In den Straßen der Remslinger Altstadt drängten sich an diesem Freitag schon seit dem frühen Nachmittag Orks und Elben, Zwerge schwangen ihre Äxte, Zauberer mit künstlichen Bärten und in wallenden Kutten schritten würdevoll über das Kopfsteinpflaster der Fußgängerzone, und vor dem Alten Rathaus reckten mehrere Männer in Aragorn-Kostümen ihre Plastikschwerter in den Frühsommerhimmel. Drei Ringgeister stellten sich vor der Metzgerei Schwarzfuß an, wo es zu Leberkäs- und Schnitzelbrötchen bunte Servietten mit Tolkien-Motiven gab, und vor dem Schaufenster von Gustaf Kruses Puppentheater bestaunten Kinder in Fantasiekostümen die kunstvoll gearbeiteten Puppen, die Kruse eigens für die Tolkien-Tage in Remslingen geschnitzt und mit farbenprächtigen Kleidern ausstaffiert hatte.
Auch auf den Wiesen am Remsufer herrschte ausgelassene Stimmung. Einige Lagerfeuer loderten, und groß gewachsene Hobbits und klein geratene Trolle hatten sich im Kreis um die züngelnden Flammen versammelt. Eine junge Frau im eng anliegenden Schuppenkostüm hatte sich zu ihnen gesellt, ihren Drachenkopf abgenommen und neben sich ins Gras gelegt. Etwas weiter entfernt und somit geschützt vor Funkenflug standen mehrere Baumattrappen aus Pappmaschee, die wohl Ents darstellen sollten, die knorrigen Baumhirten, und eine Horde von Eltern in farbenfrohen Kostümen bejubelte das Sackhüpfen ihrer Kinder.
Dorothee von Meier tauchte mal in diese, mal in jene Gruppe ein, und sie wechselte so beseelt von einem Schauplatz zum anderen, als würde sie schweben vor Glück. Und es war ja auch beeindruckend, was aus ihrer ursprünglichen Idee geworden war. Zum einhundertdreißigsten Geburtstag von John Ronald Reuel Tolkien hatte sie die anderen Mitglieder ihres Vereins Remslinger Kulturlese e. V. für eine Veranstaltung zum Thema Der Herr der Ringe begeistert. Auch im Rathaus hatte sie offene Türen eingerannt: Der neue, junge Oberbürgermeister hatte sich als Tolkien-Fan entpuppt, und sein ebenfalls neuer und noch jüngerer Marketingbeauftragter war in seiner Euphorie bald nicht mehr zu stoppen. Aus der geplanten kleinen Lesung, finanziert von der Stadt, wurde schließlich ein ganzes Tolkien-Wochenende. Und während Dorothee von Meier in der Stadtbücherei eine kleine Lesereihe aus den Werken des britischen Schriftstellers organisierte, zettelte die Stadt selbst ein wahres Festival rund um die Figuren und Geschichten aus Mittelerde an. Der Marketingbeauftragte erklärte den staunenden Stadträten, wie groß und weltumspannend die sogenannte Cosplay-Community inzwischen war und welchen Aufwand die Fans betrieben, um sich – kostümiert wie Comic- oder Fantasyfiguren – auf Messen oder sonstigen Veranstaltungen zu treffen. Er ließ seine Kontakte in die Cosplay-Szene spielen, konnte auch einige Schausteller und Gaukler gewinnen, die sonst auf historischen Märkten aktiv waren, und nun war ganz Remslingen eine wilde Mischung aus Mittelerde und Mittelalter.
Sonja Fischer hatte ihre Vitaminoase zwar für die Dauer der Tolkien-Tage geschlossen – sie hatte Robert erzählt, dass sie dem Auflauf der Cosplayer entgehen und die Gelegenheit nutzen wolle, alte Freunde zu besuchen –, aber wenigstens hatte sie ihr Schaufenster mit großformatigen Szenenfotos aus Peter Jacksons Herr-der-Ringe -Filmen verhängt.
Die meisten anderen örtlichen Händler machten den Spaß mit. Juwelier Gollmann hatte sein Schaufenster mit einer überlebensgroßen Gollum-Figur dekoriert und Sprechblasen aus Karton gebastelt und aufgehängt, auf denen »Mein Schatz!« stand. In der Bäckerei am Marktplatz gab es Moria-Kringel und Bruchtal-Brezeln, und das Café Journal hatte ein sehr opulentes Auenland-Frühstück auf die Karte gesetzt.
Lino Fontana, der Wirt des Ristorante Fontana am Marktplatz, hatte seine Speisekarte angepasst und einige seiner Spezialitäten umbenannt – nun bot er Spaghetti al Smaug an, und die Pizza Frodo verkaufte er auch stückweise auf die Hand. Sein Vater Pasquale Fontana fand das zwar albern, aber seit er seinem Sohn das Ristorante übergeben hatte, hielt sich der einstige padrone zur allgemeinen Überraschung tatsächlich vollständig mit Kommentaren zu den Geschäftsideen und Entscheidungen seines Sohnes zurück. Nur an einem hielt er eisern fest: Wann immer er Lust dazu hatte, saß er auf einem Stuhl am Rand des Außenbereichs, schmauchte sein Pfeifchen und süffelte dazu Rotwein aus seiner alten Heimat Apulien. Allerdings blieb der Stuhl verwaist, seit die Remslinger Innenstadt mit Besuchern geradezu geflutet worden und nirgendwo mehr ein ruhiges Eckchen zu finden war.
Selbst Robert Mondrian beteiligte sich an dem Festival, und Selina Brand hätte ihn gern unterstützt, aber sie hatte von Donnerstag bis Samstag Termine in ganz Deutschland, die sie nicht verschieben konnte. Eine Hilfe war sie ihm trotzdem gewesen: Einer der Kleinverlage, für die sie den Außendienst besorgte, hatte mehrere Schmuckausgaben von Tolkiens Werken im Programm, die Robert ins Angebot genommen hatte. Er hatte seinem Mitarbeiter Alfons sogar gestattet, einige Plastikfiguren im Buchladen aufzustellen, die er sich von einem befreundeten Sammler ausgeliehen hatte. Nur ein Räuchermännchen, das einen zwanzig Zentimeter hohen Drachen darstellte, musste wieder aus dem Regal genommen werden, weil der Gestank der Räucherkerze zu penetrant war. Alfons’ Freundin Marie, die an der Uni Stuttgart an ihrem Bachelor in Germanistik arbeitete und im Anschluss einen Master in Sprachtheorie und Sprachvergleich machen wollte, brachte Robert mit einem ihrer Professoren zusammen, der von den Sprachen, die Tolkien für seine Mittelerde-Welt erfunden hatte, ebenso fasziniert war wie Mondrian. Und so erläuterte der Professor mehrmals am Tag für eine halbe Stunde einem kleinen, aufmerksamen Publikum in der Leseecke der Buchhandlung, dass sich Tolkiens Elben in Sprachen unterhielten, die der Schriftsteller aus Walisisch und Finnisch entwickelt hatte.
Doch während es in Roberts Laden eher ruhig zuging und sogar die Kunden nur gedämpft mit ihm oder seinem Mitarbeiter sprachen, um den Vortrag nicht zu stören, herrschte draußen ein unbeschreiblicher Trubel. Der Betreiber eines historischen Karussells hatte sich die Mühe gemacht, seine Holzpferde mit selbst gebastelten Masken und Kostümen als Trolle und Elben zu inszenieren. Der Aufwand hatte sich gelohnt: Kein Sitzplatz blieb ungenutzt, und die verzückten Eltern beugten sich hin und her, um ihre Kleinen zusammen mit möglichst vielen der kostümierten Pferde aufs Handyfoto zu bekommen. Die Kinder jauchzten, die Erwachsenen lachten, und überall standen Cosplayer einzeln oder in Gruppen herum und deklamierten Zitate aus Tolkiens Fantasysaga. Einige rannten auch kreuz und quer über den Marktplatz, verfolgten sich durch die Gassen oder stellten sich vor dem Beinsteiner Tor zur Schlacht – in der Hoffnung, ihre theatralischen Posen würden vor der imposanten Kulisse weniger albern wirken. An manchen Ecken verstand man sein eigenes Wort nicht mehr, und überall waren Lärm und Bewegung.
