Kapitel 10

Ril blieb stehen. »Entführt wie in ...« Er malte Gänsefüßchen in die Luft. »... entführt?«

Ludwig verzog das Gesicht. »Ich hasse es, wenn du das machst. Ja, wie in entführt mit Lösegeldforderung und allem drum und dran.«

»Ein Entführungsopfer hab ich mir irgendwie anders vorgestellt.« Ril ging weiter. Besonders überrascht oder gar schockiert wirkte er nicht, eher so, als würde er das für einen guten Witz halten. »Oder ... Moment! Das ist so ein Dark-Romance-Ding, oder? Wie in diesen Romanen, in denen jemand von einem heißen Kerl entführt wird und sich in ihn verliebt, weil er so ein sexy Bad Boy ist?«

»Solche Romane kenne ich nicht.«

»Echt nicht? Scheint mir nämlich, als hättest du dich von ihnen inspirieren lassen.«

»Gerry wird sich nicht in mich verlieben«, stellte Ludwig klar. »Und das war auch nicht meine Idee. Hank hat ihn angeschleppt. Ich wollte ihn loswerden, aber er hat Stress mit seinem Vater und möchte ihm was heimzahlen. Darum spielt er mit.«

»Bist du sicher?« Ril warf Ludwig einen vielsagenden Seitenblick zu. »Dein süßes Entführungsopfer machte mir nämlich eben den Eindruck, als ob du ihm ziemlich gut gefallen würdest. Der Kleine steht auf dich. Ich wette, er kennt die Dark-Romance-Geschichten und wartet nur darauf, dass du seine geheimen Lüste befriedigst.«

Die Situation war ernst genug, trotzdem prustete Ludwig los. »Geheime Lüste? Sag mal, wie viele von den Schnulzen hast du denn gelesen?«

»Das sind keine Schnulzen. Das ist gute Unterhaltungsliteratur. Ich finde, du machst dich gar nicht so schlecht als Bad Boy. Gib es zu, du stehst doch auch auf Gerry.«

»Tu ich nicht«, widersprach Ludwig reflexartig. »Ich kenne den doch erst seit heute Morgen.«

»Das heißt doch nichts. Weißt du echt nicht, wie das so läuft mit Alphas und Omegas? Wenn die Chemie stimmt, spielen die Hormone verrückt. Bei euch beiden stimmt die Chemie.«

»Bei mir spielt gar nichts verrückt«, behauptete Ludwig. »Und bei Gerry auch nicht.« Obwohl es vorhin im Schlafzimmer einen Moment gegeben hatte ... rasch drängte Ludwig jeden Gedanken in diese verbotene Richtung zurück. Dass er Gerry mehr oder weniger gegen seinen Willen hier festhielt, war eine Sache. Naja, eher nicht gegen seinen Willen. Aber wie dem auch sei. Auf jeden Fall befand sich Gerry in einer Notlage. Er suchte hier im Chalet Schutz und das, was er am wenigsten brauchen konnte, war ein notgeiler Alpha, der in übelster Bad-Boy-Manier über ihn her fiel.

»O doch!« Offenbar fand Ril zunehmende Gefallen daran, ihn und Gerry zu verkuppeln. »Und du musst zugeben, dass er heiß ist! Sag jetzt nicht, er ist nicht dein Typ.«

»Ist er nicht. Er ist ein verwöhnter Schnösel.«

»Ein sympathischer verwöhnter Schnösel. Wie niedlich er sich über das Eichhörnchen gefreut hat. Das hat dich nicht kalt gelassen, ich hab es gesehen.«

Ludwig stapfte schneller durch eine schlammige Stelle, doch Ril blieb ihm mit weit eleganteren Schritte auf den Fersen. »Hast du Schiss, Eisprinz?«

»Wie nennst du mich?«, grollte Ludwig.

»Eisprinz.« Ril ging rückwärts vor ihm her, um ihm ins Gesicht sehen zu können, und brachte das Kunststück fertig, nicht dabei zu stolpern. »Nie zeigst du Gefühle. Bleibst immer cool. Ich wette, du pinkelst sogar Eiswürfel. Und jetzt hast du Angst, dass Gerry dich auftauen könnte.«

Ludwig blieb stehen. Es machte ihn nervös, dass Ril so vor ihm her hüpfte und noch mehr beunruhigten ihn seine Worte. »Da ist übrigens noch was.« Nun konnte er ihm auch alles sagen. Vielleicht wusste Ril sogar einen Rat, wenn er sich schon ungefragt als Psychologe betätigte. »Mein Vater hat sich in den Kopf gesetzt, in die höhere Gesellschaft aufzusteigen und träumt von Verbindungen in Adelskreise inklusive einem blaublütigen Enkel. Darum will er mich mit einem hochwohlgeborenen Omega verbandeln.«

