Kapitel 17

Gernot erwartete jeden Moment, in den Rücken geschossen zu werden. Zwischen seinen Schulterblättern breitete sich brennender Schmerz aus. Neben ihm keuchte der Kassierer. Sie waren ungefähr gleich schnell, aber auf keinen Fall schnell genug, um einer abgefeuerten Patrone auszuweichen, auch wenn sie Haken schlugen wie besoffene Hasen. Bisher hatte der Zwilling noch keinen Schuss abgegeben. Womöglich konnte er gar nicht sonderlich gut schießen. Gernot hatte nicht den Eindruck gewonnen, es mit Profis zu tun zu haben. Eher mit zwei Arschlöchern, die spontan eine Chance nutzen wollten.

»Bleib stehen!«, hörte er den Zwilling bellen.

Noch zweihundert Meter über den Parkplatz bis zum Restaurantgebäude. Er warf sich nach links, hielt auf ein parkendes Auto zu. »Lass uns erstmal in Deckung gehen!«, stieß er hervor.

Offenbar hatte der Kassierer ihn verstanden, denn am Rand seines Blickfeldes sah er ihn ebenfalls die Richtung ändern. Lack spritzte von der Seitentür des Autos, das Gernot ins Visier genommen hatte. Sekundenbruchteile später hörte er den Schuss. Mit ein paar großen letzten Sätzen erreichte er den Wagen. Halb sprang er, halb rollte er sich ab und kauerte sich hinter dem Fahrzeug zusammen.

Der Kassierer landete neben ihm, rot und verschwitzt, die Augen weit aufgerissen. »Die schießen auf uns!«

Gernot nickte knapp. Er gab dem Kassierer ein Zeichen, hinter dem Reifen in Deckung zu bleiben und kroch an dem Auto entlang, hob langsam den Kopf und spähte durch die Seitenfenster. Der Zwilling rannte mit gezogener Waffe auf den Wagen zu und Gernot wurde klar, dass es eine idiotische Idee gewesen war, sich hier zu verstecken. Was hatte er sich nur dabei gedacht?

Ein ohrenbetäubendes Brüllen wie von einem riesigen Nebelhorn erklang, durchdringend und langgezogen. Der Zwilling geriet aus dem Takt, stolperte und ließ die Waffe fallen. Erneut brachte das Hupen die Luft zum Vibrieren, diesmal sogar noch lauter. Gernot riss den Blick von dem Zwilling los, der auf dem Boden nach der Waffe tastete, eine Hand auf sein Ohr gepresst, und starrte ungläubig Richtung Tankstelle. Ein Truck bretterte über die Einfahrt und hielt genau auf den Wagen der Zwillinge zu, der vor dem LKW wie ein Spielzeugauto wirkte. Mit Warnblinklicht und dröhnender Hupe ragte er immer höher hinter dem Auto auf, als wollte es den PKW verschlingen.

»Mein Auto!«

Der Schreckensschrei des Zwillings fiel in eine der kurzen Hup-Pausen.

»Fahr den Wagen weg!«, schrie er. »Und ...«

Was er noch sagte, ging im erneuten Aufbrüllen der Hupe unter. Der Zwilling rannte zurück zur Tankstelle, wo sein Bruder reglos vor dem Shop stand und keinerlei Anstalten machte, das Auto zu retten. Dazu war es ohnehin zu spät. Mit einem nervenzerfetzenden Kreischen rammte der massive Kühlergrill des Trucks den Wagen, schob ihn vor sich her wie ein Stück Schrott. Und zu einem solchen Teil faltete sich das Auto auch gerade zusammen.

Mit wild fuchtelnden Armen rannte der Zwilling weiter. Einen Moment glaubte Gernot, er würde sich schützend auf den Wagen werfen. Das geschah jedoch nicht. Sein Bruder hielt ihn fest und er wäre ohnehin zu langsam gewesen. Der LKW schob den verbeulten Blechhaufen weiter vor sich her und wurde nur allmählich langsamer. Zu dem Hupen mischte sich der Klang von Polizeisirenen. Mehrere Polizeiautos jagten über die Einfahrt auf die Tankstelle zu. Die Zwillinge standen nun beide reglos da. Gernot beobachtete, wie die Polizisten aus den Wagen sprangen, die gezogenen Waffen auf die Männer gerichtet. Sie riefen etwas und der Zwilling ließ seine Waffe fallen.

Der LKW kam zum Stehen. Die Fahrertür flog auf und da war Lui!

Mit zerzaustem Haar, das Gesicht verschmiert mit Blut und Dreck, die Augenklappe verrutscht, der Blick feurig. Verwegen, wild, unwiderstehlich. Und Gernot konnte nichts weiter tun als ihn anzustarren und zu grinsen. Sein Held! Sein Retter!