Deshalb wunderte sich auch niemand, dass plötzlich eine Gruppe kostümierter Gestalten aus Gollmanns Juweliergeschäft rannte und zwischen den Feiernden hindurch in Richtung Kurze Gasse drängte. Und kaum jemand bemerkte zunächst, dass Juwelier Gollmann unmittelbar danach ins Freie trat, kreidebleich und mit wackligen Knien. Er schaute nach links und nach rechts, als suchte er jemanden, dann begann er um Hilfe zu rufen.
Robert trat vor die Tür seiner Buchhandlung, die im Moment durchgehend offen stand, und ließ den Blick über das Getümmel auf dem Marktplatz schweifen. Juwelier Gollmann bemerkte er zunächst nur aus den Augenwinkeln, aber als er den Mann wanken und an der Hausmauer nach Halt tasten sah, wandte er seinen Kopf zu ihm hin und versuchte, aus dem schlau zu werden, was er über die Köpfe der Menge hinweg erkennen konnte. Gollmann war blass, er schien zu zittern, und sein Nachbar Lino eilte herbei, stützte seinen Arm und sah ihn besorgt an. Nun war zu hören, wie eine Passantin nach einem Blick durch die offene Tür des Schmuckladens einen hysterischen Schrei ausstieß, und mehrere Umstehende näherten sich Gollmann. Einige von ihnen holten ihre Handys hervor – einer schien Hilfe herbeizurufen, die anderen machten Fotos vom Juwelier und seinem Ladengeschäft. Als ein besonders dreister Schaulustiger Anstalten machte, für weitere Aufnahmen durch die Eingangstür nach drinnen zu gehen, fuhr der Nachbar wütend dazwischen und drängte den Mann mit wilden Gesten und lauter Stimme zur Seite.
Einen Moment lang dachte Robert darüber nach, dem Juwelier und seinem Nachbarn zu Hilfe zu eilen, aber dann sah er zwei Frauen in Sanitäterkluft zu Gollmann rennen. Eine der beiden fühlte ihm den Puls, die andere flitzte in den Laden hinein, wohin der Juwelier aufgeregt gedeutet hatte. Nur Sekunden später – Gollmann wurde von Wirt Lino auf einen Stuhl vor dessen Ristorante bugsiert – ließ die Sanitäterin vom Juwelier ab und eilte ebenfalls in den Laden. Kurz darauf war eine Sirene zu hören, und ein Rettungswagen bahnte sich von der Kurzen Straße herauf den Weg durch die Menschenmenge. Und noch während ein schwer verletzter Mann aus dem Juweliergeschäft in den Wagen geschafft wurde, mischten sich unter die Zauberer, Orks und Elben auf dem Marktplatz immer mehr uniformierte Polizisten. Sie bezogen Posten an den Ausgängen des Platzes, begannen damit, Umstehende zu befragen, und als Robert unter einigen herbeieilenden Frauen und Männern in Zivil auch die Kripokommissare Neher und Lachenmaier erkannte, wusste er, dass Gollmann Schlimmeres widerfahren war als nur ein Schwächeanfall.
»Aufregend«, raunte ihm Alfons ins Ohr, der unbemerkt neben seinen Chef getreten war und fasziniert beobachtete, was auf dem Marktplatz vor sich ging.
Robert warf ihm einen genervten Blick zu.
»Darf ich?«, fragte Alfons trotzdem, und als Robert Mondrian nur resigniert mit den Schultern zuckte, war er mit einigen schnellen Schritten in der Menge verschwunden. Robert sah ihm nach, verlor ihn kurz aus den Augen, entdeckte ihn dann aber in einer Entfernung vom Juweliergeschäft, die leidlich Respekt vor Gollmanns Privatsphäre bezeugte, ihm aber doch eine gute Sicht auf alle womöglich noch kommenden Ereignisse gewährte.
»Soll ich ihn zurückpfeifen?«
Robert hatte Marie Beck nicht kommen sehen. Nun stand sie neben ihm vor der Tür zur Buchhandlung und nickte zu ihrem Freund hinüber.
»Nein, lassen Sie ihn ruhig«, sagte Robert und winkte ab. Er schaute zur Leseecke. Dort war der Vortrag gerade zu Ende gegangen, und die Handvoll Zuhörer erhoben sich und plauderten noch mit dem Referenten, einem stattlichen Herrn Anfang sechzig, der müde wirkte und sich offensichtlich sehr anstrengen musste, die immer gleichen Fragen mit freundlichem Lächeln zu beantworten.
»Lust auf einen Kaffee?«, fragte Robert. »Ihr Professor hat gleich Pause.«
Gustaf Kruse hatte sich zwar viel Arbeit mit den Handpuppen gemacht, die er passend zu den Tolkien-Tagen angefertigt hatte, aber ein neues Theaterstück war ihm zu diesem turbulenten Event nicht eingefallen. Stattdessen führte der Puppenspieler bis Sonntag zwei andere Stücke aus seinem Repertoire auf, die zumindest vage zur Fantasiewelt von Der Herr der Ringe passten, und natürlich sein emanzipiertes Märchenstück Die Froschkönigin oder die eiserne Henrike , mit dem er im vergangenen Jahr so großen Erfolg gehabt hatte.
Die beiden Aufführungen für Kinder waren schon vorüber, der kleine Theatersaal war gut gefüllt gewesen, und bis zum Beginn der Abendvorstellung hatte er noch etwas Zeit. Also schlenderte er durch die Altstadt und genoss das Treiben der Gäste. An einem Stand ließ er sich ordentlich Zuckerwatte auf ein Holzstäbchen wickeln, und während er kleine Büschel von dem klebrigen Zeug abzupfte und sich zwischendurch die Lippen sauber leckte, betrachtete er die Schaufenster, an denen er vorbeikam. Sonja Fischer, die er nach wie vor nicht mochte, hatte die Glasflächen mit Filmfotos zugeklebt, der Obstladen war übers Wochenende geschlossen. Gollmann hatte seine Fenster schön dekoriert und in seiner Werbung – sehr passend, wie Kruse fand – vor allem auf den wertvollen Ring hingewiesen, den er mit großem Trara im Verkaufsraum ausstellte. Im Weggehen fragte sich der Puppenspieler, ob dem ziemlich humorlosen Juwelier wohl aufgefallen war, dass sein Name dem des unglückseligen Gollum ähnelte, den der Eine Ring , mit dem Sauron alle anderen Ringe beherrschen wollte, ins Verderben geführt hatte. Kruse drehte seine Runde, bestaunte die aufwendigen Kostüme der zahlreichen Gäste, lächelte über die jauchzenden Kinder und die fotografierenden Eltern am historischen Karussell, und nachdem er die Zuckerwatte aufgegessen und das Holzstäbchen in einen Mülleimer geworfen hatte, holte er sich im Ristorante Fontana eine Pizzaschnitte und hielt auf das Café Journal zu, wo er sich zum Abschluss noch einen Espresso gönnen wollte.
Da bemerkte er aus den Augenwinkeln, dass auf der anderen Seite des Marktplatzes plötzlich zusätzliche Unruhe in das ohnehin chaotische Treiben kam. Er wandte sich um. Ein paar Meter entfernt vom Juweliergeschäft wurden Menschen beiseitegestoßen, manche protestierten lautstark und riefen den Rüpeln mit erhobener Faust Schimpfworte hinterher. Kruse war recht groß, dennoch konnte er aus seiner Position nur einen spitzen Hut durch die Menge pflügen sehen – einer der Radaubrüder war offenbar als Zauberer Gandalf verkleidet, aber der Schneise nach zu urteilen, die sich in der Menge auftat, mussten dort mehrere Personen in Richtung Kurze Straße rennen. Nun wankte Gollmann aus seinem Laden und sah sich nach Hilfe um. Lino Fontana, der ihm eben noch eine Pizzaschnitte überreicht hatte, eilte zu ihm, und recht nah beim Geschehen stand eine Frau, die nie weit war, wenn irgendetwas in Remslingen vorfiel, das Stoff für Klatsch und Tratsch bot: Elsa Heberle.
