Kapitel 13

Gernot wachte auf, weil Burrito wild durch das Chalet tobte und auf seiner Klettertour auch auf ihm herumturnte. Was gab es Schöneres, als von einem puscheligen Eichhörnchenschwanz im Gesicht geweckt zu werden? Gähnend setzte sich Gernot auf und musste lächeln, als er in die glänzenden Augen des Hörnchens sah. »Na, hast du Hunger?«

Er war froh, dass es dem Kleinen so gut ging, auch wenn das bedeutete, ihn freizulassen. Ein Eichhörnchen war kein Haustier. Es gehörte in den Wald und die Wildnis um das Chalet war sicher ein wahres Hörnchenparadies. Bestimmt konnte er Lui dazu überreden, ab und zu ein paar Nüsse auf der Veranda zu verteilen.

Lui! Ob der noch im Auto war? Gernot kroch unter der Decke hervor und schlüpfte rasch in Jeans und Shirt. Mit einem wachsamen Auge auf Burrito öffnete er die Tür. Eigentlich wäre es nicht schlimm, wenn das Hörnchen jetzt türmte, doch er wollte ihm wenigstens noch ein Frühstück servieren, bevor er es in die Freiheit entließ. Ein kurzer Blick reichte ihm, um zu erkennen, dass Lui sich nicht mehr im Auto befand. Leise schloss er die Tür wieder. Das ließ nur einen Schluss zu: Lui hatte sich nachts ins Haus geschlichen und oben bei Ril geschlafen.

Eventuell mit Ril.

Gernot schluckte schwer. Das sollte ihn nicht so treffen. Er kannte Lui kaum. Nach dieser Entführungssache würden sie sich nicht wiedersehen. Er hatte kein Recht darauf, eifersüchtig zu sein. Oder sich zu wünschen, an Rils Stelle zu sein.

Nach kurzem Zögern stieg er die Treppe hoch und ging ins Bad. Sollten Ril und Lui doch machen, was sie wollten, das würde ihn nicht von einer erfrischenden Dusche abhalten! Nach einem letzten kalten Guss fühlte sich Gernot etwas besser. Obwohl er natürlich niemals an fremden Schlafzimmertüren lauschen würde, spitzte er die Ohren, als er auf dem Weg nach unten an der Tür zu Luis Schlafzimmer vorbeikam. Kein Laut zu hören und darüber war er froh. Er füllte den Wasserkocher, bestückte den Toaster und überlegte gerade, ob er Rührei oder Spiegelei zubereiten sollte, da hörte er oben im Bad Wasser rauschen.

Wenig später kam Ril die Treppe runter und sah mit feuchtem Haar umso mehr wie ein Meermann aus. Ein reichlich verschlafener Meermann. »Kaffee?«, murmelte er.

»Ich fürchte, ich hab nur Tee im Angebot.«

Ril stöhnte und ließ sich auf einen der Thekenhocker fallen. »Stimmt ja. Ich vergaß. Lui ist überzeugter Schwarzteetrinker.«

»Wenn du willst, kann ich dir auch Fencheltee machen.«

Ril stöhnte lauter und sah aus, als wollte er den Kopf vor Verzweiflung auf die Theke sinken lassen. Er strich sich aber nur das Haar zurück und schenkte Gernot ein reumütiges Lächeln. »Sorry. Bin ein ziemlicher Morgenmuffel.«

»Das macht nichts. Toast? Tee?« Gernot mied Rils Blick. Er wollte es sich nicht vorstellen. Wirklich nicht. Trotzdem drängte sich immer das Bild von Ril und Lui im Bett in seine Gedanken.

»Hey«, hörte er Ril sagen. »Da war nichts letzte Nacht. Und es wird auch nichts mehr sein. Lui und ich haben uns ausgesprochen. Wir sind Freunde.«

»Mit Benefits?«

»Nein, ohne.«

»Sollte mich das interessieren?«, fragte Gernot bemüht lässig. Er glaubte Ril. Aber sah Lui das auch so? Ihm lag sehr viel an Ril, das hatte Gernot doch gemerkt. Konnte ja sein, dass lediglich Ril seine Gefühle nicht erwiderte und er sich damit abgefunden hatte.

