Kapitel 7

Lowenna

Gegenwart
Cornwall

Bitte mach dir keine Sorgen, Mum. Mir geht’s gut. Der Fluss ist richtig idyllisch.«

Ich verziehe das Gesicht zu einer Grimasse und blicke zu Breakspear, der ungeduldig vor der Tür sitzt. Es ist ein perfekter Morgen für einen Spaziergang, sagt er. Los jetzt! Doch er wird warten müssen. Meine Mutter ist überzeugt, dass ihre jüngste Tochter einen Nervenzusammenbruch hat, und wird sich nicht so leicht abwimmeln lassen.

»Flüsse sind feucht. Ganz Cornwall ist feucht«, jammert sie. »Du kriegst bestimmt wieder Asthma, Lowenna.«

»Hier im Bootshaus ist es gar nicht feucht. Es gibt einen guten Holzofen, und es ist angenehm warm. Außerdem hatte ich meinen letzten Asthmaanfall mit fünf!«

Ich kann Mum zwar nicht sehen, weiß aber, dass sie sich im Spiegel betrachtet und sich selbst ein Gesicht schneidet.

»Du bist mitten im tiefsten Nirgendwo und hast nicht mal zuverlässigen Handyempfang. Was ist, wenn was passiert?«

»Wenn ich mit dem Handy an die richtige Stelle gehe, habe ich zuverlässigen Empfang. Deshalb habe ich auch gesehen, dass du anrufst.«

Ich habe entdeckt, dass ich nur über das Handy erreichbar bin, wenn ich das Telefon gegen das Fenster lehne, wo ich dann – hin und wieder, aber nicht immer – einen Balken bekomme. Ansonsten bin ich nicht erreichbar. Herrlich.

»Außerdem habe ich sogar Nachbarn«, füge ich hinzu. »Einer hilft mir später, mein Gepäck hierher zu schaffen. Darüber hinaus gibt es einen Biobauern. Seine Frau ist eine …«

Ich zögere. Wie nannte Julie Treena noch mal? »Hexe« war eine ihrer Bezeichnungen, aber wenn ich das meiner Mum erzähle, flippt sie aus und glaubt, ich würde von einer Sekte entführt.

»Eine Aromatherapeutin«, schließe ich. Puh, gerade noch mal gerettet.

»Tja, das ist ja schön«, räumt Mum widerstrebend ein. »Neulich hatte ich eine sehr angenehme Aromatherapiemassage im Kosmetiksalon. Vielleicht könntest du dir auch eine gönnen? So was ist gut gegen Stress.«

»Ja, vielleicht.« Nein, auf gar keinen Fall! Ich kann mir nichts Schlimmeres vorstellen, als mich von einer völlig fremden Frau mit Öl einreiben zu lassen.

»Und, was machst du heute?«, erkundigt sich Mum.

Ich lege meine Stirn an die kühle Glasscheibe. Ganz oben auf der Liste steht, dass ich in die Stadt fahre und eine gute Taschenlampe kaufe. Bei Nacht ist der Weg zum Bootshaus lang und dunkel, dagegen konnte der dünne Strahl meines Handys gestern Abend nichts ausrichten. Kaum hatte ich mich ein paar Schritte vom verblassenden Licht meines Autos entfernt, war es stockdunkel gewesen, zumal sich dicke Wolken vor den Mond geschoben hatten. Während ich unsicher über den unbekannten Weg stolperte, hatte ich den Eindruck, die Bäume auf beiden Seiten wären näher herangerückt, um zu sehen, wie ich auf das Rascheln im Unterholz reagieren würde. Vor mir sah ich nur gähnende, schwarze Leere. Als ich am Oyster House vorbeiging und eine Eule schrie, kostete mich das mehrere Jahre meines Lebens in einer Sekunde und mein Herz klopfte wie verrückt.

Ich machte Feuer im Holzofen, kochte mir einen heißen Kakao und rollte mich auf dem Sofa zusammen, weil ich keine Lust hatte, die steile Treppe ins Dachzimmer hinaufzusteigen. In der behaglichen Wärme des Holzfeuers zog ich mir, mit Breakspear an meinen Füßen, eine der Decken bis zum Kinn, schloss die Augen und wachte erst wieder auf, als die Sonnenstrahlen mein Gesicht streichelten und der Morgengruß der Möwen mich aus tiefem Schlaf weckte.

Der Tag fing hier früh an, und als ich sah, wie sich das Licht, das durch das Laub der Bäume drang, erst rosa färbte und dann golden, wusste ich, es würde ein prächtiger Sommertag werden. In der Sonne löste sich der Morgennebel über dem Fluss auf und verbesserte damit auch meine Laune. In der Wärme des noch glühenden Holzfeuers und meines gemütlichen Deckennests konnte ich auf einmal über mich selbst lachen, weil ich am Abend zuvor so ängstlich gewesen war. Heute war ein neuer Tag, und heute würde ich noch mal neu beginnen.

Es herrscht Flut, und der Fluss strömt träge an den Zweigen der Espen und Trauerweiden am gegenüberliegenden Ufer vorbei. Eine Silbermöwe wippt auf der glasigen Wasseroberfläche, und ein Bussard kreist am Himmel. Ich würde Breakspear rauslassen, mir einen Kaffee machen und ihn am Fenster trinken. Ich würde darüber nachdenken, ob der mysteriöse Gerald Snowe einst auch dort gestanden hatte. Hatte er die Aussicht in sein Buch einfließen lassen, das Selina Trewen als literarisches Meisterwerk bezeichnete? Davon bin ich überzeugt. Es ist unmöglich, hier zu leben und sich nicht vom Fluss inspirieren zu lassen.

