Sie haben eine Verbindung zur Literaturgeschichte. Matts Worte verfolgen mich bis nach Hause, begleiten mich wie Irrlichter durch die dunkler werdenden kornischen Landstraßen und dann auf dem Weg zum Bootshaus. Als die Schatten länger werden und der Himmel sich violett färbt, gehe ich immer schneller. Bei Tageslicht lässt sich leicht über Flüche und Spukgeschichten lachen, doch je dunkler es wird, desto schwerer hat es die Vernunft im Kampf gegen die Angst. Das alte Haus liegt schon hinter mir, und doch werfe ich einen Blick zurück, um zu sehen, ob da ein Mädchen in Weiß oder ein kleiner Junge im Matrosenanzug hinter seinen Freunden herläuft.
Als ich geistesabwesend das Bootshaus betrete, begrüßt mich Breakspear mit überschäumender Freude. Ich fülle seinen Napf, schalte ein paar Lampen ein und mache mir einen Kaffee, bin in Gedanken aber bei zwei jungen Soldaten. Dem einen war es beschieden, im Kampf zu fallen, und dem anderen, mein Großvater zu werden. Der eine wurde durch ein Gedicht unsterblich und der andere durch eine Nachfahrin, die ihm entfernt ähnlich sieht. Nur wegen einer Laune des Schicksals, das Edward und nicht seinen Freund zu sich rief, bin ich überhaupt hier. Mir wird fast schwindelig, so beliebig und unsicher erscheint alles.
Ich mache mir Toast, setze mich an den Tisch und starre fasziniert auf das rote Auge des Phönix auf dem Kamm, den ich zur Inspiration vor mir platziert habe. Während mein Laptop versucht, sich mit dem Hotspot des Handys zu verbinden, dudelt das Radio leise in der Küche, so beruhigend und vertraut wie die gebutterten Toastscheiben auf meinem Teller. Aber ich bin zu beschäftigt, um zu essen, denn ich frage mich, ob mein Urgroßvater der schmuddelige Dorfjunge von dem Foto war, der mit Henry und Prinzessin Clementine am Ufer von Oyster Shore spielte. Ist Marrick Penwurthy das fehlende Puzzlestück?
Als ich leichte Kopfschmerzen bekomme, merke ich seltsamerweise, dass ich David vermisse. Beruflich konnte man mit ihm sehr gut solche Fragen erörtern, und er liebte literarische Rätsel – vor allem, wenn sie sich kommerziell verwerten ließen. Seit dem Erfolg des Films über Kit Rivers lässt sich alles, was mit dem jungen Kriegsdichter zu tun hat, in Gold verwandeln, und David hätte nicht geruht, bis er das Geheimnis ergründet hätte. Er hätte unzählige Anrufe getätigt, Matt mit Fragen gelöchert und meine Mum so lange umgarnt, bis sie selbst die Treppe zum Speicher hochgeklettert wäre, um die Kiste zu holen. Dann hätte er den Einheimischen im Pub Drinks ausgegeben, um ihr Gedächtnis zu ölen, und selbst Treena Trehunnist hätte er mit seinem Interesse an Pendeln und Tarotkarten bezaubert. Davids Charmeoffensiven habe ich schon tausendmal erlebt. Damit gewinnt er Literaturagenten für sich und überzeugt große Autoren, bei einem kleinen Verlag wie seinem zu veröffentlichen. Deshalb ist er so erfolgreich. Wenn David Blake sich ein Ziel gesetzt hat, dann kann man ihn genauso wenig aufhalten wie die Flut. Doch kaum habe ich mich daran erinnert, verfliegt auch schon mein Anflug von Nostalgie. Ich will auf gar keinen Fall, dass er mein Buch beeinflusst, so wie er lange meine Karriere und mein Leben bestimmt hat. Dann kommt mir der Gedanke, dass ich es kaum erwarten kann, Noah von den Entdeckungen dieses Tages zu berichten, denn er interessiert sich genauso dafür wie ich, und ich weiß, dass er sich erst all meine Überlegungen dazu anhören wird, bevor er mit eigenen Vorschlägen kommt.