»Ich weiß, dass es dich interessiert«, erklärte Ril seelenruhig und schmierte Butter auf seinen Toast. »Reich mir doch bitte mal die Orangenmarmelade. Danke. Und das ist auch gut so.« Er wollte noch etwas sagen, wurde aber von Lui unterbrochen, der ebenfalls die Treppe hinunterkam und auch nicht viel wacher wirkte als Ril.

»Morgen«, murmelte er und griff nach dem Becher Tee, den Gernot ihm hin schob.

Gernot bemühte sich, ihn nicht allzu offen anzuschmachten. Schwierig. Wenn er aber auch so verführerisch aussah mit dem vom Duschen feuchten Haar ... Mit seiner Augenklappe erinnerte er Gernot wieder an einen Piraten. Meermann und Pirat. Ein schönes Paar waren er und Ril. Auch wenn sie beide behaupteten, keins zu sein. Für Gernot gab es da keinen Platz. Schmerzte mehr, als es durfte.

Sie frühstückten in friedlichem Schweigen. Ab und zu flitzte Burrito vorbei und knabberte ein paar Sonnenblumenkerne und Gemüsestückchen, die Gernot ihm auf einem Teller ans Ende der Theke gestellt hatte.

»Es geht ihm gut«, sagte er. »Wir können ihn gleich freilassen.«

Lui nickte. »Wir bringen ihn zu der Stelle, an der wir ihn gefunden haben. Ich müsste irgendwo noch einen Wäschekorb haben, auf den legen wir eine Zeitung als Deckel.«

Da er und Ril darauf bestanden, das Spülen zu übernehmen, nutzte Gernot die Zeit, ein paar schnelle Skizzen von Burrito anzufertigen. Gar nicht so leicht, wenn das Modell ständig in Bewegung war. Mit seinen geliebten Sonnenblumenkernen lockten sie ihn in den Wäschekorb und legten rasch die Zeitung darauf. Das gefiel dem Hörnchen gar nicht. Keckernd und schnatternd tobte es in seinem Gefängnis herum.

»Oje. Bringen wir ihn lieber schnell weg«, sagte Gernot besorgt. »Nicht, dass er sich da drin noch verletzt.«

»Tschüss, Burrito«, sagte Ril. »Ich verabschiede mich schon mal.« Er umarmte Lui und danach Gernot. »Macht’s gut, ihr beiden.«

»Du auch. Denk an den Schlamm«, erinnerte Gernot ihn.

Er grinste und tippte sich an einen imaginären Hut. Während er seine Lederkombi anzog, trug Lui den Korb mit dem Hörnchen nach draußen und Gernot folgte ihm. Er hätte die Stelle im Leben nicht wiedergefunden aber Lui schien genau zu wissen, wo sie hingehen mussten. Schließlich stellte er den Korb ab und kniete sich daneben, sah zu Gernot hoch. »Bereit?«

Gernot nickte.

Kaum hatte Lui den provisorischen Zeitungsdeckel weggezogen, sprang Burrito auch schon aus dem Wäschekorb. Gernot hatte wohl insgeheim erwartet, dass er zumindest noch einmal zum Abschied an ihm hochklettern und sich auf seine Schulter setzen würde, doch sobald die Pfötchen des Eichhörnchens den Waldboden berührten, waren seine Retter abgemeldet. Mit wenigen Sprüngen erreichte es den nächsten Baum und kletterte daran empor. Viel zu schnell war Burrito außer Sicht. Einmal hörte Gernot es noch Rascheln, dann nur noch das Zwitschern der Vögel.

»Wirst du ihm Nüsse hinlegen?«, fragte er.

