Kapitel 16

Ludwig setzte sich stöhnend auf. Verschwommen sah er den Wagen der Mistkerle den Weg entlang rumpeln. Er blinzelte, versuchte, aufzustehen, und stürzte, kam auf Händen und Knien auf. Der Wagen entfernte sich zwar nicht sonderlich schnell, aber zielstrebig. »Ihr Schweine!«, wollte Ludwig brüllen, brachte jedoch nur ein Krächzen zustande. Erneut kämpfte er sich auf die Füße und torkelte los. Der Wagen war bereits so weit weg, dass er das Nummernschild nicht mehr entziffern konnte. Brauchte er auch nicht. Er hatte es sich schon eingeprägt. Verdammt, er hatte gleich gemerkt, dass mit den Typen etwas nicht stimmte. Aber was hätte er tun sollen?

Alles, nur nicht aussteigen und ihnen helfen. Was war er für ein Dummkopf!

Mit zitternden Fingern kramte er sein Smartphone aus der Tasche. Netz. Immerhin. Er rief Ril an und hoffte nur, dass der nicht noch auf seinem Bike saß.

»Hallo?«, meldete Ril sich.

Vor Erleichterung wurde Ludwig übel. »Ril, du musst mir helfen. Gerry ist entführt worden«, stieß er hervor.

»Ja, weiß ich.«

»Nein, wirklich. Von zwei Typen. Die sind ... ich ...« Verzweifelt fuhr sich Ludwig durch die Haare.

»Wo bist du?«, hörte er Ril fragen.

»Noch im Wald, auf der Zufahrt zur Hauptstraße.«

»Bin gleich da.« Ril unterbrach die Verbindung.

Am liebsten hätte Ludwig zu Fuß die Verfolgung aufgenommen, aber er wusste, dass das Unsinn war. Die Entführer hatten bestimmt schon den Motorway erreicht. Davon abgesehen waren seine Knie so weich, dass sie ihn gerade noch zu seinem Wagen trugen. Er ließ sich auf den Fahrersitz sinken und schlug mit den Fäusten auf das Lenkrad. »Scheiße!«, schrie er.

Sein Smartphone dudelte. Hank. Den konnte er jetzt wirklich nicht gebrauchen. Trotzdem ging er ran.

»Ich glaub ich hab Mist gebaut!«, rief Hank ohne Begrüßung.

Ludwig stöhnte nur. Musste das sein? Mit halbem Ohr hörte er Hanks Wortschwall zu und behielt die Straße im Auge. Wie lange brauchte Ril denn? Naja, wenn er schon in der Stadt gewesen war, wovon Ludwig ausging, würde er mindestens eine Viertelstunde bis hierher brauchen, selbst wenn er fuhr wie eine gesengte Sau.

»... und dann kam mir das so seltsam vor und ich weiß ja nicht, aber es könnte sein, dass die Typen was vorhaben«, drang Hanks aufgeregte Stimme durch seine Berechnungen.

Er horchte auf. »Was? Was hast du gesagt? Welche Typen?«

»Die aus der Kneipe gestern!«

Fassungslos starrte Ludwig das Smartphone an. Den Namen Hank auf dem Display. Das durfte doch nicht wahr sein!

»Hast du jemand von Gerry erzählt?«, brüllte er.

»Ja, aber nur ...«

»Scheiße! Was bist du für ein verblödetes Arschloch!«

»Tut mir leid! Ich hab doch nur ... kann ja auch sein, dass die gar nichts machen aber ich wollte dich warnen und ...«

»Die hatten was vor!«, schrie Ludwig und nahm nur am Rande seines Bewusstseins wahr, dass sich seine Stimme überschlug. »Die haben Gerry! Und das ist deine verdammt Schuld!«

Er unterbrach die Verbindung. Keine drei Sekunden später dudelte sein Smartphone erneut los, doch er stellte es auf lautlos und steckte es ein. Hank, dieser verfluchte Sack! Konnte er nicht einmal sein Maul halten? Nur zu gut konnte sich Ludwig vorstellen, wie das gelaufen war. Hank in einer Kneipe, nach mehreren Bier in redseliger Stimmung, wollte vor irgendwelchen Typen angeben und sich als tollen Hecht darstellen. Er hatte sich als großartiger Entführer aufgespielt, vermutlich sogar ein paar Runden geschmissen und damit geprahlt, dass er bald sowieso genug Geld haben würde. Meistens passierte nicht viel, wenn er sich irgendwo aufspielte, bis darauf, dass er belächelt und möglicherweise verarscht und ausgenommen wurde. Diesmal war er an die Falschen geraten. Diesmal hatte er es so richtig verkackt. Das würde Ludwig ihm niemals verzeihen.

Das Röhren eines Motorrads riss ihn aus seiner Wut auf Hank. Er sprang aus dem Auto und wartete, bis Ril seine Maschine neben ihm stoppte. »Du musst mich fahren!«

Ril klappte das Visier seines Helms hoch. »Was ist mit Gerry?«

»Erzähl ich dir später. Du musst mich zu meinem LKW bringen. Und fahr so schnell du kannst!«

»Ich hab keinen Helm für dich.«

»Scheißegal!«

Ohne sich weiter mit Worten aufzuhalten schwang sich Ludwig hinter Ril auf das Motorrad. Er wusste, dass Ril fahren konnte wie der Teufel. Für gewöhnlich bot ihm das Anlass zur Sorge, doch heute war er froh darüber. »Fahr!«, schrie er.

Der Schlamm spritzte auf, als Ril das Motorrad wendete und Gas gab. Ludwig klammerte sich an ihm fest und schloss die Augen. Er hasste das! Und ja, er hatte Schiss. Doch noch mehr Angst hatte er vor dem, was die Entführer Gerry antun würden, wenn er ihn nicht rechtzeitig fand.