Ril öffnete seine ohnehin großen Augen noch weiter. »Oho! Darf man gratulieren?«

»Darf man nicht!«, fuhr Ludwig ihn an. »Denkst du, ich lasse mich darauf ein? Zwinge einen Omega, mich zu heiraten, der das gar nicht will?«

»Hm, nein«, gab Ril zu und Ludwig atmete auf. Wenigstens etwas. »Lass mich raten. Besagter Adelsspross ist Gerry.«

»Wie kommst du denn darauf?«

»Weil ich selbst manchmal in der höheren Gesellschaft verkehre. Als Escort für einen übrigens sehr lieben schon ziemlich betagten Herzog, der es liebt, die feine Gesellschaft ein wenig zu schockieren. Da hab ich deinen Gerry ab und zu gesehen. Ist aber schon ein seltsamer Zufall, dass Hank gerade ihn als Entführungsopfer auserkoren hat, oder?«

»Allerdings. Zu unrealistisch für deine Dark-Romance-Romane?«

Ril winkte ab. »Nö. Passt. Die müssen nicht realistisch sein. Dachte ich zumindest. Bis du und Gerry mich eines Besseren belehrt habt.« Er zwinkerte Ludwig zu. »Es tut mir echt leid, dass ich euch jetzt störe. Vielleicht sollte ich doch fahren. Es ist beinahe Vollmond und ...«

»Auf keinen Fall.« In Ludwigs Fantasie tauchten schon Bilder eines verunfallten, bewusstlos im Wald liegenden Rils auf. »Mehr fällt dir dazu nicht ein?«

»Doch. Einiges. Dass ihr gut zueinander passt.«

»Was? Der Schöne und das Biest, oder wie?«

»Du bist manchmal echt blöd.« Ril wandte sich ab und nun musste sich Ludwig beeilen, mit ihm Schritt zu halten. Es war mittlerweile so dunkel geworden, dass sie kaum noch erkennen konnten, wo sie hintraten. Keine gute Idee, ohne Lampe Offroad durch einen Wald zu marschieren.

»Gehen wir zurück«, entschied Ludwig. »Und kein Wort davon zu Gerry, klar?«

»Dass du auf ihn stehst?«

»Dass ich der brutale Bauer bin, der ihm aufgezwungen werden soll und wegen dem er Zoff mit seinem Vater hat.«

Ril lachte los. »Brutaler Bauer?«

»Das waren seine Worte.«

Eine Weile kicherte Ril vor sich hin, dann griff er nach Ludwigs Arm. »He, warum tut ihr euch nicht zusammen? Sag ihm die Wahrheit. Irgendwie könnt ihr eure Väter doch sicher austricksen. Auch ohne diese Entführungssache.«

»Ich fürchte, der Zug ist abgefahren. Wenn Gerry herausfindet, dass ich ihm die ganze Zeit verheimlicht habe, wer ich bin, wird er auf mich noch wütender sein als auf seinen Vater. Zu recht.«

»Ach was. Irgendwann erfährt er es doch sowieso. Er braucht dich nur zu googeln, wenn er wieder Netz hat.«

»Es gibt keine Fotos von mir im Internet. Jedenfalls keine, die nach dem Unfall gemacht worden sind.« Höchstens ein paar Berichte über das mysteriöse Verschwinden des Sohnes des reichen Unternehmers Schulze Dörenfeld. Ironischerweise kamen damals auch Gerüchte über eine eventuelle Entführung auf, doch nach ein paar Tagen war er vergessen gewesen, abgelöst von interessanteren Meldungen der Klatschpresse.

Ril hielt immer noch seinen Arm umfasst, obwohl er trittsicher neben ihm her ging. »Du brauchst das Geld für die Operationen, oder?«, fragte er mit veränderter Stimme. Ernster und gleichzeitig sanfter, als Ludwig ihn je gehört hatte.

»Woher weißt du denn das schon wieder?«, murmelte er widerwillig. So langsam hatte er das Gefühl, dass Ril ihn wesentlich besser kannte als umgekehrt.