»Klar. Jede Menge. Und Sonnenblumenkerne.« Lui packte den Korb und stand auf. Er legte die Hand auf Gernots Schulter. Es war das erste Mal, dass er ihn berührte und auch das lief anders ab, als Gernot erwartet hatte. Kein elektrischer Schock, kein Blitz, der ihn durchzuckte. Er spürte nur die Wärme, die von Luis Hand ausging.

»Na komm. Gehen wir.«

Gernot trottete neben Lui her zurück zum Haus. Das Motorrad war weg und mit ihm Ril. Ohne ihn wirkte das Haus leer. Seine positive Energie fehlte. Und Burrito.

Lustlos stöberte Gernot durch das Bücherregal, während Lui den Wäschekorb irgendwo verstaute. Sein Blick fiel auf einen dickeren Einband. Er zog das Buch aus dem Regal und stellte fest, dass es sich um ein Fotoalbum handelte. Unschlüssig betrachtete er den Umschlag. Er wollte nicht in Luis privaten Sachen herumschnüffeln.

»Sieh es dir ruhig an, wenn du willst«, ertönte Luis Stimme von der Treppe. »Das sind nur alte Fotos von irgendwelchen Reisen, die ich mal gemacht habe.«

»Du hast wirklich nichts dagegen?«

»Nein. Das ist nichts Geheimnisvolles.«

Gernot setzte sich aufs Sofa und schlug das Album neugierig auf. Zu seiner Freude nahm Lui neben ihm Platz.

»Hab das selbst ewig nicht angeschaut. Ah, das sind Fotos von meiner Australientour.«

Auf den ersten Fotos waren vor allem Landschaften und Tiere zu sehen. Gernot blätterte um. Vor einem Range Rover stand eine Gruppe junger Leute. Alle grinsten in die Kamera. Einer von ihnen hatte einen Koala auf dem Arm. Dieses Grinsen kam Gernot bekannt vor. Er beugte sich tiefer über das Foto. Ja, das war Lui. Ein jüngerer Lui ohne Augenklappe und mit glatter Gesichtshaut.

»Da haben wir in einer Station für verletzte Wildtiere gejobbt«, erklärte er. »Als wir da waren, gab es große Waldbrände. Wir haben Wochen damit verbracht, Tiere aus den Brandzonen zu holen und zu versorgen. Da müssten gleich noch Fotos kommen.«

Gernot blätterte weiter und lauschte gebannt Luis Erzählungen von seinen Erlebnissen. Nach der Australientour folgten Fotos von Neuseeland und später Thailand. Überall hatte sich Lui für Tiere eingesetzt und für verschiedene Hilfsorganisationen gearbeitet.

»Warst du da schon Tierarzt?«

»Ja, das war nach dem Studium. Ich bin ein paar Jahre durch die Welt gereist und so habe ich mir das finanziert.«

Gernot ließ das mal so stehen. Er zweifelte daran, dass Lui diese Jobs wegen des Geldes angenommen hatte. Dahinter steckte Luis Bedürfnis, Tieren zu helfen.

»Und doch bist du jetzt LKW-Fahrer«, sagte er zögernd.

»Ja. Ist ein guter Job«, behauptete Lui.

Gernot betrachtete nachdenklich ein Foto von ihm, auf dem er Futter an Straßenhunde verteilte. Er wollte zu gerne wissen, warum Lui aufgehört hatte, sich für Tiere einzusetzen. Nicht aus Neugier, sondern weil er ihn verstehen wollte. Ihn kennenlernen.

»Nun frag schon«, knurrte Lui.

