Kapitel 11

Gernot wünschte sich seine Ölkreiden herbei. Oder seine Aquarellfarben. Ja, Aquarell wäre gut, um Ril zu malen, als Meermann, im Wasser, schwerelos schwebend und das Haar wie ein Fächer hinter ihm ausgebreitet, in allen Meeresfarben changierend ...

»Noch Salat?«, fragte der Meermann ihn und er zuckte ertappt zusammen. Er schüttelte den Kopf und sein Blick huschte verstohlen zu Lui. So wunderschön und faszinierend Ril auch sein mochte, es war Lui, der Gernots Künstlerseele ansprach. Den er dauernd anschauen musste.

Genau, Künstlerseele.

Gernot musste über sich selbst grinsen. Als ob! Klar wollte er Lui zeichnen. Wer würde das nicht? Doch es ging ihm um mehr. Und etwas völlig anderes, was absolut verpönt war und weshalb es wohl besser war, wenn Lui ihm niemals Modell sitzen würde. Das Berühren der Models war tabu. Doch genau danach sehnte sich Gernot. Er wollte Lui nah sein, ihn spüren, und von ihm berührt werden. Er wollte die Nase an seinen Hals drücken und diesen verführerischen Duft tief einatmen, bis er ihn ganz erfüllen würde ...

»Bist ein Träumer, was?«

Erneut riss ihn Rils Stimme aus seinen Fantasien. »Ich? Nein. Ich dachte nur ... an Burrito.« Verlegen stocherte er in dem Salat auf seinem Teller herum. Nach dem Risotto hatte er eigentlich gar keinen Hunger, aber er mochte es, mit Lui und Ril an der Küchentheke zu sitzen und zu essen und zu reden. Obwohl er bisher kaum etwas zum Gespräch beigetragen hatte. Lui auch nicht. Und Ril erzählte zwar irgendwas von einem lustigen Briefkurierauftrag, schien aber nicht ganz bei der Sache zu sein. Seit er mit Lui von ihrem Spaziergang zurückgekommen war, hing ein Gewitter in der Luft. Anders konnte Gernot das nicht beschreiben. Ohne Ril zu kennen, merkte er, dass ihn etwas bedrückte, auch wenn er versuchte, es zu überspielen. Diese Mühe machte sich Lui gar nicht erst. Er starrte düster auf seinen leeren Teller. Ob die beiden Streit gehabt hatten? Wegen ihm? Waren sie ein Paar? So kamen sie ihm nicht vor. Ex-Paar?

Ril war nun auch in Schweigen verfallen und er hielt es nicht mehr aus. »Seid ihr zusammen?«, platzte er heraus. »Oder wart ihr es mal?«

Lui und Ril sahen sich an. Ril belustigt, Lui finster.

»Aber das geht mich nichts an«, fuhr Gernot hastig fort. »Ich dachte nur ... weil ... hier gerade ziemlich dicke Luft herrscht.«

»Tut mir leid, dass wir deinem Harmoniebedürfnis nicht gerecht werden können«, blaffte Lui ihn an.

Gernot zog die Schultern hoch und hätte sich am liebsten irgendwo verkrochen. Nun war zumindest Lui auch noch wütend auf ihn. Ja, es stimmte, er mochte es harmonisch. Was war schlimm daran?

Lui sah Ril herausfordernd an. »Sag du’s ihm!«

»Lui, hör auf damit«, erwiderte Ril scharf. Nun legte auch er seine fröhliche Maske ab.

»Ist dir das peinlich? Du gehst doch mit allem so offen um«, spottete Lui. Er wandte sich an Gernot. »Es ist nämlich so, dass ich Ril nicht nur dafür bezahlt habe, dass er ab und zu meinen Kühlschrank hier auffüllt, sondern auch dafür, dass er mit mir Sex hat.«

Oh! Gernot kam sich mal wieder unglaublich dumm vor. Er sah weder Lui noch Ril an, starrte konzentriert auf die Küchentheke. »Ja, dann ...«, murmelte er. Könnte sich jetzt bitte der Boden unter ihm auftun?

»Ja, genau«, hörte er Ril sagen, ebenfalls spöttisch. »Und bisher war das auch nie ein Problem für Lui. Nur, dass es plötzlich eins zu sein scheint und ich habe keine Ahnung, wieso!«

»Das gleiche könnte ich von dir behaupten!«, konterte Lui. »Du tust doch auf einmal so, als wäre zwischen uns mehr als eine Geschäftsbeziehung.«

»Ach ja, wann denn?«

»Den Eindruck habe ich sowieso schon länger. Ich denke seit einiger Zeit darüber nach, das hier zu beenden. Hätte ich das mal lieber längst getan.«

»Ja, das hättest du wohl mal lieber!« Ril sprang auf und stürmte aus dem Haus. Er schloss die Tür leise hinter sich, vermutlich, um Burrito nicht zu wecken, was es noch schlimmer machte.