»Lowenna? Bist du noch da? Hallo?«

Meine Aufmerksamkeit ist dem Fluss gefolgt. In Gedanken an die in Vergessenheit geratenen Bücher habe ich nicht mitbekommen, was meine Mutter gesagt hat.

»Tut mir leid. Ich habe den Fluss betrachtet.«

»Wenn du deine Aufmerksamkeit mal auf mich richten kannst, möchte ich wissen, was du heute so machst.«

»Ich möchte nach Penhayes fahren«, antworte ich.

Die Stadt ist groß genug, um einen Laden für Bootszubehör zu haben, in dem es auch leistungsstarke Taschenlampen gibt. Natürlich ist das nur ein Vorwand, denn eigentlich will ich Hamish Pendragon finden und stundenlang in seinem Laden nach gebrauchten Büchern stöbern, an vergilbten Seiten schnuppern und mit dem Fingern über rissige Einbände streichen. Gibt es etwas Magischeres als einen Buchladen?

»Penhayes hat sich wirklich sehr gemacht. Es gibt bestimmt schöne Geschäfte und wahrscheinlich auch einen Feinkostladen«, sagt Mum zustimmend.

Unwillkürlich denke ich an Trevellans leer stehende Häuser und Selina Trewens Traurigkeit darüber, dass die Schule schon vor langer Zeit geschlossen wurde.

»Sehr gut. Ich habe keine Oliven mehr und hätte Lust auf ein bisschen Bio-Hummus.«

Sie seufzt. »Willst du immer noch Granny Mays Kiste haben? Ich habe sie nämlich hier.«

»Super, Mum! Vielen Dank!«

»Danke nicht mir, sondern deinem armen Stiefvater, der auf dem Speicher stundenlang danach gesucht hat. Als er wieder herunterkam, war er staubig und voller Spinnweben. Ich habe keine Ahnung, was er da so lange gemacht hat!«

Vermutlich hat Eric seine kleine, wohl verdiente Auszeit zwischen Sperrmüll und Spinnen genossen.

»Sag ihm, ich gebe ihm einen aus«, erwidere ich. »Ach, Mum, ich freue mich ja so. Das ist einfach toll!«

»Freut mich, dass du dich freust. Meiner Meinung nach ist das nur Krimskrams. Ich weiß nicht, wieso ich die Kiste die ganze Zeit aufbewahrt habe. Wahrscheinlich nur, weil Mutter so ein Aufheben darum gemacht hat.«

»Sie hat immer gesagt, damit könnten wir unser Glück machen.«

Mum schnaubt. »Mir ist schon klar, von wem du deine Phantasie geerbt hast! In dieser Kiste befindet sich nur alter Kram. Ich bringe sie morgen zur Post. Wie lautet die Adresse von diesem Haus, in dem du jetzt wohnst?«

Ich zögere. Zwar will ich Granny Mays Schätze so schnell wie möglich haben, aber es wäre meiner Mutter durchaus zuzutrauen, dass sie David versehentlich meine Adresse verrät. Sie meint es ja gut, doch es wäre das Letzte, wenn er, bewaffnet mit Blumen und leeren Versprechungen, hierher käme.

»Ich weiß nicht, ob der Postbote sich so weit rauswagt. Vielleicht kann man es im Pub für mich annehmen?«

»Sei nicht albern, Lowenna! Du bist in Cornwall und nicht im Dschungel! Der Postbote wird genau wissen, wohin er es liefern muss. Also, wie lautet die Adresse?«

»Bootshaus, Oyster Shore, Trevellan«, sage ich und sehe schon vor mir, wie sie das an David simst.

»Ich schicke Eric direkt zur Post. Er muss auch noch was zum Abendessen einkaufen, die Donaldsons kommen zu uns. Habe ich dir schon erzählt, dass Amy mittlerweile ihr zweites Kind bekommen hat?«

Die Donaldsons sind Mums Nachbarn. Amy und ich sind zusammen aufgewachsen, doch außer einer Hauswand hatten wir nichts gemeinsam.

»Höchstens zwei-, dreimal«, erwidere ich, schneide Breakspear eine Grimasse und schweife in Gedanken ab, während Mum mir alles über Amys neues Auto und das Haus in Milton Keynes erzählt, das sie und ihr Mann kaufen wollen. Meinetwegen könnten sie genauso gut auf dem Mond leben.

Nach dem Anruf springe ich rasch unter die Dusche und ziehe mir dann Shorts, Tanktop und Wanderschuhe an. Es ist bereits warm, und die Wanderung hoch zur Straße wird eine sportliche Herausforderung werden. Noah fragt mit einer SMS an, wann wir mein Gepäck zum Bootshaus bringen sollen, worauf ich zurücksimse, dass es am Nachmittag gut passen würde. Dann trete ich ins Freie, schließe das Bootshaus ab und sehe Breakspear nach, der vor mir in den Wald schießt. Ich bin voller Optimismus, scheint sich doch alles perfekt zu fügen. Ich habe einen passenden Autor als Thema für mein Buch und den Kopf frei, um unbeeinträchtigt daran zu arbeiten. Es war Bestimmung, hierher zu ziehen.

