Ludwig hatte vergessen, wie unbequem es war, im Auto zu schlafen. Die Zeiten als junger Backpacker waren eindeutig vorbei. Ob er auf die Rückbank wechseln sollte? Schlimmer, als auf dem bis zum Anschlag zurückgeschraubten Beifahrersitz konnte es nicht werden. Außerdem hatte er die nächtlichen Temperaturen falsch eingeschätzt. Im LKW genoss er den Luxus einer Standheizung. Wenn er hier im Auto heizen wollte, müsste er den Motor anlassen. Davon abgesehen, dass er sich die Blöße nicht geben wollte, widerstrebte es ihm, die gute Waldluft mit Abgasen zu verpesten, nur weil er fror. Was für ein Weichei war er eigentlich?
Und wenn er sich kurz ins Haus schlich und wärmere Sachen aus dem Schlafzimmer holte? Er wusste nicht mal, ob Ril oder Gerry im Schlafzimmer pennten. Oder beide?
Es lag nicht an der Kälte, dass er nicht schlafen konnte. Auch nicht an den beengten Platzverhältnissen. Es lag daran, dass er sich dafür schämte, wie er mit Ril geredet hatte. Was er ihm an den Kopf geworfen hatte. Er verdiente eine Nacht im Auto. Sobald er die Augen schloss, sah er wieder Rils Gesicht vor sich. Seinen verletzten Blick. Stöhnend drehte er sich auf die Seite. Auch nicht besser. Irgendwo hämmerte ein Specht. Seltsam. Nein, da klopfte jemand an die Autoscheibe. Er kurbelte das Fenster runter und sah in Rils Gesicht, beleuchtet vom Schein eines Handydisplays.
»Komm rein«, sagte Ril. »Du brauchst nicht im Auto zu pennen, um mir zu beweisen, was für ein harter, sturer Kerl du bist. Das weiß ich nämlich schon.«
»Ich dachte, ich bin ein Eisprinz.«
»Nicht mehr. Obwohl ...« Ril griff durch das Fenster und kniff Ludwig in die Nase. »Eiskalt. Okay, du bist ein cooler Typ. Und jetzt komm rein. Ich kann nicht pennen, wenn ich die ganze Zeit daran denken muss, dass du im Auto hockst und frierst.«
»Das kann ich natürlich nicht verantworten.« Mit einiger Mühe kämpfte sich Ludwig aus dem Wagen. »Was ist mit ...«
»Gerry schläft tief und fest auf dem Sofa. Er wollte unbedingt bei dem Eichhörnchen bleiben.« Wie selbstverständlich griff Ril nach Ludwigs Hand und zog ihn mit zum Haus. Nur von der Beleuchtung seines Handys geleitet schlichen sie die Treppe hoch ins Schlafzimmer. Auch dort machten sie kein Licht. Ludwig zog sich bis auf die Unterhose aus und legte sich ins Bett. Wie oft hatte er hier neben Ril gelegen und geschlafen. Nach dem Sex.
»Lui?«, flüsterte Ril aus der Dunkelheit. »Willst du, dass ich lieber auch unten schlafe?«
»Was? Nein. Es sei denn ... du bist noch sauer auf mich, oder? Hör mal, es tut mir leid, was ich gesagt habe.«
»Es ist nicht deshalb. Nur ...« Ril räusperte sich. Als er weitersprach, klang er ungewohnt unsicher. »Früher war immer alles klar, und jetzt weiß ich nicht, was das hier ist. Mit uns.«
»Komm ins Bett, dann können wir weiterreden. Ich verspreche, dass ich dich nicht anrühren werde.«
»Genau das, was ich hören wollte«, murrte Ril und Ludwig musste lächeln. Erleichterung strömte durch seinen Körper. Das klang so, als hätte Ril ihm halbwegs verziehen. Die Matratze senkte sich ein wenig, als sich Ril neben ihn legte. Mit Abstand. Das Bett war groß genug.
»Du hattest recht«, sagte Ludwig leise. Die Dunkelheit machte es leichter. Er atmete Rils vertrauten Duft ein. »Zu Anfang war es eine Geschäftsbeziehung. Aber das ist es schon lange nicht mehr.«
»Wolltest du mir darum ... kündigen?«
»Du hattest mit noch was anderem recht. Ich bin ein Eisprinz und verleugne gerne meine Gefühle. Ist sicherer. Und feige. Ich hab als Grund vorgeschoben, dass du anfingst, mich zu mögen, dabei habe ich ebenfalls mehr für dich empfunden, als ich zulassen wollte. Das hat alles komplizierter gemacht und ich wollte es einfach haben.«
»Es hat dir Angst gemacht, dass ich dich mag?«
»Ja.«
»Du denkst, du hast kein Recht darauf, stimmt’s? Dass dich niemand mögen darf. Oder sogar lieben. Du hast dich in deiner Rolle als einsamer Wolf ganz gut eingerichtet.«
»Ach, jetzt bin ich ein einsamer Wolf? Ist das besser oder schlechter als Eisprinz?«, fragte Ludwig in scherzhaftem Ton.