Perplex blicke ich auf. Wieso vergleiche ich plötzlich David, mit dem ich fast vier Jahre zusammen war, mit einem Mann, den ich erst seit ein paar Tagen kenne? Ich lasse mir etliche Gründe durch den Kopf gehen, verwerfe sie aber alle und befinde, dass ich einfach nur einsam bin und mich mehr auf meine Forschung und ein paar Spuren konzentrieren sollte, die wirklich zu etwas führen. Morgen werde ich ins Dorf gehen und versuchen, Selina Trewen zu einem Kaffee und einen Plausch über die hiesige Lokalgeschichte zu bewegen. Möglicherweise kann sie mir ein bisschen mehr über Madalyn Trelyon und die Verbindung der Familie zu Geralds Geschichte erzählen. Vielleicht hat Selinas Vater mal etwas darüber fallen lassen. Sie kommt mir vor wie eine scharfsinnige Frau, der nichts entgeht.
Schließlich verbinden sich Computer und Handy miteinander, und der helle Bildschirm bietet mir Zugang zu Informationen. Ich gebe Schützengraben Soldat Trevellan Kit Rivers in die Suchleiste ein und bekomme sofort Im Graben, eines seiner berühmteren Werke. Es ist ein erschütterndes Gedicht, das immer wieder mit Owens Dulce et Decorum Est verglichen wird, aber die Schrecken des Krieges viel brutaler zeigt, weil es schildert, wie eine Explosion im Bruchteil einer Sekunde ein Leben auslöscht. Beim Lesen höre ich förmlich die panischen Schreie und sehe die geschundenen Körper vor mir, da der Dichter das Chaos und Gemetzel mit blutigen Bildern heraufbeschwört.
Ich minimiere die Webseite. Es ist eine Sache, ein Gedicht aus akademischer Perspektive zu lesen, aber eine völlig andere, wenn man das Gesicht des jungen Mannes gesehen hat, der in der beschriebenen Explosion umkam. Auf der Suche nach mehr Hintergrundwissen lese ich einige Literaturkritiken dazu, die erörtern, ob Carew eine Christusfigur ist, die für Selbstaufopferung steht, oder lediglich ein Konstrukt, um einen politischen Standpunkt zu verdeutlichen. Doch der akademische Diskurs ist von der Hölle der Schützengräben weit entfernt. Nachdem ich einige Artikel überflogen habe, habe ich den Eindruck, dass nichts die Realität der Front näherbringt als das ursprüngliche Gedicht und das Foto von Edward Carew und Marrick Penwurthy. Mir scheinen diese beiden jungen Männer mittlerweile vertraut, es sind nicht länger nur die Namen unbekannter und nicht betrauerter Angehöriger. Eigentlich waren es noch Jungen, Jungen mit Hoffnung und Zuversicht, die das Leben noch vor sich hatten. Junge Männer, denen der Krieg das Leben geraubt hat. Sie standen am Beginn ihres Lebens, wie die jungen Männer, die man heutzutage sonnengebräunt und mit Surfboards unter dem Arm in Trevellan sieht
Ich rufe die Galerie auf meinem Handy auf und suche das Foto der beiden Freunde. Sie stehen dort, den Arm um die Schultern des anderen gelegt, und haben glücklicherweise keine Ahnung davon, dass weit in der Zukunft Professoren über ihre Bedeutung im Werk eines großen Dichters diskutieren werden. War mein Urgroßvater Marrick bei Kit Rivers und Edward Carew, als die Bombe explodierte? Versuchte er, seinen Freund aus den Trümmern zu befreien? Oder wurde auch er unter Schlamm und Leichen begraben, als die Welt um ihn herum in Stücke flog? War dies der Augenblick, in dem sich der junge Mann mit dem offenen Gesichtsausdruck in den zornigen Mann verwandelte, den zornigen Vater, vor dem Granny May sich fürchtete?
Ich lege mein Handy zur Seite und kehre zum Laptop und dem Gedicht zurück. Ganz gleich, wie schrecklich es ist, schulde ich es doch meinem Urgroßvater und allen Männern, die im Schützengraben kämpften, mich der Realität ihrer Kriegserfahrungen zu stellen. Wieder und wieder lese ich das Gedicht, und jedes Mal trifft es mich wie ein Schlag. Wie die meisten britischen Schulkinder habe ich Literatur aus dem Ersten Weltkrieg gelesen. Ich weiß alles über naive Jungen, die auf Ruhm und Abenteuer aus waren, über Soldatendichter, über schlammige Schützengräben und mutige Frauen, die Krankenschwestern wurden und Ambulanzen fuhren. Ich kenne Owen und Rivers und Sasson: Sie schrieben über junge, übermütige Männer, die in ein Inferno gerieten, Aristokraten und Metzgerjungen, die Seite an Seite in Gräben und gegen Gasangriffe kämpften. Davon zeugen zahlreiche Filme, Bücher und Theaterstücke, die einen Teil unserer Kultur ausmachen. Wie in Kits Gedichten gibt es dort kein edles Opfer und keinen Ruhm, sondern nur ein blutiges Gemetzel, in dem eine ganze Generation in eine Hölle aus Schlamm, Stacheldraht und Granattrichtern getrieben wurde.
