Gernot war schlecht vor Aufregung. Er hatte die halbe Nacht wachgelegen, bis die Erschöpfung ihn schließlich doch in einen unruhigen Schlaf hatte sinken lassen. Nun trank er schon seine dritte Tasse Kaffee, was das Zittern seiner Hände auch nicht gerade verbesserte. Von dem Frühstück, das er ausnahsmweise zusammen mit seinem Vater einnahm, brachte er keinen Bissen hinunter. Statt im Esszimmer saßen sie in der Küche und Hector, der ihnen das Frühstück zubereitet hatte, stapelte Tassen für die Besprechung auf einem Tablett. Er hatte sich zurückziehen und sie in Ruhe frühstücken lassen wollen, doch Gernots Vater hatte ihn gebeten, sich von ihnen nicht stören zu lassen. Es war beinahe wie früher, als Gernot noch ein Kind gewesen war. Da hatte er oft mit seinem Vater in der Küche gesessen, sich mit ihm und Hector unterhalten und Kakao getrunken.
»Tee und Kaffee für den Besuch?«, erkundigte sich Hector.
»Schwarzen Tee, bitte«, sagte Gernot, ohne darüber nachzudenken, und sog erschrocken die Luft ein.
Sein Vater warf ihm einen scharfen Blick zu. »Ist der für dich oder kennst du unsere Gäste besser als ich dachte?«
»Hm, ich dachte nur ... wegen der Auswahl.« Gernots Wangen wurden heiß.
Zum Glück verfolgte sein Vater das Getränkethema nicht weiter, sondern fragte: »Bist du sicher, dass du das tun willst?«
»Ja. Die Firma steht auf dem Spiel. Darüber haben wir doch gestern schon gesprochen.«
Sein Vater sah noch müder aus als am Vorabend. Zu den Schatten unter seinen Augen gesellten sich geschwollene Tränensäcke und über seiner Nase gruben sich zwei tiefe Falten in sein bekümmertes Gesicht. »Ich habe nachgedacht, Gernot. Es war unverzeihlich von mir, diese Art von Handel überhaupt in Erwägung zu ziehen. Dein Glück ist wichtiger als die Firma.«
»Das ist doch wohl nicht dein Ernst«, stieß Gernot hervor. Am Abend zuvor hatte sein Vater viel zu erleichtert über seinen Vorschlag gewirkt, auf das Angebot von Schulze Dörenfeld einzugehen. »Wenn ich mich weigere, werden wir alles verlieren. Nicht nur die Firma, auch das Haus und ...« Seine Stimme brach. Schließlich wusste er jetzt, wie schlimm es wirklich um die Finanzen seines Vaters bestellt war. Er war froh darüber, dass er jetzt Bescheid wusste und dass sein Vater ihn nicht weiter schonte. Das erste Mal hatte er das Gefühl gehabt, dass er keinen dummen Jungen mehr in ihm sah, sondern einen Erwachsenen, mit dem er auf Augenhöhe reden konnte. Und nun das?
Sein Vater rieb sich die Augen. Als er die Hände sinken ließ, waren sie gerötet. »Leicht wird das nicht. Aber es gibt Wichtigeres als Geld. Das ist mir erst klar geworden, als ich dachte, ich hätte dich verloren.«
»Verloren? Dad! Ich war zwei Tage weg!«
»Zwei Tage zu viel«, sagte sein Vater heiser. »Du warst noch nie einfach so weggeblieben, ohne mir Bescheid zu sagen.«
Er sah so alt und elend aus, dass Gernots Herz schmolz. Er stand auf, ging um den Tisch und umarmte seinen Vater. Das hatte er so lange nicht mehr getan, dass er im ersten Moment erschrocken darüber war, wie knochig sich seine Schultern anfühlten. »Es tut mir so leid«, flüsterte er. »So leid.«
Sein Vater legte die Hand auf seinen Arm. »Ich weiß. Aber ich will nicht, dass du denkst, du müsstest etwas gut machen. Es war meine Schuld, dass du weggelaufen bist. Ich habe viele Fehler gemacht. Wenn ich dir schon früher von unserem finanziellen Engpass erzählt hätte ...«
»Das ist doch jetzt egal. In Zukunft machen wir es besser. Und wirklich, Dad, es ist in Ordnung, dass ich jetzt endlich auch mal meinen Teil leiste. Außerdem wissen wir ja noch gar nicht, ob Schulze Dörenfeld auf unsere Bedingungen eingeht.«
»Na, die sind ja sehr bescheiden«, brummelte Gernots Vater.