Auf der Fahrt nach Trevellan singe ich laut die Songs aus dem Radio mit. An diesem Tag setze ich mühelos für andere Autos zurück, der Beweis, dass ich praktisch schon eine Einheimische bin. Mein Selbstvertrauen erreicht ungeahnte Höhen. Ich fahre an kleinen Weilern vorbei, an Briefkästen, die auf bröckelnden Mauern stehen und an zugewucherten Toren. Das Ganze ist so pittoresk, dass ich immer wieder anhalte, um Schnappschüsse zu machen (was Einheimische allerdings nicht tun würden). Auf der ratternden Kettenfähre schalte ich den Motor aus, kurble das Fenster herunter und lasse die salzige Brise ins Auto und meine Lungen dringen. Allein diese kurze Fahrt auf dem Wasser ist reinste Glückseligkeit. Das Sonnenlicht tanzt auf der Oberfläche, und ich sehe kleine Ausflugsboote auf dem Fluss und in den Buchten. Kinder klettern auf Pontons, starren konzentriert auf ihre Angelleinen, und Tagesausflügler lehnen an Geländern, um Pommes zu essen oder für Fotos zu posieren, die später Facebook fluten oder auf Kommoden Staub ansetzen werden.

Penhayes ist ein malerischer Ort am Fluss mit vielen schmalen Gassen, die für die allgegenwärtigen Aussichten auf das leuchtend blaue Wasser den perfekten Rahmen bilden. In manchen sieht man Hummerkörbe und tangbewachsene Netze, während andere verwitterte Ruder zeigen, die an mit Blumenpracht strotzenden Pflanzenkübeln lehnen. Es gibt Gassen mit makellosen Häusern, die salbeifarbene Blendläden haben und romantischen Namen wie Sea Thrift oder Tide’s Edge tragen. Im Gegensatz zum verschlafenen Trevellan herrscht überall emsiges Treiben, und genau wie meine Mutter vorhergesagt hat, gibt es Läden, die man durchaus auch in Chelsea sehen könnte.

Die Ferienatmosphäre dieses betriebsamen Orts ist ansteckend, und nachdem ich eine Taschenlampe gekauft und in mehrere Souvenirgeschäfte gespäht habe, teilen Breakspear und ich uns auf einer Treppe, deren feuchte Stufen hinunter zum Wasser führen, eine Pastete. Der Geruch von Salz, Pastete und Pommes katapultiert mich zurück in meine Kindheit, wo ich glücklich meine Ferien genoss und weder Liebeskummer noch Enttäuschungen kannte. Wenn wir doch nur so bleiben und wie ein Foto die Zeit konservieren könnten, um diese perfekten Augenblicke für immer zu erhalten. Vielleicht hat Gerald Snowe genau das mit seinem Buch versucht? Ich hoffe, das finde ich bald heraus.

»So, dann suchen wir mal diesen Buchladen«, sage ich zu Breakspear und fege die letzten Krümel von meinen nackten Beinen.

Aber Pendragon Books erweist sich als schwer auffindbar. Eine Weile laufe ich orientierungslos die Straßen am Ufer hinauf und wieder hinunter, bevor ich schließlich zum Imbiss zurückgehe, wo meine Frage nur Erstaunen hervorruft.

»Wollen Sie keinen richtigen Buchladen? Versuchen Sie es in der Fore Street. Nach links und dann die erste rechts.«

»Einen richtigen Buchladen?«

»Mit modernen Büchern. Neuen Büchern.«

»Nein, ich suche nach einem ganz bestimmten alten Buch«, erkläre ich. »Mir wurde gesagt, bei Pendragon gäbe es antiquarische Bücher.«

Die Verkäuferin lässt zustimmend ihr Häubchen wippen. »Gut, wenn Sie gebrauchte Bücher wollen, dann ist Hamish der Richtige. Sein Laden befindet sich in der Crumpled Lane. Die Fore Street hinunter und dann die dritte Gasse. Es ist immer geöffnet, also gehen Sie einfach rein, Hamish hat nichts dagegen.«

Ich danke ihr, doch trotz ihrer Anweisungen brauche ich eine Weile, um Pendragon Books zu finden, denn die Crumpled Lane – Zerknautschte Gasse – ist so versteckt und verwinkelt, wie der Name es vermuten lässt. Schließlich finde ich sie und entdecke dann einen winzigen Laden. Im Schaufenster stapeln sich Bücher zu Türmen und drängen sich gegen die Scheiben, als wollten sie ausbrechen. Eine schwarze Katze sonnt sich auf dem höchsten Turm und starrt mit grünen Augen auf die Straße. Breakspear zerrt bellend an seiner Leine, doch als sich die Katze keinen Zentimeter rührt, erkenne ich, dass das arme Ding ausgestopft ist und kunstvoll neben eine Auswahl von T. S. Eliots Gedichten platziert wurde.