»Gerry!«, rief Lui und sprang aus der Fahrerkabine. Er rannte auf Gernot zu und Gernot löste sich aus seiner Erstarrung und lief ihm entgegen. Lui breitete die Arme aus und Gernot ließ sich fallen, klammerte sich an ihn, spürte, wie Lui ihn fest an sich drückte und die Nase in seinem Haar vergrub.

»Gerry, bist du okay? Haben sie dich verletzt? Bist du ...?«

Gernot löste sich widerstrebend von Lui und sah ihm ins Gesicht. »Ja, mir geht’s gut, aber was ist mit dir?« Er berührte sacht Luis Schläfe.

»Was? Ach ...« Lui griff sich ebenfalls an die Stirn, als bemerkte er erst jetzt, dass er verletzt war. »Das ist nur ein Kratzer. Du ...«

Weiter kam er nicht. Gernot packte ihn bei den Schultern und küsste ihn. Wild presste er seine Lippen auf Luis Mund, drängte sich an ihn. Er musste ihn jetzt spüren, ihn schmecken, seinen Duft atmen. Es war ihm egal, was Lui von ihm dachte. Er musste das jetzt einfach tun, auch wenn Lui ihn danach nie wiedersehen wollte.

Lui erwiderte den Kuss, ohne zu zögern, beinahe, als wäre er seine Idee gewesen. Er schlang einen Arm um Gernots Hüfte, was auch gut war, denn Gernots Beine zitterten so heftig, dass er kaum noch allein stehen konnte. Die andere Hand legte er in Gernots Nacken, als wollte er ihn daran hindern, den Kuss zu unterbrechen. Als ob Gernot das vorhätte! Wenn es nach ihm ging, konnten sie bis in alle Ewigkeit hier stehen und sich küssen.

Neben ihnen räusperte sich jemand. »Ich störe ja nur ungern, aber ich glaube, die Polizei ist auf dem Weg zu euch.«

»Hmpf«, machte Gernot nur und schmiegte sich näher an Lui, doch der schob ihn ärgerlicherweise ein Stückchen von sich und murmelte »Scheiße.«

Ril stand mit verschränkten Armen neben ihnen und grinste breit. Gernot hatte keine Ahnung, was er für eine Rolle bei der Rettungsaktion gespielt hatte, aber dass er jetzt hier war, konnte doch nur heißen, dass er nichts mit der Entführung durch die Zwillinge zu tun hatte. Oder? Gernot wünschte es sich so sehr, doch zunächst gab es Wichtigeres, denn zwei der Polizisten näherten sich mit großen Schritten und sie sahen nicht sonderlich freundlich aus.

»Lui, hör zu ...«, stieß Gernot rasch hervor. »Hank hat mich aufgegabelt und mir deine Hütte als Feriendomizil angeboten und du warst einverstanden. Nichts von Entführung, ja?«

Lui sah ihn an, sein Blick leicht glasig. »Hm«, machte er.

»Ich glaube kaum, dass die annehmen, dass Lui dich entführt hat«, ließ sich Ril vernehmen. »Nicht, nachdem sie gesehen haben, wie ihr gerade rumgeknutscht habt. Es sei denn, Gerry hat in zwei Tagen ein ausgeprägtes Stockholmsyndrom entwickelt.«

Die Polizisten erreichten sie. Lui hatte noch den Arm um Gernot gelegt und wirkte benommen.

»Ist das Ihr LKW?«, fragte der größere Polizist ihn.

Lui nickte erst, schüttelte dann den Kopf. »Der gehört der Spedition.«

»Aber Sie fahren ihn für gewöhnlich und haben vorhin einige Funksprüche abgesetzt, in denen Sie um Unterstützung bei der Fahndung nach einem PKW gebeten haben?«

Kluger Schachzug! Bewundernd sah Gernot Lui an. Die Polizisten fanden das offenbar nicht so gut, denn ihre Mienen wirkten äußerst grimmig. Einer von ihnen ging um den LKW herum und deutete auf den Blechhaufen, der am Kühler klebte. »Zufällig diesen PKW?«

Da Lui schwieg, griff Gernot ein. »Lui hat mich gerettet. Die Zwillinge, also die Männer, denen der PKW gehört, haben mich entführt. Sie wollten Lösegeld von meinem Vater erpressen. Wenn Lui nicht gewesen wäre, hätten sie mich erschossen«, sprudelte er hervor.