Die Flucht durch die Menschenmenge hätte nicht besser laufen können. Natürlich hatte jeder sie sehen können, aber die Polizei würde mit der Beschreibung der Täter nicht viel anfangen können. Gandalf lachte kehlig, Frodo bedeutete ihm mit einer knappen Geste, still zu sein, bis sie die Altstadt und das Gewimmel der Cosplayer hinter sich gelassen hatten. Nur die Orks tappten still und gleichgültig hinter ihnen her.
Die Kostüme hatten sich noch aus einem weiteren Grund als sehr praktisch erwiesen. In Gandalfs weit fallendem Mantel ließen sich gut die Messer verbergen, mit denen sie den Juwelier und seinen Mitarbeiter in Schach gehalten hatten. Und die Orks hatten sie dicker als üblich ausstaffiert. In den Beuteln, über denen sich ihre mit Kunstfell und Plastikstücken besetzten Wämser spannten, war die Beute untergebracht. Goldketten, Uhren, Diademe, Ohrringe. Vor allem aber den Einen Ring , den Gollmann als sein teuerstes Stück besonders protzig inszeniert hatte.
Die Glasglocke, unter der er auf Samt gebettet gelegen hatte, war mit einer recht teuren Sicherheitsvorrichtung versehen gewesen. Doch die Sperre zu öffnen war mit dem richtigen Programmiercode kein allzu schweres Unterfangen, und dass die Glocke Alarm auslöste, sobald sie von ihrem Unterbau gehoben wurde, störte nicht allzu sehr, wenn man ohnehin nur Sekunden später untertauchen wollte. Dumm war nur gewesen, dass Gollmanns Mitarbeiter offenbar den Helden spielen wollte und sie anzugreifen versuchte. Dabei ging die Glasglocke zu Bruch – und der Mitarbeiter nach einem Messerstich zu Boden.
Mit zügigen Schritten, aber ohne zu rennen, erreichten sie den Parkplatz in der Weingärtner Vorstadt und öffneten die Schlösser, mit denen sie ihre Fahrräder neben einem Kombi an den Stamm eines Baums angekettet hatten. Die Orks schwangen sich flink auf ihre Drahtesel, Frodo brauchte einen Moment länger, und Gandalf fuhr erst kurz nach ihnen los und hatte auf den ersten Metern einige Mühe, mit dem Vehikel geradeaus zu fahren. Nur mühsam kam er in Tritt und folgte den anderen. Es ging die schmale Straße in Ufernähe entlang, über die Talstraße hinweg, sobald der dichte Verkehr die erste Lücke bot, weiter remsabwärts am Reitverein vorbei, aus der Stadt hinaus und vorüber an der Kläranlage. Als nach einer Weile jenseits des Flusses schon die Fabrik und die ersten Gebäude von Remslingen-Neustadt zu sehen waren, schlugen sich die vier Gestalten für ein paar Minuten in die Büsche und setzten ihre Fahrt kurz darauf fort, nun nicht mehr kostümiert, aber mit prallen Rucksäcken beladen. Schließlich erreichten sie einen geschlossenen Transporter, weiß lackiert und ohne Werbeaufschrift, der am Straßenrand abgestellt war. Die Räder und die Rucksäcke verschwanden auf der Ladefläche, und kaum war der letzte ihrer Kumpane eingestiegen, gab die Frau am Steuer auch schon Gas und preschte mit dem Gefährt in Richtung Hegnach davon.
Die Kaffeemaschine mahlte, röchelte und zischte, und als die letzten Gäste des Vortrags gegangen waren, trug Robert drei Tassen in die Leseecke. Professor Dr. Markus Bopp nahm den Milchkaffee dankend entgegen und ließ sich mit einem tiefen Seufzen in einen der Sessel fallen. Marie rührte etwas Zucker in ihren Latte macchiato, und Robert grinste Bopp über seinen doppelten Espresso hinweg an. Der Professor erwiderte seinen Blick mit schlecht gespielter Leidensmiene.
»Worauf habe ich mich da nur eingelassen?«, brummte er und wandte sich an Marie. »Da haben Sie mir ja etwas eingebrockt, Frau Beck!«
Sie grinste, und nun ließ auch Bopp zu, dass sich ein gutmütiges Lächeln auf sein rundliches Gesicht legte.
»Nein, im Ernst«, gestand er, »mir macht das großen Spaß. Wenn ich an der Uni mit Tolkiens Sprachen ankomme, muss ich schon das Zauberwort ›prüfungsrelevant‹ einstreuen, dass mir überhaupt jemand zuhört.«
Er nahm einen großen Schluck Kaffee.
»Aber immer wieder dasselbe sagen, kondensiert auf das, was gerade so in eine halbe Stunde passt – das ist dann doch anstrengend. Und die Fragen im Anschluss … na ja, da höre ich von Ihnen in der Regel bessere, Frau Beck.«
Sie dankte mit einem kurzen Nicken, und Robert deutete zum Schaufenster hinaus.
»Gleich werden wir vor allem Antworten hören.«
Alfons arbeitete sich durch die Menge auf dem Marktplatz auf die Buchhandlung zu, und er sah aus, als wollte er Neuigkeiten loswerden.
»Antworten auch auf Fragen, die keiner von uns gestellt hat«, sagte Robert und erhob sich, um auch für Alfons einen Kaffee aus der Maschine zu lassen. Als er mit einer dampfenden Tasse zurückkehrte, hatte sich sein Mitarbeiter schon neben Marie niedergelassen, wartete mit seinem Bericht aber noch, bis sie vollzählig waren.
»Chef, die Kripo ermittelt wieder!«
»Ich weiß. Ich habe gesehen, dass Kommissar Neher und sein Kollege zum Juweliergeschäft unterwegs waren. Was ist denn passiert?«
»Gollmanns Mitarbeiter wurde niedergestochen. Er lebt, ist aber schwer verletzt im Rettungswagen weggebracht worden. Ich habe etwas von einer Notoperation aufgeschnappt, vermutlich liegt er schon auf dem OP-Tisch in Winnenden. Meine Güte, hoffentlich kommt er durch! Als wir hier in Remslingen noch das Krankenhaus hatten, wären es ja nur wenige Minuten gewesen, aber so …«
Alfons war ganz außer sich. Seine Wangen hatten sich gerötet, und er knetete die Finger. Marie legte beruhigend eine Hand auf seine, aber ihr Freund sah sie nur irritiert an.
»Findest du das nicht schlimm? Ich meine, da wird fast vor unseren Augen jemand niedergestochen und …«
»Schon gut, Alfons, jetzt übertreib nicht. Der Mann wird es schon schaffen, nach Winnenden ist es nicht weit, und die Ärzte werden ihre Arbeit gut machen.«
Sie musterte ihn, außer seiner Aufregung war durchaus auch Faszination von seinem erhitzten Gesicht abzulesen.
»Und die Polizei weiß ebenfalls, was nun zu tun ist«, fügte sie mit warnendem Unterton hinzu.
»Na ja, die Polizei. Der wird vielleicht erst mal gar nicht klar sein, wer überhaupt zuständig ist: Neher und Lachenmaier kümmern sich ja um Mord und Totschlag, aber was da vorhin passiert ist, fällt einstweilen gar nicht unbedingt in ihr Ressort!«
»Was ist denn sonst noch passiert?«, warf Robert ein.