Pendragon’s Bücherreich steht in goldener Schnörkelschrift über der schmalen roten Tür, die von einem schiefen Bücherstapel offen gehalten wird. Während ich versuche, Breakspear dazu zu bringen, Platz zu machen, entdecke ich einen Weltatlas aus den fünfziger Jahren, eine zerlesene Ausgabe von Katie Prices letztem Buch und Beowulf. Komisches Sammelsurium, denke ich, nehme mir den Beowulf und blättere darin. Jemand hat Bemerkungen ordentlich mit Bleistift an den Rand geschrieben. Ich frage mich, wer das wohl war und wieso sein Buch in einem winzigen Antiquariat in einem kornischen Fischerort gelandet ist. So viele Geschichten …

»Das ist im ursprünglichen Altenglisch. Wenn Sie eine Übersetzung wollen, kann ich Ihnen die von Heaney sehr empfehlen. Sie ist superb.«

Die Stimme dringt aus dem dämmrigen Laden zu mir. Meinem ersten Eindruck nach handelt es sich um einen Riesen mit langer Silbermähne und leuchtend haselnussbraunen Augen, der sich geduckt durch den Rahmen einer Hobbittür schiebt. Bei näherer Betrachtung ist er kein richtiger Riese, sondern ein hochgewachsener Mann mit einem Oberteil in Regenbogenfarben und einer braunen Cordhose, die schon etwas fadenscheinig ist. Ein sehr großer Mann mit breiten Schultern, nackten Füßen und genauso vielen Runzeln im Gesicht wie der Ledereinband des Buches, das ich in Händen halte. Als er lächelt, verzehnfachen sie sich, und seine Augen strahlen so lebenslustig, dass auch ich lächeln muss.

»Ich bin Hamish Pendragon«, sagt er. »Willkommen, junge Beowulf-Leserin.«

»Ach, so jung bin ich doch gar nicht. Und ich weiß nicht, ob ich das wirklich lesen könnte. Allerdings habe ich es vor Jahren studiert«, gestehe ich, lege das Buch zurück und richte mich auf.

Hamish blinzelt verschmitzt zu mir herunter. »Sie würden staunen, was Herz und Seele in Erinnerung behalten. Nehmen Sie es mit, meine Liebe, und willkommen. Willkommen in Pendragons Bücherreich

Er weist mit der Hand in den dämmrigen Laden.

»Ich würde ja gerne eintreten, aber ich habe meinen Hund dabei.«

»Mag der keine Bücher?«

Was soll ich darauf antworten? Hamish Pendragon klingt, als hätte er die Frage ernst gemeint. Mag mein Hund Bücher? Keine Ahnung.

»Hundekuchen mag er lieber.«

Hamish geht in die Hocke und streichelt Breakspear.

»Für unsere anspruchsvollen tierischen Leser haben wir auch ein Angebot. Meiner Erfahrung nach lieben Tiere Bücher. Man muss nur herausfinden, was sie bevorzugen. Mein alter Windhund Sally war ein großer Fan von Tolstoi. Ich persönlich kann nichts mit ihm anfangen, aber sie hatte keine Probleme mit den vielen Namen. Diese Katze hier, Gott sei ihrer Seele gnädig, liebte metaphysische Lyrik. Aus dir machen wir auch noch einen Leser, oder, mein Junge?«

Breakspear bellt.

»Das ist doch ein Ja!«, lacht Hamish. »Also, herein mit euch!«

Breakspear und ich wagen uns ins Innere des Ladens. Ich blinzle ein paarmal, um mich an das Dämmerlicht zu gewöhnen. Die Ruhe ist nach der geschäftigen Hauptstraße mit den vielen Touristen der reinste Segen. Entzückt schaue ich mich um, denn der winzige Laden ist eine Schatzkiste, genau wie Selina Trewen versprochen hatte. Alles nur Denkbare wurde hier hineingezwängt. Es gibt von Hand gebundene Bücher, Bibeln mit verblichenen Einbänden und handgeschriebenen Familienstammbäumen, alte Taschenbücher mit vergilbten Seiten und Manuskripte mit Fadenheftung. Schauerromane stehen neben Haushaltsratgebern, Schmonzetten neben Cicero und Plinius. Es ist keinerlei Ordnung oder Logik zu erkennen, doch das trägt nur zum Zauber dieses Ortes bei. Ich spüre ein Ziehen in meinem Herzen, so, als würde ich mich verlieben.

»Unglaublich«, hauche ich, »sind Sie Buchhändler?«

»Buchsammler«, korrigiert mich Hamish. »Ich liebe die Alchemie der Worte und die Macht der Sprache. Ich bin weit herumgekommen und ich bin ein Fan von Flohmärkten und Büchertrödeln. Dies hier …« Mit großer Geste weist er durch den Laden und verfehlt dabei nur knapp ein Regal mit Penguin-Klassikern aus den sechziger Jahren, »… ist mein Lebenswerk. Es ist meine Berufung, und ich stehe Ihnen zu Diensten.«

Mit diesen Worten verneigt sich Hamish, was mich eigentlich zum Schmunzeln bringen soll, mich stattdessen jedoch an edle Ritter der Tafelrunde, an Quests und Galanterie erinnert. Mit seinem langen, silbrigen Bart und seinem königlichen Gebaren passt Hamish wirklich zu seinem Namen, ob er nun echt oder angenommen ist. Vielleicht wird er meine Suche beenden? Wenn einer etwas über Gerald Snowe weiß, dann doch wohl dieser Mann.

»Ich bin Lowenna Scott«, sage ich und strecke ihm meine Hand hin.

»Lowenna. Ein schöner kornischer Name«, bemerkt Hamish, als er sie ergreift.