 

Völlig verkrampft und mit vom Fahrtwind tränendem Auge kletterte er zehn Minuten später von Rils Motorrad. Ril hatte sich selbst übertroffen und die Strecke in die Stadt in Rekordzeit zurückgelegt. Bei einigen seiner waghalsigen Überholmanöver hatte Ludwig schon sein letztes Stündlein schlagen hören. Aber irgendwie war es Ril gelungen, sie unverletzt und unfallfrei zu dem LKW zu befördern. Ohne Auflieger stand der Truck auf dem Parkplatz der Spedition, für die Ludwig arbeitete. Genau genommen war das nicht sein Lastwagen, nur der, den er üblicherweise fuhr. Als er in die Fahrerkabine stieg, dankte er dem Universum dafür, dass er keinem anderen Fahrer zugeteilt worden war, was zwar selten vorkam, aber ab und zu eben doch passierte.

Er schaltete das Funkgerät ein. Wenige Minuten später wussten alle Kollegen, die gerade unterwegs waren, nach was für einem Wagen sie Ausschau halten mussten.

»Erzählst du mir jetzt mal, was los ist?«, fragte Ril, der mit verschränkten Armen neben dem LKW stand und mit gerunzelter Stirn zu Ludwig aufsah. Er hatte den Helm abgenommen und ein paar türkisblaue Strähnen hatten sich aus seinem Haarknoten gelöst. »Wieso hat jemand Gerry entführt?«

Ludwig wollte ihm schon eine heftige Antwort geben, riss sich aber gerade noch zusammen. Ohne Rils Hilfe wäre er aufgeschmissen gewesen. Er rechnete es ihm hoch an, dass er sofort gekommen war, ohne Fragen zu stellen. Da konnte er ihm jetzt ruhig ein paar beantworten. Möglichst sachlich berichtete er von Gerrys Rückzieher und dass er vorgegeben hatte, Ril verständigen zu wollen. Als er allerdings an die Stelle kam, an dem die verdammten Scheißkerle von Entführern ihn reingelegt hatten, bekam er wieder einen Wutanfall, der sich auch nicht legte, als er von Hanks Anteil an der Sache erzählte.

Ril war auf der Beifahrerseite ebenfalls in die Fahrerkabine geklettert, während Ludwig erzählte, und verzog das Gesicht. »O Mann. Das ist übel. Das war also die Beschreibung des Wagens der Entführer, die du eben durchgegeben hast?«

»Ja«, knurrte Ludwig. Er hoffte nur, dass seine Kollegen ihn nicht hängen ließen. Sie würden seine Nachricht in Form eines Schneeballsystems weitergeben und so konnten bald hunderte von Truckern Ausschau nach dem Wagen halten. Der war ja zum Glück leicht zu erkennen mit der Schlammschicht. Allerdings hatte Ludwig keine Ahnung, wie weit die schon gekommen und wohin sie mit Gerry unterwegs waren.

»Und es war so unnötig! Gerry hatte sich umentschieden und wollte diese dämliche Entführungsshow nicht mehr durchziehen. Wir sind nur losgefahren, weil ich angeblich Netz brauchte, um dir Bescheid zu geben, dass du den Brief nicht einwerfen sollst.«

»Warum hast du Gerry nicht einfach gesagt, dass du die Entführung eh schon abgeblasen hattest?«

»Weil ...« Ludwig schloss die Augen. Was Gerry anging hatte er sich mittlerweile in ein undurchdringliches Lügengeflecht verstrickt. »Dann hätte er doch gedacht, ich würde ihm das nur verschweigen, damit er weiter in der Hütte bleibt.«

»Na und? Was ist schlimm daran, dass du ihn magst und Zeit mit ihm verbringen willst?«

»Nichts. Alles«, knurrte Ludwig. Er wollte nicht darüber nachdenken. Er wollte Gerry aus den Fängen der Entführer retten.

»Weißt du eigentlich, was Gerry denkt, wofür du das Lösegeld verwenden willst?«, nervte Ril ihn weiter.

»Das ist doch wohl offensichtlich.«

»Für Gerry nicht. Er hat vermutet, dass du das Geld zum Reisen brauchst.«

»Reisen?«

»Ja, und ich fand das gar nicht so dumm. Du reist doch gerne, oder?«

»Früher mal. Ewig her.«

»Jedenfalls ist Gerry überhaupt nicht darauf gekommen, dass du das Geld für Gesichtsoperationen brauchen könntest. Und weißt du wieso? Nicht, weil er komplett empathielos ist, sondern weil du perfekt für ihn bist, so wie du bist. Er mag alles an dir und hat nicht verstanden, dass du was daran ändern willst.«

Ludwig sah aus dem Fenster auf den trostlosen Parkplatz. »Darüber habt ihr euch unterhalten?«

»Ja, zum Beispiel. Du hälst ihn für einen oberflächlichen Schnösel, oder? Einen verwöhnten, reichen Jungen?«

»Nein. Nicht mehr. Zu Anfang vielleicht. Aber das ist doch jetzt scheißegal. Es ist meine verdammte Schuld, dass er wirklich entführt wurde und ich werde alles tun, um ihn da rauszuholen, ganz gleich, was ich von ihm halte.«

Das Funkgerät erwachte kratzend zum Leben. Gleich mehrere Trucker hatten den gesuchten Wagen entdeckt. Er stand an der Tankstelle eines Autohofs.

»Keine Sorge, Kumpel«, dröhnte Mikes Stimme aus dem Lautsprecher. »Wir haben die Ausfahrt blockiert. Die kommen hier nicht weg.«

Ludwig bedankte sich und startete den Motor, der mit einem Röhren zum Leben erwachte. »Showtime«, sagte er grimmig.