»Die Täter haben Schmuck gestohlen, darunter wohl auch den wertvollsten Ring im Laden.«
»Dieses protzige Ding, das Gollmann neben seiner Theke unter einer Glashaube ausgestellt hatte?«
Robert erinnerte sich mit Schaudern an die kitschige Inszenierung, die der Juwelier ihm gestern stolz präsentiert hatte: Ein dunkelblaues Kissen lag auf einer Plastiksäule in Marmoroptik, ein fetter Klunker mit noch fetterem Preisschild ruhte auf dem Stoff, und darüber wölbte sich eine kleine Kuppel aus Glas. Zu allem Übel hatte Gollmann noch mehrere Strahler an der Decke angebracht und auf den Ring gerichtet, die den eingefassten Diamanten und die sorgfältig polierte Glaskoppel nach allen Richtungen gleißen und blitzen ließen.
»Genau das!«, bestätigte Alfons.
»Das ist ja ein Ding!«, entfuhr es Robert. »Ein Schmuckraub am helllichten Tag mitten in der Stadt! Immerhin wird die Polizei reichlich Augenzeugen finden.«
»Das wird uns nicht viel helfen«, kam eine Stimme vom Eingang her. Dort lehnte Kommissar Klaus Neher im Türrahmen und lächelte resigniert.
»Ah, Herr Neher! Auch einen Kaffee?«
»Ja, bitte.«
Neher stieß sich vom Türrahmen ab und kam zu ihnen in die Leseecke.
»Meine Kollegen klappern die Anwohner ab, aber Sie zu befragen wollte ich mir natürlich nicht nehmen lassen. Auch Sie nicht, Herr Weber«, fügte er mit einem Augenzwinkern hinzu.
Robert lachte und ging in die kleine Teeküche, Alfons wirkte etwas nervös.
»Hören Sie uns schon lange zu?«, fragte er und nickte zur Tür hinüber.
»Etwa seit: ›Na ja, die Polizei.‹«
Alfons schluckte und senkte den Blick.
»Aber Sie können beruhigt sein«, fuhr Neher fort. »Die Frage der Zuständigkeit wird uns nicht an unserer Arbeit hindern.«
Robert kam mit einem Cappuccino wieder, und Neher nippte vorsichtig an der Tasse.
»Wie geht’s denn Herrn Gollmann?«, erkundigte sich Robert.
»Ihm ist nichts weiter passiert, aber der Schreck sitzt ihm in den Knochen. Und natürlich der Ärger darüber, dass er bestohlen wurde. Immerhin scheint er einen guten Versicherungsvertreter zu haben. Den rief er an, gleich nachdem die Sanitäter nach ihm geschaut hatten, und der scheint sich jetzt schon um den ersten Papierkram zu kümmern.«
»Ich kann Ihnen übrigens leider nicht viel zu dem Zwischenfall sagen«, sagte Robert, ohne Nehers Frage abzuwarten. »Fast nichts, eigentlich. Ich stand gerade vor meinem Laden, als ich Herrn Gollmann auf die Straße treten sah. Lino Fontana, der Wirt des Ristorante nebenan, stützte ihn, als Gollmann ins Wanken geriet. Dann kamen auch schon die Sanitäter – und die Schaulustigen.«
Neher seufzte und nahm noch einen Schluck.
Robert sah ihn an, er wirkte müde.
»Was meinten Sie damit, als Sie vorhin sagten, dass Ihnen die Augenzeugen diesmal keine Hilfe seien?«
Der Kommissar setzte die Tasse ab und massierte sich kurz die Schläfen, bevor er antwortete.
»Den Raub selbst hat wohl niemand beobachtet, auch nicht den Moment, in dem Herrn Gollmanns Mitarbeiter niedergestochen wurde. Aber die Flucht der Täter haben viele mitbekommen.«
»Und das soll Ihnen nicht helfen?«
Robert wunderte sich, aber Neher winkte nur ab.
»Sagen wir es mal so«, fasste er schließlich zusammen: »Dank der Augenzeugen wissen wir, dass der Zauberer Gandalf, der Hobbit Frodo Beutlin und zwei Orks direkt nach der Tat das Juweliergeschäft verlassen haben und in Richtung Kurze Straße geflohen sind.«
Alfons nickte betrübt, weil er das schon aufgeschnappt hatte. Professor Bopp musste ein Lachen unterdrücken, und Marie räusperte sich.
»Oh, die waren verkleidet«, entfuhr es Robert.
»Ja, Herr Mondrian, passend zu dem ganzen Irrsinn, der sich an diesem Wochenende in der Stadt abspielt.«
»Und jetzt sind sie vermutlich untergetaucht, und Ihre Kollegen haben keine Ahnung, wer hinter den Masken und in den Kostümen steckte.«
Neher nickte, erhob sich und ging aus dem Laden. Robert sah ihm nach. Alfons trat neben ihn.
»Der Kommissar sieht aus, als könnte er Hilfe brauchen«, raunte er seinem Chef zu.
Der schüttelte nur den Kopf und trug die leeren Tassen in die Teeküche. Alfons dachte kurz – aber wirklich nur einen Wimpernschlag lang – daran, ihm zu folgen und ihm den neuen Fall schmackhaft zu machen. Aber dann betrat eine Kundin den Laden, und er eilte zu ihr.
Der weiße Transporter stand schließlich verlassen am Straßenrand in einem der Gewerbegebiete der Umgebung. Die Frau hatte sich wie selbstverständlich auch hinter das Steuer des unauffälligen Kombis gesetzt, mit dem drei der vier Räuber zu dem Versteck fahren wollten, in dem sie zwei, drei Tage warten wollten, bis sich die ärgste Aufregung gelegt haben würde. Von der Bildfläche verschwunden, aber nah genug am Tatort, um gerade dort von niemandem gesucht zu werden.
Der älteste der drei Männer strich der Frau noch kurz über die Wange, bevor er sich in den anderen Wagen setzte und sich auf den Weg zu dem Hehler machte, der einen ersten Teil der Beute zu Geld machen sollte. Er brauchte bis zu seinem Fahrtziel deutlich länger als seine drei Komplizen, aber vor Ort konnte er das Nützliche mit dem äußerst Angenehmen verbinden. Als die Uhren und ein Teil des Schmucks übergeben und ein stattlicher Vorschuss auf den zu erwartenden Erlös kassiert war, fuhr er noch ein paar Kilometer, um die Frau zu treffen, die für ihn den Kontakt zu dem Hehler hergestellt hatte. Als er ihr Haus betrat, ging es sehr schnell nicht mehr um Schmuck. Auch nicht um Geld oder Kleidung. Sondern nur um sie beide, mit Haut und Haaren. Wobei … er das Zusammensein körperlich zwar sehr genoss, sich im entscheidenden Moment aber vorstellte, wie er sich in einem anderen Bett wälzte, eine gute Autostunde entfernt.
Robert hatte gut zu tun an diesem Nachmittag. Professor Bopp absolvierte zunehmend routiniert seine halbstündigen Vorträge, und die letzten beiden vor Ladenschluss waren besonders gut besucht. Anschließend stöberten die Gäste im Angebot der Buchhandlung Mondrian, und auch mehrere der hochpreisigen Tolkien-Schmuckausgaben fanden einen Käufer.
Dorothee von Meier kam vorbei und verschenkte Freikarten für die sonntägliche Lesung an Alfons, ihre einstige Schülerin Marie und den Professor. Robert steckte sie zwei Karten zu und zwinkerte ihm verschwörerisch zu, während sie etwas von einer Begleitung raunte, die er gern mitbringen dürfe. Robert bedankte sich, hatte aber keine Lust, auf ihre Anspielung einzugehen. Ohnehin wusste er nicht, ob Selina Lust auf eine Lesung hatte, wenn sie nach ihrem anstrengenden Programm am Sonntag endlich mal die Beine hochlegen konnte. Immerhin registrierte er, dass die Lesung wohl etwas größer aufgezogen wurde: Sie fand in der Stadtbücherei statt, und die Namen der beiden Männer, die aus Tolkiens Texten rezitieren sollten, kannte sogar er, obwohl er weder großer Fernseh- noch Kleinkunstfreund war.