»Die Familie meiner Mutter stammt aus Cornwall.«

»Sie haben auch etwas Keltisches an sich«, nickt er. »Ihre Haut hat einen leicht dunklen Teint, und Sie sind schmal wie die Einwohner Cornwalls. Und Ihre Augen haben eine wundervolle Farbe, nicht blau, sondern fast violett wie der Himmel in einem Sommergewitter.«

»Danke«, sage ich verwirrt und geschmeichelt von diesem romantischen Vergleich. Unter seinem forschenden Blick erröte ich leicht und konzentriere mich auf mein Anliegen. »Ich suche ein Buch, bei dem Sie mir vielleicht helfen können. Es stammt von einem hiesigen Autor namens Gerald Snowe, der, so glaube ich, Anfang des letzten Jahrhunderts lebte und seinen einzigen Roman hier ansiedelte. Selina Trewen aus Trevellan dachte, Sie wüssten vielleicht mehr darüber.«

»Am Austernufer«, sagt Hamish so leise, dass ich selbst in diesem stillen Laden die Ohren spitzen muss, um ihn zu verstehen. Sogar die Staubkörnchen in einem Sonnenstrahl verharren in einer Pirouette, als wollten sie unbedingt hören, was als Nächstes kommt.

»Das muss es sein! Ich wohne im Bootshaus auf dem Anwesen und hörte, dass dort vor vielen Jahren ein Autor lebte.« Aufgeregt überfliege ich die vollgestopften Regale und erwarte fast, dass das Buch aus dem Regal springt und mir wie bei Harry Potter entgegenfliegt. »Haben Sie ein Exemplar?«

»Ich fürchte, nein. Dieses Buch wird seit über hundert Jahren nicht mehr gedruckt. Ich glaube nicht mal, dass überhaupt noch ein Exemplar existiert, und wenn doch, dann wäre es wirklich ein sehr seltenes Buch. Ein Buch, von dem alle Sammler träumen.«

»Also wäre es wertvoll?«

»Sehr.«

Ich bin verwirrt. »Aber von Gerald Snowe habe ich noch nie etwas gehört!«

Hamish legt seine Finger unter dem Kinn zusammen. »Zeugt weltlicher Ruhm vom Wert eines Werks?«

Die Antwort darauf ist, zumindest in der Verlagsbranche, ein klares Ja, weil Ruhm sich verkauft. Bücher von Promis – Biographien, Kochbücher, Reiseführer und von Ghostwritern verfasste Romane – sorgen für hohe Auflagen und garantieren große Vorschüsse für die Autoren. Ich werfe einen Blick auf das Buch von Katie Price, das zum neonrosa Türstopper umfunktioniert wurde, und denke, dass man den literarischen Wert ihrer Bücher zwar anzweifeln kann, nicht aber, dass sie sich unglaublich gut verkaufen.

Ich versuche es noch einmal. »Wenn es eine Erstausgabe von Rebecca wäre, könnte ich es ja verstehen, aber von Gerald Snowe habe ich gestern Abend zum ersten Mal gehört. Kein Mensch kennt ihn.«

»Ah, Sie meinen, wenn sein Buch so gut war, könnte man erwarten, dass Sie irgendwann schon mal auf seinen Namen gestoßen sein müssten?«

»Genau«, seufze ich, erleichtert, dass er mich jetzt versteht. »Irgendwas von ihm müsste mir zu Ohren gekommen sein. War es denn wirklich ein gutes Buch? Und auch erfolgreich?«

»Ich habe absolut keine Ahnung. Die erste und einzige Auflage war ziemlich klein. Es mag Rezensionen gegeben haben, aber ich habe nie eine gesehen. Ich glaube, es hatte einen sehr lyrischen Stil und wurde ganz gut aufgenommen, doch es wurde in den letzten Tagen des Ersten Weltkriegs veröffentlicht und ist bereits seit mehreren Jahrzehnten verschwunden.«

»Wenn der Autor unbekannt ist, wieso wäre eine Ausgabe seines Buchs dann so wertvoll?«

Ich denke an die Summen, die eine Erstausgabe von Harry Potter oder eine frühe Folioausgabe von Shakespeare erzielen würde. Und die wären gerechtfertigt. Jeder, der nicht auf dem Mond lebt, hat von diesen Autoren gehört. Aber Gerald Snowe ist weder berühmt noch erfolgreich. Hamish denkt über meine Frage nach.

»Der Handel mit antiquarischen Büchern ist eine Welt voller reicher Sammler, die sich für das Seltene und Einzigartige interessieren und mit Freuden einiges für dieses Buch bezahlen würden«, sagt er schließlich. »Vielleicht sind sie nicht mal Leser, sondern wollen nur etwas besitzen, was kein anderer hat oder erwerben kann. Sie erfreuen sich eher am Besitz als an dem literarischen Wert. Es ist das Gleiche wie bei Kunstliebhabern, die unbedingt die Mona Lisa oder Guernica haben wollen. Am Austernufer ist wertvoll, weil es so selten ist. Weil man damit der Besitzer eines einzigartigen Werks in der Literaturgeschichte wäre.«

»Aber warum gibt es denn nur so wenige Exemplare? Das Verlagshaus könnte es doch einfach nachdrucken lassen«, wende ich ein. In meiner Welt sind ständig Bücher vergriffen, aber solange der Verlag die Rechte behält, kann er sie jederzeit nachdrucken. Im digitalen Zeitalter erfordert das lediglich einen Mausklick – aber Gerald Snowe wurde nicht nachgedruckt. Eine Google-Suche hat nichts ergeben, und selbst der mächtigste Onlinehändler der Welt konnte absolut nichts finden. Mein Wunsch nach einem vergessenen Autor wurde voll und ganz erfüllt.