Ja, solche Geschichten muss ich schon unzählige Male gehört und gelesen haben, doch nach meinem Besuch in Rosecraddick Manor und mit dem Foto von Marrick und Edward vor Augen ist es nicht länger ferne Vergangenheit, sondern schreckliche Realität, denn diese Soldaten waren Jungen. Es waren Heranwachsende mit Flaum auf der Oberlippe und schlaksigen Gliedmaßen, echte Menschen, die gelebt und geliebt hatten und meist ein hässliches, brutales Ende erlebten. Das alles ist so bedrückend, dass ich mir die Augen reibe, bis ich Sternchen sehe, weil ich eine Pause von Tod und Verzweiflung brauche. Und ein Glas Wein.
Gerade will ich mich deprimiert ausloggen, da erscheint eine neue Nachricht auf meinem Bildschirm. Meine Stimmung steigt, als ich sehe, dass sie von Drew stammt, was heißt, dass seine Frau etwas über Gerald Snowe ausgraben konnte.
Anna hat nicht viel über Snowe gefunden. Sie hat die Kopie einer Kritik seines Buches aus The Mail von 1919 und ein paar Nachrufe aus der Zeit angefügt, die dir vielleicht helfen können. Ein Exemplar von Snowes Roman hat sie nicht auftreiben können, was wohl den Wirren der Zwischenkriegszeit geschuldet ist, wie sie sagt. Außerdem gingen offenbar viele Informationen verloren, vor allem aufgrund von Bombenangriffen im Zweiten Weltkrieg. Anna lässt ausrichten, dass die Sache sie jetzt auch fasziniert!
Dein Gerald Snowe wurde 1918 veröffentlicht, in der gleichen Ära wie Proust, Freud und Hesse, also befand er sich in erlesener Gesellschaft. Faszinierend ist aber, dass sein Werk die Zeit nicht überdauert hat, obwohl sein Roman der Kritik nach außerordentlich gut aufgenommen wurde. Anna hat dazu ein paar Dokumente beigefügt, weil sie hofft, sie könnten dir helfen.
Ich überfliege den Rest der E‑Mail, wo es hauptsächlich um Drews neuen Job als Leiter des englischen Fachbereichs einer großen Gesamtschule und seine allgemeine Verzweiflung über die Direktion und den neuen Bildungsminister geht. Als ich die Anlagen aufrufe, sind Erschöpfung und Gedanken an ein Glas Wein sofort verflogen, denn ich habe eine Zeitungskritik von Am Austernufer aus dem Jahr 1919 vor mir, die zwar kurz ist, aber voll des Lobes – so wie ich es mir für meine früheren Autoren gewünscht hätte.
Der Roman erinnert in seiner Seelenschlichtheit und Nüchternheit an Hardy und ist in einem Paradies angesiedelt, das vom Krieg bedroht wird. Zwar ist der Trost der Natur allgegenwärtig, doch die Loyalitäten des Protagonisten teilen sich wie die schmalen Wasserkanäle, die sich unter seinem Bootshaus durch den Schlick ziehen. Hier wird die Verbindung zwischen Natur und Vorstellungskraft in einer klassischen Erzählung beleuchtet, die zugleich schlicht und in ihrem lyrischem Überschwang komplex ist. Man liest die archaische Geschichte eines Jungen und eines Mädchens, deren bedrohte Liebe und Hoffnungen noch lange nachhallen. Gleichzeitig beschreibt der Autor erschütternd und schonungslos die mechanisierte Kriegsführung. Snowes Am Austernufer ist eine eindrucksvolle, originelle Schöpfung der Phantasie und ein Triumph lyrischer Sprache.
Ich lese die Kritik noch einmal, weil ich kein Detail übersehen will. Dann lese ich sie ein drittes und ein viertes Mal. Und bei jedem Mal wird die Bewunderung des Kritikers für Snowes Werk deutlicher.