»Die Gagen der beiden übernimmt die Stadt«, erklärte Frau von Meier, als Robert wegen der prominenten Mitstreiter nachfragte. »Da kann man das ja schon mal machen, nicht wahr?«
Robert hatte Mühe, ernst zu bleiben, aber die pensionierte Lehrerin achtete ohnehin nicht länger auf ihn, grüßte noch einmal in alle Richtungen und eilte auch schon wieder hinaus auf den Marktplatz. Dort stand sie einen Moment, offenbar unschlüssig, in welcher Richtung nun wohl die beste Unterhaltung zu finden war, bevor sie mit schnellen Trippelschritten davonging.
Alfons flitzte zwischen den Kunden hin und her, er versuchte erkennbar, einen guten Eindruck auf seinen Chef zu machen. Doch den besten Eindruck machte er damit, dass er den Überfall auf das Juweliergeschäft nicht mehr erwähnte. Erst als die letzte Kundin hinausgegangen war und Alfons für diesen Tag die Tür geschlossen hatte, die altmodische Türklingel verhallt war und die beiden Kakadus das Echo des Läutens täuschend echt von sich gegeben hatten, kam er wieder auf das Thema zu sprechen.
»Chef, darf ich Sie was fragen?«
»Ja, ich würde zum Feierabend einen Cappuccino nehmen«, versetzte Robert, ohne von den Papieren aufzusehen, die er gerade ordnete. Alfons stutzte, doch dann ging er in die kleine Teeküche hinüber, und während die Maschine Laut gab, genehmigte sich Robert ein Grinsen. Und als er kurz zur Leseecke hinüberschaute, erwiderte Marie seinen Blick ebenso amüsiert. Alfons kehrte mit drei Bechertassen zurück, gab seinem Chef und seiner Freundin eine und nippte an der dritten.
»Ich hatte etwas anderes gemeint«, nahm er dann einen neuen Anlauf.
»Ich weiß«, erwiderte Robert versöhnlich, behielt aber einen etwas spöttischen Unterton bei. »Und wie gedenkst du nun in diesem neuen Kriminalfall zu ermitteln?«
Alfons schmollte kurz, fing sich jedoch schnell wieder.
»Das weiß ich noch gar nicht, aber wäre das nicht auch für Sie interessant, Chef?«
»Und was würde mich deiner Meinung nach besonders für Recherchen in dieser Angelegenheit qualifizieren? Dass sich die Räuber als Romanfiguren aus Der Herr der Ringe verkleidet haben und ich als Buchhändler an den Umgang mit Romanfiguren gewöhnt bin?«
Dazu fiel Alfons nichts ein, er zuckte etwas hilflos mit den Schultern.
»Du hast den Kommissar doch gehört«, fügte Robert hinzu. »Die arbeiten mit Hochdruck an dem Fall, und das sollten wir diesmal wirklich den Profis überlassen.«
Der Blick des jungen Mannes senkte sich, und er ließ seine schmalen Schultern hängen.
»Aber natürlich kannst du in deiner Freizeit machen, was du willst. Und wenn es dir Spaß macht, in dieser Geschichte herumzuschnüffeln, dann werde ich dich nicht daran hindern. Aber mich lässt du bitte raus, in Ordnung?«
»Ich meinte ja nur …«, sagte Alfons noch, schon ziemlich resigniert, dann zog er die Ladentür auf und ging hinaus. Marie folgte ihm, hob kurz den Daumen in Richtung Robert, hakte ihren Freund unter und steuerte mit ihm auf das Fontana zu.
Robert holte den Werbeaufsteller herein, und als er ihn vom Bollerwagen hievte und an die Verkaufstheke lehnte, hörte er die Glocke noch einmal läuten. Alfons ging an ihm vorbei und lud den Vogelkäfig auf den frei gewordenen Wagen.
»Sorry, Chef, ich war ganz in Gedanken. Um ein Haar hätte ich Sherlock und Watson im Laden vergessen.«
Damit war er auch schon wieder draußen. Die Kakadus riefen ein paarmal »Vergessen! Vergessen!« und ernteten das Gelächter der Passanten. Dann hatte die kostümierte Menge auf dem Marktplatz seinen Mitarbeiter, dessen Freundin und die zwei vorwitzigen Vögel verschluckt. Robert sah durchs Schaufenster. Vor der Tür des Ristorante tauchten Marie und Alfons wieder aus dem Gewimmel auf. Wirt Lino kam ihnen entgegen, nickte beflissen, deutete dann aber auf den Käfig auf dem Bollerwagen. Es ging ein bisschen hin und her, schließlich überließ Lino den beiden den äußersten der Tische auf dem Marktplatz. Alfons bugsierte den Bollerwagen neben sich an die Hauswand und redete auf die beiden Kakadus ein, die sich daraufhin abwandten und stur auf die Mauer starrten.
Robert lachte. Sosehr ihn Alfons mit seinen Marotten manchmal nervte: Ohne ihn und diese schrägen Vögel wäre sein Leben in Remslingen um einiges ärmer.
Das Handy weckte sie zuerst auf, aber noch bevor sie über ihn hinweg danach greifen konnte, hatte auch er die Augen aufgeschlagen und hob das Smartphone ans Ohr. Er meldete sich mit einem Brummen, setzte sich aber sofort auf, als er hörte, wer ihn anrief. Sie musterte ihn und versuchte zu hören, wer dran war, aber er rückte ein kleines Stück von ihr ab.
»Hat alles geklappt«, sagte er. »Die Anzahlung bringe ich mit. Er glaubt, dass es ein bisschen weniger einbringen könnte, als wir hoffen.«
Die Antwort fiel wohl barsch aus, denn er schlug einen versöhnlichen Ton an, als er schnell hinzufügte: »Nein, ich lass mich nicht über den Tisch ziehen, keine Sorge. Aber wir haben ja noch genug übrig, das wird sich unter dem Strich schon lohnen, mach dir da bloß keinen Kopf. Und vergiss den Ring nicht.«
Wieder eine Pause, die Frau neben ihm lauschte, konnte aber nicht einmal sagen, ob am anderen Ende der Leitung ein Mann oder eine Frau sprach.
»Ich weiß, dass das mit dem Ring noch einmal eine ganz andere Nummer wird. Aber das krieg ich geregelt. Ich mach das ja nicht zum ersten Mal.«
Er hörte zu, dann lachte er. Es klang rau, vertraut, und der Frau neben ihm versetzte es einen Stich. Das war kein Mann am anderen Ende.
»Genau, ich schaff das schon. Wie jedes Mal, das kannst du mir glauben.«
Kurze Pause. Die Frau neben ihm ließ sich auf den Rücken sinken, was die Bettfedern zum Knarren brachte.
»Nein, ich bin allein«, versicherte er, eine Spur zu eilig, und er wandte sich um und warf der Liegenden einen bösen Blick zu. »Ich bin auch schon fast wieder auf dem Rückweg.«
Kurze Pause.
»Was heißt hier ›lang gebraucht‹? Ich muss ja sicher sein, dass mir niemand folgt. Zerbrich dir nicht deinen hübschen Kopf, ich weiß, was ich tue. Also dann, bis nachher.«
Er drückte das Gespräch weg, massierte sich die Schläfen und griff schließlich nach seinen Kleidern. Dann legte die Frau neben ihm eine Hand auf seine Schulter. Er zögerte und legte die Kleider schließlich noch einmal beiseite.
Nach Ladenschluss räumte Robert Mondrian in der Buchhandlung noch ein wenig um, sortierte Belege und ordnete Unterlagen. Doch gegen halb acht fiel ihm nichts mehr ein, womit er seine Zeit weiter totschlagen konnte. Selina Brand fehlte ihm, und daran würde sich bis morgen am späten Nachmittag auch nichts ändern.