»Im Laufe der Jahre kamen immer wieder Gerüchte und Hinweise auf, dass es noch Exemplare gebe, aber es ist eben nie eins aufgetaucht.« Hamish bietet Breakspear einen Hundekeks an und nimmt sich selbstvergessen auch einen. »Glauben Sie nicht, ich hätte nicht auch danach gesucht? Ich war überzeugt, dass hier irgendjemand in der Gegend noch ein vergessenes Exemplar auf dem Speicher oder in einem alten Schrank hat. In ganz Cornwall habe ich Trödelmärkte und Haushaltsauflösungen besucht, hatte aber kein Glück. Offenbar sorgte Gerald Snowe dafür, dass so viele Exemplare wie möglich zerstört wurden, und die, die übersehen wurden, sind mittlerweile längst zerfallen.« Traurig sacken seine Mundwinkel nach unten. »Eine ganze Welt ging verloren, und die Worte, die sie heraufbeschworen, sind zu Staub zerfallen. Wahrlich, es bricht mir das Herz.«

Das ist eine bessere Geschichte, als ich mir je hätte erhoffen können. Alle vagen Ideen über eine Biographie sind plötzlich wie weggewischt von der Aussicht auf ein literarisches Rätsel. Mir wird fast schwindelig vor lauter Aufregung über die zahlreichen sich bietenden Möglichkeiten. So viele Details an dieser Geschichte werden die Leser fesseln, das weiß ich: das wunderschöne Cornwall als Handlungsort, die vergangene Pracht des Edwardianischen Zeitalters wie in Downton Abbey, Schrecken und Elend des Ersten Weltkriegs, Klassenkämpfe, der Niedergang eines Orts, Legenden von Flüchen und der unerklärliche Hass eines jungen Mannes auf sein einziges, großartiges Werk.

»Wieso wollte Snowe sein Buch vernichten? Normalerweise sehnen sich Autoren doch nach Unsterblichkeit?«

Ich muss daran denken, wie ich in Rosecraddick Manor durch die stillen, staubigen Räume mit den Glasvitrinen und roten Mohnblumen schlenderte und Kit Rivers Gesicht sah, das unter seiner Feldmütze beklommen durch die Zeit hindurch zu uns blickte. Kits Gedichte halten ihn lebendig, auch wenn alle, die sich persönlich an ihn erinnern konnten, längst nicht mehr leben. Aber Gerald Snowe, von gleicher Herkunft und gleichem Alter, sorgte dafür, dass seine Geschichte ausgelöscht wurde. Ratlos spreche ich aus, was mir durch den Kopf geht.

»Hatte er vielleicht ein Kriegstrauma?«

Hamish lässt sich auf einen durchgesessenen Ledersessel sinken und weist auf den zweiten gegenüber.

»Das wäre eine logische Erklärung, doch gibt es keinerlei Aufzeichnungen, dass Gerald Snowe eingezogen wurde. Wir können davon ausgehen, dass er nicht gedient hat, was für einen jungen Mann seiner Herkunft höchst ungewöhnlich war. Offenbar hatte das medizinische Gründe, doch mehr weiß ich nicht. Durch die Bomben im Zweiten Weltkrieg wurden viele Archive mit ihren Aufzeichnungen zerstört.«

»Gibt es Fotos von ihm? Oder von der Zeit, als er und seine Familie auf Vyvyan Court wohnten?«, frage ich und muss wieder an das Museum von Rosecraddick Manor denken. An Fotos von ernsten jungen Männern mit Kricketkleidung und steifen Strohhüten. Jungen mit zart sprießenden Schnurrbärten, die steif in ihren neuen Uniformen posieren. Eine verloren gegangene Welt mit Teekränzchen auf grünem Rasen, Jagdgesellschaften in Landhäusern, Mädchen mit straffen Korsetts, weißen Kleidern und Blumen im Haar. Nicht länger Menschen aus Fleisch und Blut, sondern nur noch Relikte aus einer Zeit, die es allenfalls noch in Geschichtsbüchern oder historischen Dramen gibt.

»Kann sein, aber ich habe noch nie eines gesehen«, erwidert Hamish. »Vermutlich hat die Familie all ihre persönlichen Besitztümer mitgenommen, als sie Vyvyan Court verließ. Zugegeben, es ist seltsam, und ich denke oft, Gerald hat bewusst jede Spur von sich selbst ausgelöscht. Manchmal müssen Menschen das tun, nicht wahr? Sie brauchen einen Neubeginn. Wollen die Vergangenheit hinter sich lassen.«

Er sieht mich forschend an. Zwar bin ich sicher, dass Hamish von sich selbst spricht, doch scheint er mit seinem Blick bis in die Tiefe meiner Seele zu dringen, als wüsste er, dass auch ich die letzten Jahre auslöschen würde, wenn ich es nur könnte. Mit einem Mal erfüllt mich Mitgefühl für Gerald Snowe. Nicht jeder will an seiner Vergangenheit festhalten, und schon gar nicht, wenn er nicht stolz darauf ist. Aber auf seinen Erfolg konnte Gerald doch stolz sein. Ein Schauer durchläuft mich, denn mein Instinkt sagt mir, dass hier der Schlüssel zum Geheimnis liegt. Aus irgendeinem Grund hat Gerald Snowe sein Buch gehasst.

