa. Das Hörnchen lag eingemummelt da, die Augen geschlossen. Die Schnurrhaare an seinem Schnäuzchen zitterten sacht.
»Möchtest du es halten, während ich ihm den Tee gebe?«, fragte Mo.
»Oh! Ja«, flüsterte Gernot.
»Willst du Handschuhe anziehen?«
»Nein, ich passe auf.« Gernot setzte sich auf das Sofa und nahm das in das Handtuch gewickelte Tier auf den Schoß. »Ein Eichhörnchenburrito.«
Mo lächelte. Er tunkte den Finger in den Tee auf der Untertasse und näherte ihn dem Hörnchen, hielt ihm den Tropfen ans Maul. Zuerst reagierte das Hörnchen nicht, dann zuckte eine winzige rosa Zunge hervor und leckte den Tropfen ab. Mo gab ihm noch einen. »So, das reicht erst mal.«
Vorsichtig legte Gernot das Eichhörnchen zurück in das Deckennetz. »Schlaf gut, Burrito.« Verlegen biss er sich auf die Lippe. Nun würde Mo ihm erklären, dass er dem Hörnchen besser keinen Namen gab, weil es ein Wildtier war. Nichts, woran er sein Herz hängen durfte.
»Schöner Name«, sagte Mo völlig ernst, nur seine Augen funkelten schelmisch. »Magst du mexikanisches Essen?«
»Und wie. Kommt gleich nach Pizza.«
»Wir können morgen Burritos machen, wenn du Lust hast.«
Morgen. Gernot wurde klar, dass er wirklich einige Tage hier verbringen würde. Allein mit Mo. Warum schlug sein Herz plötzlich so schnell?
»Das wär super«, sagte er. Er zögerte. »Es tut mir leid, dass ich dich Mo genannt hab. Das ist nicht dein Name und es war übergriffig und gedankenlos von mir. Und es tut mir leid, dass ich dir deine freien Tage hier versaue.«
Mo hob die Brauen. »Immerhin werde ich reich dafür entlohnt.«
Da war sich Gernot leider nicht so sicher.
»Wie bist du auf den Namen Mo gekommen?«, wollte Mo wissen.
»Och, das ...«
In dem Moment hörte er das lauter werdende Dröhnen eines Motorrads.
Mo, nein, Lui, stand auf. »Das ist Ril.«
»Also sperrst du mich jetzt im Bad ein?«
Lui musterte ihn durchdringend. »Versprichst du, nichts von der Entführung zu sagen?«
»Klar! Versprochen!«
»Du bist ein Bekannter von Hank, der ein paar Tage hier zu Gast ist, um für eine wichtige Uniprüfung zu lernen.«
Vermutlich sollte Gernot das wirklich tun. Er nickte. »Aber wird Ril es nicht seltsam finden, wenn er einen Umschlag mit aufgeklebten Buchstaben irgendwo einwerfen soll, nachdem er sein Nummernschild mit Matsch unkenntlich gemacht hat?«
Lui fluchte.