»Wenn du auch nur den leisesten Versuch unternimmst, mich noch mal anzugreifen, töte ich dich«, teilte Cam ihm mit.
Wohl nicht die beste Methode, um ihn davon abzuhalten, Anzeige gegen ihn zu erstatten, aber im Moment ging Cam lieber auf Nummer sicher und zog alle Register, um den Mann einzuschüchtern. Wenn er sich erst ein Bild von ihm verschafft hatte, konnte er sich immer noch entschuldigen.
Ha! Dieser Drecksack hatte ihn überfallen. Eigentlich sollte der um Verzeihung bitten.
Cam drängte die aufwallenden Aggressionen zurück und wendete eine der Atemtechnniken an, die seine Trainer ihm beigebracht hatten. Für gewöhnlich gelang es ihm, seine Wut auf Alphas damit in geregelte Bahnen zu lenken. Diesmal fiel es ihm schwer. Hatte er nicht schon genug Probleme am Hals?
Warum rennst du auch nachts alleine durch die Stadt? Du hast es doch herausgefordert! Du warst wütend und hast insgeheim gehofft, dass dich jemand angreift, oder?
Nein!
Grober als nötig schubste Cam den Alpha vor sich her ins Bad. »Wenn ich dich verarzten soll, hältst du still. Keine Bewegung, kapiert?«
Der Mann sank auf den Klodeckel und schielte zu ihm hoch.
Cam sah ihn das erste Mal richtig bei Licht. Sein Angreifer sah relativ jung aus, höchstens dreißig. Kastanienbraune Locken umrahmten ein bärtiges Gesicht mit einem zu breiten Mund, der aussah, als wäre er eher an Lächeln gewöhnt als an die grimmige Miene, zu der er jetzt beitrug. So wie die zusammengezogenen Brauen und die zusammengekniffenen Augen. Die Farbe konnte Cam nicht erkennen.
Bekleidet war der Alpha mit einer abgewetzten Lederjacke, darunter trug er ein verwaschenes T-Shirt. Seine Jeans wiesen Risse auf, und zwar nicht die schicke, gewollte Art, sondern schlichte Verschleißerscheinungen. Aus den ausgefransten Hosenbeinen lugten gammelige Chucks.
Cam merkte, dass er ihn anstarrte und riss sich zusammen. »Leg deine Hände auf die Knie, sodass ich sie sehen kann. Dreh dich zur Seite. Beweg dich nicht.«
Der Mann führte jeden von Cams Befehlen folgsam aus. Cam strich das dichte Haar zur Seite. Die Locken ringelten sich feucht um seine Finger. Es dauerte etwas, bis Cam die Wunde gefunden hatte. Sie war winzig und hatte bereits aufgehört zu bluten. Trotzdem zuckte und stöhnte der Alpha, als läge er im Sterben. »Töte mich nicht!«, jammerte er.
»Stell dich nicht so an«, sagte Cam und wunderte sich darüber, dass seine Stimme beinahe freundlich klang und auf jeden Fall amüsiert. Was war los mit ihm? Warum gefiel ihm diese missliche Situation auch noch? Er hielt sich von Alphas fern, aus guten Gründen. Und jetzt fand er es sogar angenehm, diesem Kerl hier nahe zu sein und ihm durch das wirre Haar zu streichen. Hastig zog er die Hände zurück, als wären die Locken plötzlich glühend heiß geworden. »Es ist nur eine kleine Macke. Ich klebe dir ein Pflaster darauf.«
»Nur eine kleine Macke?«, protestierte der Alpha schwach. »Mein Kopf tut sauweh! Ich habe bestimmt eine schwere Gehirnerschütterung!«
Cam vermutete eher eine leichte. »Gut, wenn du willst, rufe ich dir ein Taxi, das dich ins Krankenhaus fährt.« Ein Krankenwagen kam ihm nun übertrieben vor. So schlecht schien es dem Alpha nicht zu gehen.
»Argh!« Der Alpha zuckte, als Cam das Pflaster auf die Schramme klebte. »Nein! Geht mir schon viel besser.« Er drehte sich zu Cam um und lächelte schief. »Danke.«
Um ein Haar hätte Cam auch noch zurückgelächelt. Er beherrschte sich gerade noch. Irgendetwas stimmte mit dem Alpha nicht. Er sah nicht schlecht aus, trotz des Gestrüpps in seinem Gesicht, aber das hatte Cam noch nie beeindrucken können. Dann wurde es ihm klar: Es war der Geruch.
Der Duft eines Alphas löste in Cam sonst nichts als Widerwillen aus. Aber dieser Kerl duftete erträglich, und das, obwohl er erst vor kurzer Zeit seinen fragwürdigen Mageninhalt auf den Bordstein geleert hatte.