»Von Hank. Aber ich hätte es mir sonst auch schon gedacht. Du redest zwar nie darüber, Mr. Obercool, aber denkst du, ich merke nicht, wie dir dein Aussehen zu schaffen macht? Keine Sorge, ich halte dir jetzt keinen Vortrag über innere Werte und dass ich finde, was für ein heißer Kerl du bist. Aber hast du schon mal darüber nachgedacht, was nach den Operationen sein wird? Werden die dich zufrieden und glücklich machen?«

»Sagt der Mangaboy mit dem makellosen Gesicht«, knurrte Ludwig. »Was würdest du denn machen, wenn du plötzlich entstellt wärst?«

»Mein Aussehen ist mein Kapital«, sagte Ril schlicht. »Auf jeden Fall müsste ich mir andere Jobs suchen. Aber du ...«

»Ach, du meinst, als Tierarzt kommt es nicht so drauf an, dass ich wie ein Monster aussehe?«

Ril ließ seinen Arm los, nur um ihm einen kräftigen Boxhieb zu versetzen. »Noch so ein Spruch und ich fahre doch«, drohte er. »Und im Prinzip hast du recht. Du hast früher eine Menge cooler Sachen bewirkt. Wichtige Sachen. Das kannst du immer noch, nur, dass du mittlerweile so auf dein vermeintlich schlimmes Aussehen fixiert bist, dass du dich in deiner Höhle aus Selbstmitleid verkriechst und den Kontak zu anderen Menschen meidest.«

»Bisher hat es dir in meiner Höhle aus Selbstmitleid immer ganz gut gefallen«, erwiderte Ludwig beißend, um zu verbergen, wie sehr ihn Rils Worte trafen.

»Das tut es auch immer noch. Nur, ist es nicht langsam an der Zeit, diese Höhle zu verlassen?«

»Für dich vielleicht.«

»Ja, das hab ich mir schon gedacht.« Und wieder schlich sich ein Ton in Rils Stimme, den Ludwig so noch nicht von ihm kannte. »Du brauchst mich nicht mehr.«

»Weil ich mir nach den Operationen keinen Sex mehr kaufen muss?«

Kaum hatten die Worte Ludwigs Mund verlassen, hätte er sie am liebsten zurückgenommen. Und sich kräftig in den Hintern getreten. Er hörte Ril neben sich scharf einatmen und dachte nur, bitte, sei nicht beleidigt, nicht beleidigt genug jedenfalls um dich auf dein verdammtes Motorrad zu schwingen und zu fahren, weil ich mir nie verzeihen könnte, wenn dir etwas passiert. Bitte nicht.

»Ja, genau«, hörte er Ril mit flacher Stimme sagen. »Aber das musst du jetzt auch nicht. Musstest du noch nie. Auch, wenn du es nicht willst, könntest du zum Beispiel jederzeit Sex mit Gerry haben. Du bräuchtest ihn nur ein wenig zu ermutigen.«

Ludwig wollte protestieren, ihm erklären, dass er Gerry auf keinen Fall zu irgendetwas ermutigen und seine Notlage ausnutzen würde, doch darum ging es gar nicht. Es ging um ihn und Ril und es schmerzte ihn, dass er Ril das Gefühl gegeben hatte, nichts weiter als ein Stricher für ihn zu sein. Er war wohl wirklich ein eiskaltes Arschloch. Zumindest benahm er sich so.

»Es tut mir leid ...«, fing er an, doch Ril unterbrach ihn.

»Muss es nicht. Ich wusste von Anfang an, woran ich bei dir bin. Ich bin Profi. Du bist mein Kunde. Nichts weiter. Und jetzt reden wir nicht mehr darüber. Keine Sorge, ich verrate Gerry nichts. Verschwiegenheit gehört bei mir auch zum Geschäft.«

Nun klang er wieder so, wie Ludwig ihn kannte. Locker, lässig, robust. Doch für einen Moment hatte Ludwig den anderen Ril hinter der Maske gesehen, den verletzlichen, der eben nicht so professionell war, wie er tat.

Den restlichen Weg zur Hütte legten sie schweigend zurück. Licht fiel aus den Fenstern und ließ sie heimelig wirken. Ludwigs Zuflucht. Seine Höhle aus Selbstmitleid? Kopfschüttelnd stieß er die Tür auf. Sowas brauchte er doch nicht. Er brauchte ...

Sein Blick fiel zuerst auf Gerry, der auf dem Sofa saß, eine Decke auf dem Schoß und auf dieser Decke lag zusammengerollt das Eichhörnchen und schlief. Gerry sah auf und legte einen Finger auf die zu einem andächtigen Lächeln verzogenen Lippen und das einzige, was Ludwig in dem Moment denken konnte, war: Ich brauche dich. Gerry. Verwöhnt und unbedarft und viel zu vertrauensselig. Und so liebenswert, dass er selbst ein Eisherz zum Tauen bringen konnte.