»Warum hast du das gesagt?«, fuhr Gernot Lui an, der zusammengesunken auf seinem Hocker saß. »Hast du nicht gewusst, wie sehr du ihn damit verletzt?«

»Vielleicht wollte ich das ja«, knurrte Lui, doch der Schmerz in seinen Augen hielt Gernot davon ab, ihm eine passende Antwort darauf zu geben.

»Na los, geh ihm nach!«

Lui zögerte.

»Vielleicht fährt er doch mit dem Motorrad los. Das ist jetzt viel zu gefährlich, oder?«

»Der fährt nicht los. Er hat weder seine Lederkombi an noch seinen Helm auf.« Lui warf einen Blick zur Tür. »Scheiße, er hat nicht mal Schuhe an!« Nun sprang er doch auf und verließ ebenfalls das Chalet.

Seufzend stützte Gernot das Kinn in die Hände. Er mochte keinen Streit. Doch da war noch etwas, das an ihm nagte. Eifersucht. Schon als Ril das Chalet betreten hatte, hatte er sie gespürt, die Vertrautheit zwischen ihm und Lui. Sie lag in jedem Blick, jeder Geste. Er war sich nicht sicher, ob sie auf Liebe oder Freundschaft basierte oder etwas anderem, das er nicht kannte, aber er wollte es auch. Und zwar mit Lui.

Er dachte an Tom, an den blöden Streit und wie entsetzt Tom ihm nachgesehen hatte, nachdem er in Hanks Auto gestiegen war. Tom machte sich bestimmt Sorgen um ihn und er konnte sich nicht mal bei ihm melden. Er hätte nicht einfach so wegrennen dürfen. So wie Ril es eben getan hatte. Und wie Lui war auch Tom ihm nachgelaufen, doch er hatte ihn ignoriert. Er wusste nicht mal mehr genau, worum es in ihrem Streit gegangen war. Ach doch. Zufällig um genau das. Ums Weglaufen. Nun glaubte er zu verstehen, worauf Tom hinausgewollt hatte. Es war ihm nicht darum gegangen, dass Gernot sich dem Willen seines Vaters unterordnen sollte. Tom hatte ihn nur zum Nachdenken über sein Verhalten bewegen wollen. Und vermutlich hatte er ihn auch davon abhalten wollen, leichtfertig etwas Dummes zu tun. Wie zum Beispiel, zu einem fremden Alpha ins Auto zu steigen und sich entführen zu lassen.

Ril kam wieder rein. Er schloss die Tür hinter sich und schaute sofort zum Sofa, auf dem Burrito immer noch schlief. Vermutlich wäre es so ziemlich jedem an seiner Stelle egal gewesen, ob irgendein Eichhörnchen ausbüxte, während er die Tür aufmachte. Aber ihm war es nicht egal und dafür mochte Gernot ihn.

»Lui hat sich entschlossen, das Chalet diese Nacht uns zu überlassen«, verkündete Ril. »Er schläft im Auto.«

»Was? Aber ...« Dazu fiel Gernot nichts mehr ein.

»Ja, was soll ich sagen?« Ril hob die Schultern. »Er ist LKW-Fahrer. Er ist es gewohnt, auf engem Raum zurecht zu kommen.«

»Das da draußen ist aber kein LKW.«

»Gut erkannt.« Ril setzte sich zu Gernot an die Theke. »Ich fürchte nur, er hat erstmal so die Schnauze voll von mir, dass er sich lieber eine Laubhütte im Wald bauen würde, als die Nacht mit mir unter einem Dach zu verbringen.«

»So schlimm?«

Ril grinste schief. »Eigentlich nicht. Ich finde es sogar gut. Endlich zeigt der Eisprinz mal Gefühle. Da soll er ruhig eine Weile wütend auf mich sein.«

»Bist du auch wütend auf ihn?«

Ril zog nachdenklich die Nase kraus. »Hm. Vorhin war ich es. Es hat mich verletzt, als Lui behauptet hat, dass uns nichts weiter verbindet als eine Geschäftsbeziehung.«

»Du weißt, dass es nicht wahr ist, oder?«

Überrascht sah Ril Gernot an. »Ja. Wenn sogar dir das auffällt ...«

»Du meinst sogar mir wie in sogar einem dummen BWL-Studenten?«

»Nein, Schlauberger. Jemandem wie dir, der Lui gerade mal ein paar Stunden kennt.«

»Hat er dir das mit der Entführung erzählt?«

»Ja. Ziemlich schräg. Hältst du das echt für eine gute Idee?«

»Nein, nicht mehr«, gab Gernot zu. »Aber ich kann doch jetzt keinen Rückzieher machen. Lui und Hank verlassen sich darauf, dass ich mitspiele und sie haben das Geld vermutlich schon verplant.«

»Du hast keine Ahnung, wozu Lui das Geld verwenden will, oder?«

»Nein.« Gernot deutete auf das Bücherregal. »Zum Reisen, schätze ich. Er hat jede Menge Reisebücher da rumstehen.«

»Sonst fällt dir nichts ein?« Ril musterte Gernot forschend.