Er hatte keine Lust, seinen Abend allein zu verbringen, aber es würde wohl genau darauf hinauslaufen. Klaus Neher hatte mit seinem neuen Fall zu tun und durfte sich vermutlich so schnell keine Pause gönnen. Gustaf Kruse hatte noch eine Abendvorstellung zu spielen und war mittlerweile sicher schon mit den letzten Vorbereitungen dazu beschäftigt. Ob er sich im Thai-Imbiss etwas holen und vor dem Fernseher essen sollte? Auf ein Nudelgericht im Fontana hätte er Appetit gehabt, aber der Käfig mit Sherlock und Watson stand noch vor dem Haus, und er hatte keine Lust darauf, sich mit Alfons zu unterhalten. Schließlich entschied er sich für ein Vesper in der Küche, trank dazu Wasser und arbeitete sich danach durch das Fitnessprogramm, das er dreimal die Woche daheim absolvierte. Als er mit den Übungen fertig war, ihm aber noch immer das Bedauern über Selinas Abwesenheit durch den Kopf ging, erlegte er sich eine zweite Runde auf und stand schließlich ausgepumpt und leidlich abgelenkt so lange unter der Dusche, bis das ganze Badezimmer vom Wasserdampf vernebelt war. Er stieß das Fenster auf und malte sich grinsend aus, was Frau Heberle wohl als Grund dafür vermuten würde, dass dichte Dampfwolken aus seinem Bad drangen.
Im Wohnzimmer rubbelte er sich die Haare trocken und ließ den Blick noch einmal über den Marktplatz schweifen. Er sah Marie und Alfons aufstehen, und bald hatten sie den Bollerwagen mit den Kakadus die Kurze Straße hinunter- und aus seinem Blickfeld gezogen. Hunger hatte er nun keinen mehr, aber ein Spaziergang würde ihm guttun. In der Mediathek würde er auch später noch einen sehenswerten Film finden.
Der Abend war mild, und die Passanten, die ihm auf dem Weg durch die Altstadt begegneten, waren größtenteils gut gelaunt. Sie waren aufgekratzt und hungrig auf dem Weg zum Restaurant oder schlenderten satt und entspannt nach Hause. Inzwischen dominierten normale Spaziergänger das Bild der Innenstadt, die Windjacke oder Handtasche trugen statt fantasievoller Kostüme. Doch als er die Stadtmauer durch das Bädertörle unterquerte und auf die Remsbrücke trat, sah er vor sich auf den Wiesen überall Lagerfeuer, um die herum sich die Cosplayer inzwischen versammelten, die den Tag über die Altstadt bevölkert hatten.
Robert hörte Melodien und Akkorde herüberwehen, und tatsächlich saßen an fast jeder Feuerstelle Musiker und animierten die anderen zum Mitsingen. Die Qualität der Darbietungen war sehr unterschiedlich. Ein hiesiger Krimiautor, den Dorothee von Meier schon seit Jahren für eine Lesung gewinnen wollte, schrammelte auf der Gitarre einen Klassiker von Leonard Cohen und sang dazu. Am nächsten Feuer erwiesen sich ein Geiger, ein Gitarrist und eine auf ihrer Cajón sitzende Sängerin als Musiker von ganz anderem Kaliber, und als Robert an einer Gruppe vorüberkam, die sich besonders dicht und zahlreich um einen stattlichen Haufen brennender Scheite drängten, kam ihm der Musiker inmitten des Getümmels vage bekannt vor: Ein jungenhafter Gitarrist mit zerzausten roten Haaren und rotem Fünftagebart begleitete sich gekonnt zu Liedern über ein Haus aus Legosteinen, über die Geigerin einer irischen Folkband und über schlechte Angewohnheiten. Ihm war es, als habe er auch die Lieder schon einmal gehört.
Die Remsauen waren noch ein gutes Stück in Richtung Beinstein mit Lagerfeuern und feiernden Gruppen belegt, und fast überall wurde gesungen und gespielt. Die stilistische Bandbreite war beeindruckend, es wurde gejazzt, und ein Gitarrist mit langen Rastalocken glänzte mit einer unglaublichen Soloversion von Queens Bohemian Rhapsody . In der Nähe der Rundsporthalle loderte eine Feuerstelle auf dem Parkplatz, und vier Frauen in bunt getupften Kleidern sangen zur Melodie des Oldies Mr. Sandman in bestem Schwäbisch von einem Mann, der mit einer gewissen Sandra verabredet und für sein Date an die Falsche geraten war. Hier wurde mitgesungen, geklatscht und gelacht, und Robert blieb stehen und genoss eine Weile die gelöste Stimmung, bevor er am Fluss entlang gemächlich den Rückweg antrat.
Unter der Brücke der alten Bundesstraße lag der Fußweg in tiefem Schatten, und kaum hatte Robert die dunkelste Passage betreten, da stellten sich ihm zwei Typen in den Weg. Er machte die letzten Schritte auf sie zu, blieb direkt vor dem größeren der beiden stehen und fixierte ihn mit einem so abschätzigen Grinsen, dass der andere bald verstanden hatte, wie schlecht seine Chancen in einer Rauferei standen. Er trat zur Seite, der zweite folgte seinem Beispiel, und Robert ging weiter. Zwar lauschte er auf sich nähernde Schritte, für den Fall, dass die beiden Kerle womöglich blöd genug waren, ihn von hinten doch noch angreifen zu wollen. Aber sie ließen ihn in Ruhe, und so widerfuhr Robert nichts Unangenehmeres als der stechende Geruch, der aus der offenen Lederjacke des Möchtegernräubers geströmt war.
Er strich noch ein wenig durch die Altstadt und beäugte schließlich die Polizeiabsperrung an Gollmanns Juweliergeschäft, die um diese Zeit aber keine Schaulustigen mehr anlockte. Vor dem Fontana waren die meisten Tische besetzt, die Gäste schienen gut versorgt mit Speisen und Getränken, und als Robert den Wirt im Inneren des Lokals am Stammtisch Platz nehmen sah, beschloss er, ihm ein wenig Gesellschaft zu leisten. Lino saß mit einer seiner Bedienungen zusammen, die sich gerade einen Teller Spaghetti schmecken ließ. Er plauderte angeregt mit ihr, aber als er Robert herankommen sah, deutete er sofort auf einen freien Stuhl und gab dem jungen Mann hinter dem Tresen ein Zeichen. Kurz darauf stand ein gefülltes Glas vor Robert.
»Mein bester Primitivo«, sagte Lino mit ordentlich Pathos in der Stimme und prostete seinem Gast zu. »Geht natürlich aufs Haus, schon wegen Ihrer letzten Buchempfehlung.«
»Danke«, erwiderte Robert, nahm einen Schluck und zeigte sich angemessen begeistert. »Wissen Sie denn, wie es Ihrem Nachbarn, Herrn Gollmann, inzwischen geht?«
Lino wiegte den Kopf und machte ein betroffenes Gesicht.
»Schlimme Sache, das mit dem Überfall«, brummte er schließlich. »Kevin Schröder, seinen Verkäufer, hat es wohl ziemlich übel erwischt. Gollmann selbst geht es den Umständen entsprechend gut. Ich war gerade erst oben in seiner Wohnung und habe ihm was zu essen gebracht. Natürlich flattern ihm noch die Nerven, und er macht sich Sorgen um seinen Mitarbeiter, aber sonst scheint er es ganz gut überstanden zu haben.«
Die Bedienung drehte die letzten Spaghetti auf ihre Gabel, ließ das Knäuel im Mund verschwinden, trug den leeren Teller zur Küchendurchreiche und flitzte wieder hinaus zu den Gästen im Freien. Nun saßen sie nur noch zu zweit am Tisch, und der Nachbartisch war unbesetzt. Pasqualino »Lino« Fontana beugte sich ein wenig vor, und Robert konnte sich schon denken, was jetzt kam.
»Und, haben Sie schon etwas herausgefunden?«, raunte Lino.