Gernot warf ihm einen verlegenen Seitenblick zu. »Du musst mir das nicht erzählen, wenn du nicht willst.«

»Es ist kein Geheimnis. Nach dem Unfall war ich lange in verschiedenen Krankenhäusern. Hautverpflanzungen und sowas. Danach ... war mein altes Leben vorbei. Ich habe es zurückgelassen. Damit abgeschlossen. Das hier ...« Er zeigte auf das Foto, auf den jungen Mann mit dem schiefen Grinsen und den bernsteinfarbenen Augen, die im sonnengebräunten Gesicht hell strahlten. »Das war ich nicht mehr. Ich bin jetzt Lui, der einsame Wolf. Der LKW-Fahrer. Das Monster, das sich Stricher kaufen muss.«

Bitterkeit hatte sich in seine Stimme geschlichen. Gernot versuchte, ihn zu verstehen. Versuchte, zu begreifen, wie Lui zu dem verzerrten Bild von sich selbst gekommen war. »Du bist kein Monster«, sagte er. »Warum siehst du dich so?«

Lui schloss das Fotoalbum. »Warum hältst du dich für dumm?«

»Weil ich es bin. Weil mir das alle sagen. Ähm. Oh.« Gernot zog unbehaglich die Schultern hoch. »Aber das ist was anderes.«

»Ja, ist es. Weil du gar nicht dumm bist.«

»Und du bist kein Monster!« Verärgert funkelte Gernot Lui an. »Ich mag dein Gesicht. Willst du noch wissen, warum ich dich zu Anfang Mo genannt hab? Weil es mich an ein wunderschönes Mosaik erinnert. Eins, das man einfach immer wieder anschauen muss.«

Lui starrte ihn verblüfft an. »Ist das so ein Künstler-Ding?«

»Schon möglich.« Gernot erwiderte seinen Blick unerschrocken. »Na und? Ich bin Künstler. Man kann Künstler sein und BWL studieren.«

»Ich zweifele nicht daran, dass jedenfalls du das kannst.« Lui grinste schief.

Verlegen öffnete Gernot das Album wieder. »Danke.« Er wollte lieber wieder über Lui reden statt über sich. »Wie ist das passiert ... mit deinem Gesicht und so ...«

O nein. Eine blödere Frage hätte ihm auch nicht einfallen können. Er erwartete, dass Lui sofort dichtmachen würde, doch er sagte ruhig: »Das ist auch kein Geheimnis. Ist auf Kreta passiert, vor acht Jahren. Ich war da mit ein paar Leuten und wir haben uns um die Straßenkatzen gekümmert. Mit den Organisationen dort zusammengearbeitet. Als wir mal unterwegs waren, hatten wir einen Autounfall. Ich bin durch die Windschutzscheibe geflogen. War ein altes Auto. Kein Sicherheitsglas oder sowas. Und der Gurt hat auch nicht gehalten. Eigentlich hatte ich ziemlich Glück. Hätte mir auch das Genick brechen können.«

Sie schwiegen eine Zeitlang, aber es war keine unangenehme Stille, die mit Worten gefüllt werden musste. Lui sah aus, als hinge er seinen eigenen Gedanken nach und auch Gernot hatte genug, worüber er grübeln konnte.

»Ist das der Grund?«, fragte er schließlich. »Hast du darum mit dem Reisen aufgehört und deinen Tierarztjob aufgegeben?«

»Könnte ein Grund gewesen sein«, sagte Lui langsam. »Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Mich hat das echt aus der Bahn geworfen. Ich konnte nicht einfach so weitermachen wie vor dem Unfall. Aber ich hatte auch nichts anderes, was mich interessierte. Genau genommen befinde ich mich seitdem in einer Art Warteschleife.«

»Und worauf wartest du?«

»Wenn ich das wüsste.«

So viel Ehrlichkeit hatte Gernot nicht von Lui erwartet. Sie kannten sich ja kaum. Womöglich lag es gerade daran. Nach der Entführung würden sie sich niemals wiedersehen. Diese Einsicht versetzte Gernot einen Stich. Er wollte nicht, dass es vorbei war. Er wollte nicht, dass Lui einfach so wieder aus seinem Leben verschwand. Aber er wollte auch dieses Entführungs-Spielchen nicht mehr. Lui war ehrlich gewesen und nun wollte er es auch sein. Er räusperte sich. »Tut mir leid, aber was ich dir jetzt sage, wird dich vermutlich ziemlich wütend machen«, begann er zögernd.