Gernot fühlte sich wie bei einer Prüfung. Und er hatte das dumme Gefühl, dass es sich auf seine Beziehung zu Ril und Lui auswirken würde, ob er sie bestand. Fieberhaft ließ er den Blick durch das Chalet schweifen. Einen neuen LKW? Nein, den bekam Lui sicher von seinem Chef gestellt. Ha, er hatte eine Idee! »Eine Tierarztpraxis!«, entfuhr es ihm. »Lui will eine eigene Praxis mit dem Geld eröffnen. Oder zumindest als ersten Grundstock dafür verwenden.«

Ril schenkte ihm ein warmes Lächeln. »Du bist toll, Gerry, weißt du das?«

Gernot sank der Mut. »Du meinst eigentlich dumm, oder? Ich sollte wissen, wofür Lui das Geld braucht aber ich komme nicht darauf. Weil ich dumm bin.«

»Nein. Weil du ein ungewöhnlicher und wundervoller Mensch bist und genau der Richtige für Lui.«

Gernot kippte fast vom Hocker. »Wieso?«, stotterte er. »Du kennst mich doch gar nicht!«

»Muss ich auch nicht. Mir reicht, zu wissen, wie du Lui siehst.«

Gernot musste das erst mal sacken lassen. Schließlich fragte er unsicher: »Verrätst du mir denn trotzdem, wofür er das Geld braucht?«

»Ja, klar.«

»Nur, wenn du kein Geheimnis ausplauderst.«

Ril zauste sanft Gernots Haar, wie er es vorhin bei Lui gemacht hatte. »Das ist kein Geheimnis. Ich schätze mal, so gut wie jeder wäre darauf gekommen. Und du bist es nicht, weil du dumm bist oder so, bitte denk das nicht. Lui will das Geld nehmen, um sich operieren zu lassen.« Nach einem prüfenden Blick auf Gernot fügte er hinzu: »Sein Gesicht. Für dich ist es offenbar unwichtig, aber die meisten, einschließlich ihm selbst, halten sein Gesicht für entstellt.«

»Das Mosaik«, flüsterte Gernot. Er verstand. Und verstand es doch nicht. »Aber das hätte ich schon wissen müssen. Ich hätte daran denken müssen, dass er unter seinem Aussehen leidet. Das ich nicht darauf gekommen bin, war unsensibel von mir.«

»Es zeigt vor allem, dass du ihn anders siehst.«

»Das liegt daran, dass ich Künstler bin«, sagte Gernot und zu spät fiel ihm auf, wie überheblich das klingen mochte. »Also, was heißt Künstler«, berichtigte er sich. »Ich male und zeichne ganz gern. Da sehe ich vieles mit anderen Augen.«

»Es liegt vor allem daran, dass du einen Blick für das Wesentliche hast«, behauptete Ril. »Naja, das ist vermutlich dieser Künstlerblick, oder? Und sei nicht so bescheiden. Ich wette, du bist gut.«

Gernot stand auf und schlich zum Wohnzimmertisch. Er nahm das Blatt mit der Zeichnung von Hank und Lui und reichte es Ril. Der betrachtete es genau. Und schüttelte den Kopf. »Nein, du bist nicht gut«, sagte er und Gernot kämpfte gegen Enttäuschung an. »Du bist großartig!«, fuhr Ril fort und strahlte ihn an. »Das ist unglaublich! Das hier ...« Er schwenkte die Zeichnung. »Das sind Lui und Hank. Du hast sie mit nur wenigen Strichen so aufs Papier gebannt, dass sie es wirklich sind, verstehst du? Das ist schon beinahe magisch! Ach was, beinahe. Es ist Magie. Du bist ein Künstler, ein Zauberkünstler.«

Hitze stieg Gernot ins Gesicht. »Ach ... das ...«, stotterte er verlegen.

»Das. Ist. Großartig«, wiederholte Ril.

Wie vorhin bei Lui fürchtete Gernot, er würde ihn fragen, warum er BWL studierte und nicht Kunst oder etwas in der Art. Aber wie Lui fragte auch Ril nicht. Er betrachtete nur weiter das Bild und ein bewunderndes Lächeln spielte um seine Lippen.