»Herausgefunden?«, tat Robert ahnungslos. »Was soll ich denn herausgefunden haben?«
»Na, Sie …« Er warf schnelle Blicke in alle Richtungen, als habe er zu viele schlechte Agentenfilme gesehen. »Sie ermitteln doch sicher auch diesmal wieder, hab ich recht?«
Lino war ein netter Kerl, aber er war nicht gerade der verschwiegenste Zeitgenosse, und deshalb hob Robert erst das Glas an die Lippen, bevor er antwortete. Um Zeit zu gewinnen und, vor allem, um seinen Ärger darüber hinunterzuspülen, dass sogar der Wirt des Fontana über sein kriminalistisches Hobby Bescheid wusste.
»Richie hat mir das natürlich nur im Vertrauen erzählt«, plapperte Lino unterdessen weiter drauflos. »Und keine Sorge, Herr Mondrian, Ihr Geheimnis ist bei mir gut aufgehoben.«
Er tat, als würde er mit zwei Fingern seine Lippen verschließen, und warf den imaginären Schlüssel danach mit großer Geste hinter sich. Robert seufzte. Lino Fontana, Richie McCafferty, Alfons Weber und Elsa Heberle hatten mehr gemeinsam, als man ihnen ansah. Und mehr, als Robert recht sein konnte.
»Dann bin ich beruhigt«, schwindelte er. »Aber leider weiß ich über die Angelegenheit sogar deutlich weniger als Sie, Lino. Ich stand gerade vor meiner Buchhandlung, als Herr Gollmann auf den Marktplatz trat. Gleich danach habe ich gesehen, wie Sie zu ihm rannten und ihn stützten. Ich finde es übrigens prima, wie Sie Ihrem Nachbarn beigestanden haben.«
»Keine Ursache, Herr Mondrian. Gollmann ist ein guter Nachbar. Er hat keinen Humor, aber er weiß eine gute Pasta zu schätzen. Und wenn er seine Freundin Doreen zu Besuch hat …« Er zwinkerte und grinste anzüglich. »… holen sich die beiden meistens noch einen Wein im Ristorante.«
So viel zu Linos absoluter Verschwiegenheit.
»Schade, dass Ihr Vater nicht auf seinem Stammplatz saß«, sagte Robert. »Sein Stuhl steht ja gewissermaßen auf der Grenze zwischen dem Ristorante und dem Schmuckgeschäft. Der Trubel ist ihm wohl zu viel geworden?«
»Allerdings, und nun sitzt er auf einem Schemel in der Küche, wo er natürlich nicht rauchen darf. Und die schlechte Laune, die ihm das beschert, lässt er an meinem Koch aus, der sich heute schon viermal deswegen bei mir beschwert hat.«
Er rollte theatralisch mit den Augen und machte dazu eine Handbewegung, die seine Machtlosigkeit in dieser Sache unterstrich. Dann schien ihm etwas einzufallen.
»Aber als Gollmann überfallen wurde, saß er nicht in der Küche, sondern war oben in seiner Wohnung.«
Das klang nicht vielversprechend, fand Robert. In der Etage über dem Ristorante befanden sich einige Nebenzimmer des Fontana, im zweiten Stock wohnte Lino, und sein Vater lebte in den Räumen des Dachgeschosses. Was sollte er von dort aus schon mitbekommen haben?
»Dort oben steht er gern am offenen Fenster, weil er zwar gern Pfeife raucht, aber nicht will, dass seine Wohnung allzu stark danach riecht. Wissen Sie was, Herr Mondrian? Ich geh ihn kurz holen. Wir befragen ihn gemeinsam, in Ordnung?«
»Ich weiß nicht recht …«
»Bitte!«, rief Lino lachend und erhob sich. »Sie würden vor allem meinem Koch einen großen Gefallen tun!«
Er flitzte durch die Küchentür, kurz danach kam er mit seinem Vater zurück. Die beiden konnten gegensätzlicher kaum aussehen. Der Junior hochgewachsen und schlank, und daneben der Alte, der schon ein wenig gebeugt ging, seinem Filius kaum bis zur Schulter reichte, dafür aber durch seinen imposanten Kugelbauch die fehlende Größe zumindest mit Blick auf das Gewicht mehr als ausglich. Auch die Laune der beiden bildete einen starken Kontrast: Lino war stets freundlich, während sein alter Herr mürrisch dreinblickte, und wenn er mal ein Brummen hören ließ, das man als halbwegs zufrieden deuten konnte, war das in seinem Fall schon das höchste der positiven Gefühle.
»Papà , setz dich zu uns und erzähl Herrn Mondrian bitte, was du heute von dem furchtbaren Unglück nebenan mitbekommen hast.«
Pasquale nickte Robert zu, ließ sich auf den freien Stuhl sinken, auf dem vorhin sein Sohn gesessen hatte, und warf einen ungnädigen Blick erst auf das halb geleerte Glas vor sich und dann auf seinen Sohn. Lino verstand und beeilte sich, sein Glas an einen freien Platz zu versetzen und seinem Vater ein neues zu füllen. Der Alte hob das Glas, murmelte ein kaum verständliches salute und kippte den Primitivo auf einen Zug, als wäre es Wasser. Lino seufzte, erhob sich und holte eine Flasche an den Tisch, aus der sich sein Vater auch sofort nachschenkte. Immerhin ließ er sich nun die Zeit, Robert zuzuprosten, bevor er den nächsten Schluck nahm. Danach stellte er das Glas auf dem Tisch ab und musterte den Gast schweigend, bis sich schließlich seine dicken Lippen zu einem Grinsen kräuselten.
»Soso, il signore libraio , der Herr Buchhändler ermittelt wieder.«
Pasquale Fontana hatte eine raue, tiefe Stimme. Er ließ das »R« rollen und konnte noch immer kein »H« aussprechen. Und wenn er einen verschwörerischen Tonfall anschlug wie jetzt, hatte man sofort Filmszenen mit Marlon Brando und Al Pacino vor Augen. Deshalb musste Robert diesmal lächeln, obwohl er sich sonst über jeden ärgerte, der auf seine Schwäche für kriminalistische Recherchen anspielte.
»Wissen Sie, Signore libraio «, fuhr der Alte fort, »irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass Sie nicht immer Buchhändler waren.«
Unter dem scharfen Blick des Seniorchefs fühlte sich Robert schnell unbehaglich, und er war froh, als Fontana junior seinen Vater für seine Neugier tadelte und ihn an das eigentliche Thema erinnerte, den Raubüberfall von nebenan.
»Ist ja schon gut, Lino«, gab sich Pasquale versöhnlich, trank noch einen Schluck und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Viel habe ich ja nicht gesehen.«
»Das hatte ich mir schon gedacht«, entgegnete Robert und seufzte. »Ich wollte Sie auch nicht stören, drüben in der Küche, aber Ihr Sohn meinte …«
Pasquale schnitt ihm mit einer kurzen Handbewegung das Wort ab.
»Un momento, Signore! Ich habe nicht viel gesehen – aber nicht nichts .«
Robert blinzelte, und als er Lino fragend ansah, zuckte der nur mit den Schultern.
»Ich wohne ja direkt unter dem Dach«, fuhr Pasquale fort, als er wieder Roberts volle Aufmerksamkeit hatte. »Da habe ich einen guten Blick über den Marktplatz, und wenn ich – wie an diesem verrückten Wochenende zum Beispiel oder wenn es mal regnet – nicht draußen vor dem Ristorante sitzen kann, mag ich meinen Ausguck ganz gern. Dazu ein schönes Pfeifchen, das kann ich Ihnen nur empfehlen. Aber Sie rauchen ja nicht.«
Robert hob eine Augenbraue, und der Senior quittierte seinen Blick mit einem Grinsen.
»Ihre Küche und Ihr Wohnzimmer kann ich von meiner Wohnung aus ganz gut einsehen. Sie mögen Rotwein, und manchmal grübeln Sie bis spät in die Nacht über irgendwelchen Dokumenten.«
Zwischen dem Fontana und der Buchhandlung lag die volle Länge des Marktplatzes, das mochten gut vierzig Meter sein. Entsprechend erstaunt war Robert.