Ril lachte nicht. »Danke, dass du es zugegeben hast. Vorhin, im Wald, da hab ich kurz gedacht, dass ich wirklich nur ein Stricher für dich bin.«
»Kurz?«
»Naja, ein paar Sekundenbruchteile.«
Ludwig war nicht sicher, ob diesmal Ril einen Scherz machte. »Du bist kein Stricher für mich. Das warst du nie. Ich mochte dich die ganze Zeit. Du bedeutest mir ziemlich viel und ich ...« Er zögerte. Nein, er würde jetzt keinen Rückzieher machen. Nicht länger feige sein. »Ich fänd’s gut, wenn wir Freunde sein könnten.«
Ril schwieg so lange, dass Ludwig die Hoffnung auf eine Antwort schon aufgab. Seine Worte wollte er allerdings nicht zurücknehmen. Er meinte sie so. Und wenn Ril keine Freundschaft wollte, würde er das respektieren.
»Das sind wir doch schon«, sagte Ril endlich. »Und als dein Freund bin ich unter anderem dafür zuständig, dir meine ungeschönte Meinung zu geigen.«
»He, also das habe ich damit nicht gemeint!«
»Doch, hast du.« Jetzt lachte Ril leise. »Einer muss es ja tun. Und komm mir jetzt nicht mit Hank. Man kann nie genug Freunde haben, die einem auf die Nerven gehen. Also, hier meine Meinung zu Gerry. Verkack es nicht.«
Ludwig wartete, doch Ril sagte nichts weiter. »Das war’s?«, fragte er entgeistert. »Das ist deine ganze Meinung?«
»Das ist die Kurzversion. Gerry ist was Besonderes. So wie du. Ihr passt so gut zusammen. Ja, das habe ich vorhin schon mal gesagt und du hast mir nicht geglaubt. Ich meine nicht, dass ihr euch ähnelt. Das ist es ja. Ihr werdet euch super ergänzen. Die Chemie, von der du so abfällig sprichst, passt bei euch. Das Wichtigste aber ist: Er sieht dich. Dich, Lui. Nicht die Narben in deinem Gesicht. Nicht die coole Eisprinzmaske, die du so gerne aufsetzt. Er ist der Richtige für dich. Ja, es ist ziemlich anmaßend von mir, das zu behaupten, nachdem ich nur ein paar Sätze mit ihm gewechselt habe. Aber so bin ich. Ich kann dir nur raten: Mach was draus. Verkack es nicht.«
»Okay«, sagte Ludwig. Er hatte keine Ahnung, worüber sich Ril mit Gerry unterhalten hatte, während er im Auto geschmollt hatte, aber es musste etwas Gravierendes gewesen sein. »Du hast ihm aber nicht erzählt, wer ich bin, oder?«
»Nein, er weiß nicht, dass du der brutale Bauer bist. Ich finde allerdings, du solltest es ihm sagen. Und jetzt höre ich auf, dir Beziehungstipps zu geben. Du bekommst das alleine hin. Ich glaub an dich, Lui.«
»Okay.«
»Ist dir noch kalt?«
»Ja«, log Ludwig.
»Lügner«, raunte Ril ihm ins Ohr. »Ich könnte dich wärmen. Als Freund. Wirklich rein freundschaftlich.«
»Geht klar für mich.«
Ril rückte näher an ihn heran, drückte die Nase an seine Schulter und legte den Arm über ihn. »Da wäre nur noch eine Sache.«
»Welche?«
»Was hat es mit dem Schlamm auf sich, an den du denken solltest?«
Zuerst begriff Ludwig nicht, was er meinte, dann fiel es ihm ein und er seufzte. »Es geht um die Lösegeldforderung. Hank und Gerry haben sich richtig Mühe gegeben und Buchstaben aus der Zeitung ausgeschnitten. Nun muss nur noch jemand den Brief abliefern. Da hab ich gedacht, du könntest das machen. Wegen der Sicherheitskameras müsstest du nur vorher dein Nummernschild unkenntlich machen. Mit Schlamm zum Beispiel.«
»Hervorragend durchgeplant, eure Entführung.«
»Das ist alles ganz große Scheiße.« Ludwig seufzte erneut. »Weißt du was? Ich mach da nicht mit. Wirf den Brief nicht ein.«
»Was wird denn Gerry dazu sagen? Und Hank? Ist doch auch sein Geld, das ihr dann nicht bekommt.«
»Der Schwachmat wollte mir seinen Anteil sowieso abtreten. Und ich will das Geld überhaupt nicht. Nicht so. Das ist einfach nicht richtig. Aus dem Leid und der Sorge eines Menschen Kapitel zu schlagen - das ist falsch. Vermutlich fehlt mir die kriminelle Ader.«
»Vermutlich.«
Die Matratze bewegte sich und Ludwig spürte Rils warmen Atem an seiner Wange.
»Ich hab dich lieb, Lui«, flüsterte Ril. »Und ich bin froh, dass du dich nicht weiter als Entführer betätigen willst. Du machst dich nicht sonderlich gut als Bad Boy in einer Dark Romance. Das passt nicht zu dir.«
»Was passt denn zu mir?«
»Eichhörnchen retten zum Beispiel.« Ril hauchte Ludwig einen Kuss auf die Stirn. »Kochen. Mich zum Lachen bringen.«
»Eiswürfel pinkeln?«
Ril lachte und schmiegte sich wieder an ihn. »Manchmal. Gute Nacht.«
»Nacht. Danke, dass du mich aus dem Auto gerettet hast.«
»Ganz uneigennützig«, murmelte Ril noch, schon halb im Schlaf.