»Das können Sie gleich ausführlich auf der Wache erzählen. Ausweis?«, forderte der Polizist. Der andere wandte sich an Lui. »Sind Sie Ludwig Schulze Dörenfeld?«

Gernot fragte sich nur einen Sekundenbruchteil, warum ihm der Name so bekannt vorkam. Dann traf ihn die Erkenntnis mit der Wucht eines eiskalten Wassergusses. Er befreite sich aus Luis Griff und taumelte zur Seite, ohne den Blick von ihm zu wenden. Lui sah ihn an, das Gesicht zu einer dermaßen schuldbewussten Grimasse verzogen, dass Gernot gleich wusste: Er war es.

Mo, Lui, sein Held und Retter, war Ludwig Schulze Dörenfeld.

Der brutale Bauer, den er heiraten sollte. Vor dem er geflüchtet war. In gewisser Weise jedenfalls.

Und noch ein Verdacht sickerte in Gernots Hirn wie Schmelzwasser eines Gletschers. Lui ... nein, Ludwig, hatte es die ganze Zeit gewusst. Er hatte ihm etwas vorgemacht. Ihn belogen. Ihn verarscht! Und sich garantiert hinter seinem Rücken über ihn lustig gemacht. War das nicht auch wirklich komisch? Da verkroch er sich vor der Zwangsverlobung in einer einsamen Hütte und traf dort ausgerechnet auf den Mann, der Mitschuld an seiner Misere trug?

Oder ... Moment ... das war doch ein viel zu großer Zufall. Ludwig musste das geplant haben! Zusammen mit Hank. Aber ... wieso?

Sprachlos starrte er ihn an, suchte in seinem Gesicht, das ihn von Anfang an fasziniert hatte, nach einer Antwort und fand nur Reue.

»Ja, der bin ich«, sagte Ludwig heiser, wandte sich ab und sah den Polizisten an, als erwartete er, im nächsten Moment Handschellen angelegt zu bekommen.

»Ausweis?«, fragte der andere Polizist noch einmal und Gernot riss sich zusammen. Am liebsten wäre er weggerannt. Wie er das immer machte, wenn es unangenehm wurde. Nur funktionierte das diesmal nicht. Er zog seine Brieftasche hervor und reichte dem Polizist seinen Ausweis, versuchte, Ludwig nicht mehr anzusehen, aber er schaffte es einfach nicht. Er wollte begreifen, warum er das getan hatte. Warum er ihn entführt und ... ah! Sein anfänglicher Protest, was die Entführung anging, war auch eine Lüge gewesen. In Wahrheit war es ihm die ganze Zeit nur darum gegangen, an das Geld zu kommen, ohne Gernot heiraten zu müssen. Denn dass dies nicht mehr in Frage kam, nachdem Gernot ihn ja gesehen hatte, war ihm doch wohl klar gewesen. Seltsam. Warum hatte er sich überhaupt gezeigt? Wieso hatte er Hank nicht alles überlassen? Das passte doch alles nicht zusammen!

Und der Mann, der Gernots Fragen hätte beantworten können, wurde gerade zu einem Polizeiwagen geführt.

»He, Moment ...«, rief Gernot und wollte ihm nachgehen, doch der andere Polizist stellte sich ihm in den Weg.

»Keine Sorge, Sie nehmen wir auch mit auf die Wache«, sagte er.

»Darf ich auch mitfahren?«, sagte Ril. »Ich bin Zeuge.«

Der Polizist musterte ihn, wobei sein Blick nur kurz an seinem türkisblauen Haarschopf hängenblieb. »Ausweis?«

Während er Rils Personalien aufnahm, beugte sich Ril zu Gernot. »Er wollte es dir sagen«, raunte er ihm zu. »Denk nicht schlecht von ihm. Es ist nicht, wie es jetzt vermutlich für dich aussieht, aber ...«

»So, mitkommen«, unterbrach der Polizist und Ril konnte Gernot nur noch zublinzeln.

Eine schmale Gestalt näherte sich scheu. Der Kassierer! Den hatte Gernot komplett vergessen.

»Ich bin auch ein Zeuge«, sagte er schüchtern.

»Ein besonders wichtiger, und ich verdanke ihm mein Leben«, sagte Gernot. Er umarmte den überraschten Kassierer fest. »Danke«, sagte er erstickt. »Das war so mutig von dir. Ohne dich hätten die mich weiter mitgenommen und ... ohne dich wär ich jetzt vielleicht tot.«

»Na, also ...«, sagte der Kassierer verlegen und klopfte ihm unbeholfen auf die Schulter. »Wie gesagt, ich hab das gerne gemacht. Zusammenhalten und so.« Er lächelte und fügte so leise hinzu, dass nur Gernot es hören konnte: »Dein Freund ist sowas von cool! Wie der mit dem LKW hier angebrettert kam! Das war filmreif.«

»Er ist nicht mein Freund«, sagte Gernot und fühlte sich mit einem Mal so unendlich leer, dass er nicht mal mehr böse auf Ludwig, den Lügner, sein konnte.