»Das sehen Sie auf diese Entfernung?«
»Ma certo , aber sicher. Meine Augen sind noch sehr gut. Und für größere Entfernungen habe ich mir ein kleines Fernglas gekauft. Das war ein Tipp von Frau Heberle.«
»Dass die sich damit auskennt, ist keine Überraschung«, erwiderte Robert und lachte.
»Es ist nur schade, dass Ihr Schlafzimmer nach hinten rausgeht«, raunte Pasquale Fontana und zwinkerte ihm zu. »Sie haben Geschmack, was Frauen angeht.«
»Also bitte, papà! «, empörte sich Lino, aber der Alte winkte nur ab.
»Wie auch immer: Als Gollmann überfallen wurde, stand ich oben am Fenster und konnte alles überblicken. Und weil ich glaubte, in der Ferne einen alten Freund erkannt zu haben, hatte ich das Fernglas zur Hand genommen. Wissen Sie, es gibt ja nichts Peinlicheres, als jemandem zu winken, den man mit jemand anderem verwechselt hat.«
Lino rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her, aber Robert wartete geduldig, ob Fontana senior etwas beobachtet hatte, was ihm helfen würde. Was der Polizei helfen würde, korrigierte er sich in Gedanken.
»Plötzlich hörte ich Rufe von unten, schwenkte das Fernglas auf den Eingang des Juweliergeschäfts, und dann sah ich die vier Gestalten auch schon herauskommen. Die hatten es ganz schön eilig, pflügten ziemlich rücksichtslos durch die Menge und waren nur Sekunden später durchs Gewimmel in Richtung Kurze Straße verschwunden.«
Robert nahm einen Schluck Primitivo, sagte jedoch nichts. Dem Alten blitzte der Schalk aus den Augen, er hatte offenbar noch mehr zu bieten. Und als er bemerkte, dass der Buchhändler ihn nach wie vor aufmerksam ansah, legte sich ein Grinsen auf sein Gesicht.
»Zu dem Zauberer kann ich nicht viel sagen, außer dass ihm mal der spitze Hut verrutschte, den er aber sofort wieder an seinen Platz rückte. Von der Hobbit-Verkleidung fielen mir vom Fenster aus natürlich zuerst die übergroßen Füße auf, die es ihrem Träger auch durchaus schwer machten, sich schnell fortzubewegen, ohne ins Stolpern zu geraten. Allerdings würde ich wetten, dass unter dieser Maskerade eine Frau steckte, die vermutlich noch keine fünfzig war.«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Die Perücke war ein ziemliches billiges Ding, zumindest hat sie auf mich so gewirkt. Sie war – wie der Hut des Zauberers – etwas verrutscht, und zwischen der Gesichtsmaske, die von einem Gummiband gehalten wurde, und der Perücke konnte ich die richtigen Haare unter der Perücke sehen. Sie waren gefärbt oder getönt.«
»Woher wollen Sie das wissen?«
»Der Haaransatz hatte eine andere Farbe, etwas heller. Nicht grau, sondern ein helleres Braun oder ein sehr dunkles Blond – deshalb glaube ich, dass sie jünger ist als fünfzig. Gefärbt waren die Haare in einem Kastanienbraun, das leicht ins Rötlichbraune geht. Meine Frau hatte ihre Haare jahrelang in dieser Farbe getönt. Und ich nehme mal an, dass eher Frauen als Männer Tönung benutzen. Auch der Gang schien mir auf eine Frau hinzudeuten, obwohl natürlich das Watscheln wegen der übergroßen Füße ihre Schritte nicht sehr elegant aussehen ließ.«
»Und die Orks?«
»Diese Missgeburten, die sie begleiteten? Sahen ziemlich dick aus, aber vermutlich sind sie in Wirklichkeit eher schlank: Von oben konnte ich es aus ihren Jacken, oder was immer das für Oberteile waren, blitzen sehen – dort haben sie vermutlich ihre Beute reingestopft.«
»Das wären dann ein Zauberer, über den Sie nichts sagen können, ein Hobbit, der möglicherweise eine Frau war, und zwei Orks, in deren vermeintlichen Bäuchen sich der geraubte Schmuck befand?«
»Genau. Und, hilft Ihnen das weiter?«
»Vielleicht«, sagte Robert, und als er bemerkte, dass Pasquale Fontana ihn grinsend musterte, fügte er schnell hinzu: »Das gebe ich so auf jeden Fall an die Polizei weiter. Mal sehen, ob diese Details ihr etwas nützen.«
Der Alte erhob sich, nahm sein Glas zur Hand und zwinkerte Robert zu.
»Ich muss dann auch wieder in die Küche«, sagte er. »Dem Koch ein wenig auf die Finger schauen.«
Der Wein, den er im Ristorante Fontana getrunken hatte, war gut gewesen. Doch was ihm Linos Vater erzählt hatte, hatte die Müdigkeit, die ihm der Primitivo normalerweise beschert hätte, gleich wieder weggewischt. Und so saß Robert am Küchentisch, nippte am Wasserglas und dachte nach. Natürlich würde er Neher alles mitteilen, was er an Details zu dem Überfall auf Gollmanns Schmuckgeschäft in Erfahrung brachte. Aber würde dem Kommissar die Beobachtung von Pasquale Fontana etwas nützen? Drei Männer und vielleicht eine Frau – wobei der Alte schon sehr genau hingesehen haben musste, wenn er wirklich zwischen Gesichtsmaske und verrutschter Perücke erkannt haben wollte, dass das Haar darunter getönt oder gefärbt gewesen war. Und dann auch noch ein so weit verbreiteter Farbton: »Gefärbt waren die Haare in einem Kastanienbraun, das leicht ins Rötlichbraune geht.« In seinem Buchladen und überall in der Stadt sah er ständig Frauen mit einer solchen Haarfarbe, auch Sonja Fischer schwor auf diesen Farbton. Und natürlich konnte auch ein Mann seine Haare tönen.
Robert trank noch einen Schluck Wasser, leerte den Rest ins Spülbecken und holte ein Bier aus dem Kühlschrank. Er ging ins dunkle Wohnzimmer hinüber und stellte sich ans Fenster. Auf dem Marktplatz war nicht mehr viel los, vor dem Café Journal sicherte eine Bedienung Tische und Stühle mit Ketten, und aus dem Ristorante Fontana schwankten zwei Paare, hakten sich unter und entfernten sich schwatzend und lachend. Robert ließ seinen Blick über die Fassaden der Häuser gleiten, über das Alte Rathaus und den Brunnen. Er fasste das Dachgeschoss des Ristorante genauer ins Auge. War dort oben, in der Wohnung des alten Fontana, ein Fenster geöffnet? Kräuselte sich Pfeifenrauch in den Nachthimmel? Es war ihm, als sei dort ganz kurz etwas aufgeblitzt, blankes Metall vielleicht, auf dem sich ein wenig Licht spiegelte.
Mit bloßem Auge konnte er es auf diese Entfernung nicht erkennen, also ging er in den Keller. Vom Zielfernrohr seines Gewehrs, das er dort sicher versteckt verwahrte, ließ er lieber die Finger – Linos neugierigen Vater, der ein Zielfernrohr durchs Fernglas vielleicht erkannte, musste er nun wirklich nicht mit der Nase darauf stoßen, dass er Waffen im Haus hatte. Auch das Nachtsichtgerät blieb im Keller, aber das kleine Fernglas sollte unverdächtig wirken. Als er wieder am Wohnzimmerfenster stand, nahm er durch das Fernglas erneut Pasquales Dachgeschosswohnung ins Visier. Erst war nichts zu sehen, dann machte Robert eine Bewegung aus. Der Alte trat einen Schritt nach vorn, aus dem Dunkel des Zimmers ans Fenster. Pasquale Fontana hatte sein Fernglas direkt auf Robert gerichtet. Er schien zu grinsen, dann hob er die freie Hand und winkte seinem Nachbarn über den Marktplatz zu.