»Aber seinem Werk verdankte er alles. Geld. Literarischen Erfolg. Talent. Wieso hatte er sich davon distanzieren wollen?«

Hamish zuckt mit seinen breiten Schultern. »Wieso tun wir, was wir tun? Wieso nimmt ein Bankmanager aus Coventry den Namen ›Hamish‹ an, flüchtet nach Cornwall und wird Barde?«

Ich streichle Breakspears seidigen Kopf. Jetzt könnte ich mit meiner eigenen Geschichte kommen, und ich habe das Gefühl, Hamish gibt mir die Gelegenheit dazu, doch mein neues Leben ist wie frisch gefallener Schnee, auf dem weder David noch ein anderer herumtrampeln soll.

»Genau wie sein Buch ist auch von Gerald Snowe jede Spur verloren gegangen«, fährt Hamish fort. »Bekannt ist nur, dass seine reichen Eltern Vyvyan Court Anfang des 20. Jahrhunderts gemietet haben und Gerald einen Großteil seiner Kindheit da und vermutlich auch in Oyster Shore verbracht hat. Dort konnte man sich mit Bootspartien und anderen, nicht ganz so unschuldigen Aktivitäten vergnügen.«

»Ja, der Prince of Wales war oft mit seinen Geliebten dort«, nicke ich. »Das ist allgemein bekannt.«

Hamish lacht. »Ja, alle lieben Skandale. Aber das war lange vor Geralds Zeit und auch lange, bevor alle Welt Zentralheizung und die Annehmlichkeiten der modernen Zeit verlangte. Ich glaube, Oyster House wurde immer ein bisschen vernachlässigt, sogar schon zu Geralds Zeiten. Die Trelyons nutzten es als Wohnsitz für arme Verwandte, und ich meine, die letzte Bewohnerin war Lady Constance Trelyon. Die arme Frau wäre die Herrin des gesamten Anwesens gewesen, wenn ihr Mann sich nicht bei der Jagd den Hals gebrochen und sie statt ihrer Tochter einen Sohn geboren hätte. Können Sie sich das vorstellen? Dass alles wegen einer Laune des Schicksals und wegen fehlender Y‑Chromosomen verloren ging?«

Eine Tochter. Ein adliges kleines Mädchen, das in Oyster Shore eine freie Kindheit genießen konnte. Prinzessin Clementine, mit zwei Jungen an ihrer Seite. War sie Lady Constances Kind? Die Letzte der Trelyons? Und kannte meine Prinzessin Clementine Gerald Snowe? Ich bekomme eine Gänsehaut, so vertraut fühlt sich die Vorstellung an.

»Das war kein Schicksal, sondern Sexismus«, entgegne ich, als Hamish mich fragend ansieht.

»Ach, das waren andere Zeiten, meine Liebe, obwohl Lady Constance sicher sehr damit gehadert hat. Die menschliche Natur ändert sich nicht. Deshalb ist Gerald Snowe auch so ungewöhnlich. Die meisten Schriftsteller gieren nach Erfolg.«

»Allerdings – ich habe jahrelang in der Verlagsbranche gearbeitet. Die meisten Schriftsteller gieren tatsächlich nach Ruhm und Erfolg, ganz gleich, was sie behaupten.«

»Aber Gerald Snowe nicht. Er bemühte sich aktiv darum, vergessen zu werden, dabei wäre er anderenfalls sehr erfolgreich und wohlhabend geworden.«

»Was steckt denn Ihrer Meinung nach dahinter?«

Hamish seufzt. »Ganz ehrlich? Ich habe keine Ahnung, höchstens eine Theorie. Heutzutage würden wir sagen, er hatte einen Nervenzusammenbruch, aber damals kümmerte man sich kaum um die geistige Gesundheit. Man sehe sich nur an, wie man Soldaten mit Kriegstraumata behandelte. Man muss lediglich Rivers oder Owen lesen, um zu erfahren, dass es kaum Mitleid für die gab, die nicht mit ihren Erlebnissen zurechtkamen. Es hat den Anschein, als wäre der Erfolg für Gerald Snowe einfach zu viel gewesen. Er erwarb die Rechte an seinem Buch zurück und zog alle Exemplare vom Markt. Es heißt, dass er so viele wie möglich kaufte, um sie zu vernichten. Aus irgendeinem, nur ihm bekannten Grund war er entschlossen, alles zu tun, damit es schien, als hätte sein Werk nie existiert.«

»Aber das ergibt doch keinen Sinn!«, rufe ich aus. Wenn sich einer von Davids Autoren so benähme, was würde er tun? Wahrscheinlich ausflippen und den Autor verklagen.

»Stimmt, und deshalb können wir nur annehmen, dass Gerald Snowe psychische Probleme hatte. Jedenfalls gingen die restlichen Exemplare verloren, und letzten Endes geriet sein kurzer Ausflug in die literarische Welt vollkommen in Vergessenheit. Vielleicht meinte er, er verdiente keinen Erfolg, weil ein Großteil seiner Generation gestorben war.«

»Überlebensschuld?«

»So etwas in der Art, obwohl das natürlich eine reine Vermutung ist. Jedenfalls gibt es kaum mehr zu erzählen. Gerald heiratete nie und hatte auch keine Familie. Wie man hört, wurde er sehr religiös. Er starb in einem Kloster. Heutzutage können nur noch obsessive Buchsammler seinen Namen einordnen.«

Welch traurige und seltsame Geschichte! Wäre es nicht unglaublich, wenn ich dazu beitragen könnte, dass sie bekannt und Geralds Stimme wieder gehört würde?