Das fand Gernot auch. Allerdings hegte er berechtigte Zweifel daran, dass Ludwig sich überhaupt auf den Handel einlassen würde, ob mit oder ohne die Bedingungen. Er hätte ihn wirklich nicht so anzicken sollen! Dabei hatte er sich so gefreut, dass Lui zu ihm gekommen war. Das war weit mehr, als er zu hoffen gewagt hatte. Leider hatte ihn Luis überraschendes Auftauchen dermaßen überrumpelt, dass er sich total dämlich benommen hatte. Es lag an Luis Duft. Genau. Sonst hätte er nicht die ganze Zeit nur daran gedacht, wie es wäre, ihn wieder zu küssen, sondern vernünftig mit ihm geredet. Sie hätten zusammen einen Plan schmieden können. Aber das war alles gründlich schiefgegangen und jetzt wusste er nicht mal, ob Lui seinen Vater überhaupt zur Besprechung begleiten würde.
Hector kam in die Küche. »Die Herren Schulze Dörenfeld sind da«, teilte er förmlich mit.
Gernot konnte den Blick nicht von Lui wenden. In Anzug und Krawatte sah er so anders aus. Äußerst attraktiv, das schon, aber sehr fremd. Er mied Gernots Blick und saß verkrampft in dem Besuchersessel, während sein Vater locker mit Gernots Vater plauderte. Smalltalk über irgendwelche Belanglosigkeiten. Vermutlich war das so üblich bei Geschäftsverhandlungen? Denn nichts anderes war das hier doch. Ein Geschäft.
Nach weiteren fünf Minuten Blabla reichte es Gernot. Er stand auf. »Ich werde mit Ludwig allein reden«, verkündete er. »Wir sind gleich wieder da.« Auffordernd sah er Lui an, der ihn anstarrte wie eine Erscheinung.
»Aber ja, natürlich. Sollen sich die Jungs kennenlernen«, dröhnte Schulze Dörenfeld und lachte jovial.
Wenn Blicke töten könnten, wäre er leblos vom Sessel gesunken, so wie Lui ihn ansah. Zu Gernots Erleichterung stand Lui ebenfalls auf, nickte ihren Vätern zu und folgte ihm aus dem Raum. Der Einfachheit halber führte Gernot ihn ins Wohnzimmer, weil das am nächsten lag. Er drehte sich zu Lui um, der sich mit missmutiger Miene umschaute. »Danke, dass du gekommen bist.« O nein. Das klang so gestelzt!
Lui hob nur die Schultern. Weiterhin mied er Gernots Blick.
»Ach Mann, Lui«, stieß Gernot hervor. »Können wir nicht normal miteinander reden? Ich weiß, gestern ist es nicht so gut gelaufen und ich war sauer auf dich. Aber wir könnten aufhören, uns anzuzicken.«
»Anzicken?« Um Luis Mundwinkel zuckte es. »He, du warst sauer? Bist du es nicht mehr?«
»Naja, ein bisschen. Es fühlt sich richtig mies an, belogen zu werden.« Von dem Mann, der ihm so viel bedeutete. Aber das sagte er nicht.
Lui räusperte sich. »Verstehe ich. Darum sage ich dir jetzt die Wahrheit. Du hast mich gestern gefragt, was der Grund dafür war, dass ich dir verheimlicht habe, wer ich bin. Und warum ich zugestimmt habe, dass du in der Hütte bleiben kannst. Scheiße, ich hab sogar so getan, als würde ich bei diesem Entführungsmist mitmachen. Also, der wahre Grund war, dass ich mich sofort zu dir hingezogen gefühlt habe.«
Gernot glaubte einen Moment, sich verhört zu haben. »Ähwas?«, stotterte er.
Lui musterte ihn grimmig. »Ja, ich weiß. Das klingt wie aus einem schlechten Kitschroman und ich wünschte, ich könnte das genauer erklären, aber so war es nun mal. So einfach. Ich hab das damals nicht gewusst. Und dann hab ich es eigentlich gewusst, wollte es aber nicht wahrhaben.«
Gernot fiel das Atmen schwer. Das Herz hämmerte ihm gegen die Rippen. »Das war auch mein Grund«, krächzte er. »Als du zur Tür reinkamst, da war ich sofort verloren. Und ich wusste nur noch, dass ich unbedingt bei dir bleiben wollte. Dich kennenlernen. Zeit mit dir verbringen. Ja, ich weiß, das klingt auch wie aus einem Kitschroman. Klar, ich wollte auch meinem Vater eins auswischen, aber wenn du es nicht gewesen wärst, hätte ich gar nicht weiter mitgemacht. Hm. Mir ist das bis gerade eben gar nicht so bewusst gewesen.«
»Mir auch nicht«, sagte Ludwig heiser. »Aber ich erinnere mich daran, wie du mich angesehen hast. Auf eine Art, die ich verloren geglaubt hatte.«
»Was denn für eine Art?«
»So, wie du mich jetzt ansiehst. Als gäbe es die Narben in meinem Gesicht nicht. Nein, falsch. Als ob dir alles gefällt, was du siehst, auch die Narben.«
Gernot musste schlucken, bevor er sprechen konnte. Ja, genau so war es. Ihm gefiel nun mal alles an Lui. Nur diese elende Lüge nicht. »Warum hast du es mir nicht gesagt?«, flüsterte er. »Wer du wirklich bist?«
»Ich wollte. Aber ich dachte ... ich hab wohl befürchtet, du würdest sofort vor dem brutalen Bauern Reißaus nehmen.«
Hitze flutete Gernots Wangen. »O nein. Das ... war total blöd von mir. Schließlich kannte ich dich gar nicht.«
»Und ich hab nur die Fotos auf deinem Instagramaccount gesehen und konnte sie nicht mit dem Mann in Verbindung bringen, den ich während der letzten Tage kennenlernen durfte.«
Gernot wurde noch heißer. Er dachte an Toms Worte. An seine Theorie, dass Lui hatte herausfinden wollen, ob Gernot seinem Bild von ihm entsprach. »Hmpf. Ist das gut oder schlecht?«
Lui grinste nur schief und Gernot nuschelte: »Verstehe. Du hast mich für ein verwöhntes Millionärssöhnchen gehalten.«
»Nur ganz zu Anfang. Noch bevor ich dich das erste Mal gesehen hatte, genau genommen.« Ludwig atmete tief durch. »Ich hab Scheiße gebaut. Niemals hätte ich mich auf diese Entführung einlassen dürfen, auch nicht zum Schein. Vor allem aber hätte ich dir nicht verschweigen dürfen, wer ich bin. Ich hab dich in Gefahr gebracht. Du wärst beinahe ...« Er wandte sich ab, zog die Schultern hoch.
»Ich hab auch Mist gebaut.« Gerry trat näher an ihn heran und berührte sacht seine Hand. »Es war gemein und herzlos von mir, meine eigene Entführung vorzutäuschen. Damit hab ich meinem Dad großen Kummer bereitet. Ich weiß echt noch nicht, wie ich das jemals wieder gutmachen soll. Aber du ... du hast es schon gutgemacht. Du hast mich gerettet.«
Lui drehte sich zu ihm um. »Ich hatte ne scheiß Angst um dich«, gab er zu.