»Sie finden es auch traurig, oder nicht?«, bemerkt Hamish. »Wenn Autoren in Vergessenheit geraten und ihre Worte nicht mehr gelesen werden? Wenn ihre einzige Möglichkeit auf Unsterblichkeit verwirkt ist? Sie selbst mögen zu Staub zerfallen, aber ihre Worte leben weiter, und jedes Mal, wenn wir sie lesen, ist es eine Auferstehung, und wir hören ihre Stimme wieder, können Anteil nehmen an ihren Eigenheiten, ihren Ängsten und Leidenschaften. An ihrer Liebe und ihrem Hass. Solange es schriftliche Aufzeichnungen gibt, ist nichts je verloren. Nichts ist vergeblich. Ich glaube, deshalb liebe ich Bücher so sehr.«

So geht es mir auch. Als ich noch als Lektorin arbeitete, war mir immer bewusst, dass ich es mit der Stimme eines Menschen zu tun hatte, an die ich mich so genau wie möglich zu halten hatte. Trotzdem stimmt irgendetwas nicht an dieser Geschichte. Denn das Schreiben eines Buchs ist eine große persönliche Reise. Auf jeder Seite legt man sein Herz und seine Seele bloß. Selbst Fiktion ist ein Akt der Selbstenthüllung, und alle Schriftsteller wollen, dass ihre Stimmen gehört werden. Was sie am meisten fürchten, ist die Stille. Also ist es ein wahrhaft unnatürlicher Akt, willentlich sein Werk zu vernichten, an dem man so lange gesessen hat, das man dann einem Lektor dargebracht hat wie ein rituelles Opfer, das man in die Welt entlassen hat. Es ergibt einfach keinen Sinn.

»Es muss einen konkreten Grund gegeben haben«, sage ich langsam, »der ihn dazu getrieben hat, das Buch zurückzuziehen.«

»Zweifellos. Wenn es kein Zusammenbruch war, dann wahrscheinlich eine Frau. Meiner Erfahrung nach sind Liebe und ihre Zwillingsschwester Eifersucht für viele unsinnige Verhaltensweisen verantwortlich.«

Zum Beispiel dafür, dass man alles zurücklässt, was einem vertraut ist, um in einem Bootshaus mitten im Nirgendwo zu leben? Ja, ein gebrochenes Herz treibt einen zu allen möglichen Verrücktheiten.

»Aber Sie sagten doch, Gerald hätte nie geheiratet!«

»In der Tat – doch ich habe nicht gesagt, es hätte nie eine Frau gegeben. Ich meine, eine Geschichte über eine verlorene Verlobte gehört zu haben, die sehr romantisch war, aber auch reine Erfindung gewesen sein kann. Ich wüsste nicht, dass sie irgendwo dokumentiert ist. War da nicht auch was über einen Uferabschnitt, der verflucht ist? Auch das ist eine Lokallegende, und sie wurde wahrscheinlich aus persönlichen Interessen verbreitet.«

»Oder dachte Gerald vielleicht, das Buch selbst wäre verflucht? Das könnte erklären, wieso er die Exemplare vernichtete.« Aufregung überkommt mich. Ein verfluchtes Buch wäre ein großartiger Aufhänger für eine Werbekampagne.

»Ja, er hat tatsächlich ein Buch geschrieben, das Unglück brachte – ihm nämlich«, bemerkt Hamish.

»Davey Tuckey, das ist ein Fischer, behauptet, in Oyster Shore spukt es.« Bei Tageslicht und in Gesellschaft rede ich gerne darüber, doch wenn es dunkel wird und ich allein mit meinem Hund durch den Wald laufen muss, bin ich längst nicht so mutig.

»Habe ich auch gehört«, bestätigt er nickend.

»Und zwar von mir, Hamish Pendragon! Wag es ja nicht, Davey als Quelle anzugeben! Ich bin die Einzige, die den Geist von Oyster Shore wirklich gesehen hat.« Eine große Frau mit leuchtend rosaroten Haaren platzt in den Laden, wobei sie den Kopf in der Tür einziehen muss. Ein Nasenstecker glitzert im Sonnenlicht, das sie wie eine Aura umgibt.

Hamish springt auf und umarmt sie hoch erfreut. »Treena! Das nenne ich mal Timing! Du kannst Lowenna viel besser davon erzählen als ich.«

Treena? Ist das die Strandgutsammlerin, Biobäuerin und Teilzeithexe? Aber wen habe ich dann gestern am Fluss gesehen? Wer war das stille Mädchen mit den roten Haaren? Als ich mich erinnere, wie Breakspear knurrend zurückgewichen ist, überläuft es mich wieder eiskalt.

Habe ich den Geist von Oyster Shore gesehen?

Treena lässt sich auf einen Stapel Kissen fallen und streift sich die grellgrünen Crocs ab. Zum Vorschein kommen abblätternder roter Nagellack auf ihren Zehen und ein sternförmiges Tattoo auf ihrem linken Fuß.

»Ich werde Ihnen vom Geist von Oyster Shore erzählen«, sagt sie zu mir. »Ich habe ihn persönlich gesehen. Also, was genau wollen Sie wissen?«