»Ich hatte auch Angst. Aber irgendwie wusste ich, dass du mich retten wirst.«
»Du hattest dich wohl schon selbst gerettet.«
»Nur halb.«
Lui verzog das Gesicht. »Hör mal, Gerry, ich weiß, was du vorhast. Du fühlst dich schuldig und denkst, du musst deinem Vater helfen, indem du auf diese Sache eingehst, aber ...«
»Diese Sache?« Gernot hob die Brauen. »Du meinst, dass ich mich an den besten Alpha binden soll, den ich mir vorstellen kann?«
»Ja, genau. Äh. Was?«
Lui starrte ihn so fassungslos an, dass Gernot beinahe gelacht hätte, doch er brachte nur ein zittriges Lächeln zustande.
»Du kannst doch nicht einfach deine Träume verraten«, fuhr Lui ihn so heftig an, dass sein Herz noch schneller raste. »Ich weiß noch genau, was du mir erzählt hast. Wie du dir dein Leben vorstellst.«
»Naja, Träume können sich ändern«, wandte Gernot mutig ein. »Außerdem kann ich mir ein Leben mit dir ziemlich gut vorstellen. Du kennst doch meine Bedingungen noch gar nicht.«
»Bedingungen?« Lui sank auf das Sofa und sah zweifelnd zu ihm hoch.
»Ja, zum Beispiel, dass ich mein Studium weiterführen werde und es in den nächsten vier Jahren keinen Enkel für deinen Vater geben wird. Außerdem wird es uns freigestellt, ob wir tatsächlich zusammen wohnen, solange wir das offiziell vorgeben und uns regelmäßig auf repräsentativen Anlässen gemeinsam blicken lassen, um den Schein zu wahren.«
»Nein!«, sagte Lui heftig. »Das würde auf ein Leben voller Lügen hinauslaufen und das würde dir doch jede Chance verbauen, glücklich zu werden.«
Er sprach es zwar nicht aus, aber sie wussten beide, was er meinte: Mit einem anderen. Gernots Magen krampfte sich zusammen. Er hatte es völlig falsch angefangen. »Was schlägst du denn vor?«, fragte er kleinlaut.
Lui vergrub das Gesicht in den Händen. Als er es wieder hob, war es noch fleckiger als sonst. Und so schön und ausdrucksstark, dass Gernots Knie weich wurden.
»Gerry«, sagte Lui sanft. »Wenn du mal vergisst, was unsere Väter gerne hätten, was willst du? Und bitte die Wahrheit, keine Lügen mehr.«
»Dich«, platzte Gernot heraus und biss sich erschrocken auf die Lippe.
Sie starrten sich an. Die Zeit stand still. Und dann sprang Lui auf und war mit einem Schritt bei Gernot, zog ihn an sich und endlich, endlich, küsste er ihn. So wild und leidenschaftlich und hungrig wie Gernot es sich vom ersten Augenblick, in dem er ihn sah, gewünscht hatte.
Sie küssten sich eine Ewigkeit. Irgendwann klopfte jemand an die Tür und Gernot unterbrach den Kuss, um zu rufen: »Wir verhandeln noch!«
Darüber mussten sie lachen. Gernot sah in Luis bernsteinfarbenes Auge, den schalkhaften Glanz darin, und sein Herz strömte über vor Liebe für diesen Mann.
»Was hältst du davon, wenn wir uns erstmal besser kennenlernen?«, fragte Lui.
»Viel. Wenn es dir nichts ausmacht, einen verarmten Omega zu daten.«
»Von wegen verarmt. Ich kenne meinen Vater und ich weiß, was er will. Es geht ihm um gesellschaftlichen Aufstieg. Um Macht und Einfluss. Und den kann dein Vater ihm auch auf anderem Weg verschaffen. Sogar auf einem besseren Weg. Fragt sich nur, ob er sich darauf einlässt.«
»Ich schätze, mein Dad wird sich auf so ziemlich alles einlassen, das die Firma rettet und mich aus dem Spiel lässt.«
»Klingt gut.« Lui grinste ziemlich verschlagen und Gernot begriff, dass es so einige Seiten an ihm gab, die er noch nicht kannte. Das würde spannend werden.