»Erinnert an Hardy«, sage ich zu Breakspear. »Eine klassische Erzählung, die zugleich schlicht, in lyrischem Überschwang jedoch komplex ist. Von so einer Kritik träumt jeder Schriftsteller. Wieso also wollte Gerald sein Buch vernichten? Und wieso hat ein derart begabter Mensch nie wieder geschrieben?«
Ich lehne mich auf meinem Stuhl zurück und denke über das nach, was ich gerade erfahren habe. Mittlerweile habe ich eine vage Ahnung, wovon dieser verschollene Roman handelte. Die Kritik spricht von einer Liebesgeschichte, die jedoch mit einem Verlust enden muss, der so zwingend ist wie der Wechsel von Ebbe und Flut. Es ist ein lyrisches und gleichzeitig maßvolles Werk, schlicht im Stil und doch komplex in den dargelegten Ideen und Gefühlen. Es ist eine Geschichte darüber, wie Liebe durch die Zeit und den Krieg erodiert wird und wie edle Gefühle durch Pflicht und Status und Tod ersterben. Das alles klingt wundervoll, und wieder einmal wünschte ich mir, ich könnte den Roman lesen.
Zwar ist der Trost der Natur allgegenwärtig, doch die Loyalitäten des Protagonisten teilen sich wie die schmalen Wasserkanäle, die sich unter seinem Bootshaus durch den Schlick ziehen.
Von diesem Satz werde ich ganz kribbelig, denn ich hatte recht: Gerald Snowe verbrachte tatsächlich Zeit in diesem Bootshaus. Hat er genau hier an seinem Buch geschrieben? Hat er beobachtet, wie der Fluss Richtung Meer strebte und Ebbe und Flut sich abwechselten? Anders kann es nicht sein, denn es scheint mir, dass der Fluss durch jedes Wort seines Buches strömt. Die stillen Reiher und die munteren Wasseramseln müssen genauso auf den Seiten gelandet sein wie der knarrende Ponton und das seltsam verschnörkelte Bootshaus zwischen dem Wäldchen und der vergessenen Flussbiegung.
Bei der zweiten Anlage, die Drew mir geschickt hat, handelt es sich um den Nachruf auf Geralds Snowe, der nur kurz und wenig informativ ist. Dort findet sich kein Hinweis auf sein Buch, und man bekommt lediglich den Hinweis, dass er sich von Cornwall fernhielt und in einem Klosterkrankenhaus in London starb. Ich speichere das Dokument auf meinem Desktop und klicke die letzte Anlage an, bei der es sich um einen Ausschnitt aus einer kornischen Zeitung handelt. In Erwartung, noch einmal ähnliche Informationen über Gerald Snowe zu erfahren, bin ich überrascht, den Nachruf auf jemand ganz anderen zu finden.
Trelyon, The Hon. Madalyn Rose 1898–1917
Einzige Tochter von Rupert, dem Viscount Trelyon (verschieden) und Constance, der Viscountess Trelyon, wohnhaft Chatton Place, London und Oyster House, Trevellan. Der tragische Verlust der jungen Dame erfolgte in ihrem zwanzigsten Lebensjahr. Die Trauerfeier wurde in der Kirche St. Nun abgehalten, wo eine Gedenktafel für sie angebracht werden wird. Unser Mitgefühl gilt Lady Constance in ihrer Trauer und Miss Trelyons Verlobtem Mr. Gerald Snowe von Vyvyan Court.
Matt Enys lag richtig mit seiner Ahnung. Madalyn Trelyon, das Mädchen, das eigentlich Vyvyan Estate und Oyster Shore hätte erben sollen, war mit Gerald verlobt gewesen und hatte in Oyster Shore gelebt. Ich rufe das Foto von dem schönen, jungen Paar auf meinem Handy auf und betrachte das bezaubernde Mädchen. Wenn dieser stolze junge Mann Gerald Snowe ist, dann gebietet die Logik, dass die junge Frau Madalyn Trelyon ist, seine zukünftige Frau. Zwar erscheint Madalyn steif und ernst, doch das kann auch der Förmlichkeit der Fotografie geschuldet sein. Es ist nicht unbedingt ein Hinweis auf ihre Gefühle Gerald gegenüber, denn der ist auf eine etwas düstere Art recht attraktiv und außerdem sehr reich. Madalyn, die dazu erzogen wurde, jemand Vermögenden zu heiraten, um den Reichtum ihrer Familie zu vergrößern, war vermutlich begeistert, eine solche Partie zu machen. Ihre Arbeit war getan, ihre Mission erfüllt.
Wer auch immer den Nachruf auf Madalyn schrieb, wusste, dass sie und Gerald verlobt waren. Ich bin sehr dankbar für die detektivischen Fähigkeiten von Drews Frau, denn meinen bisherigen Informationen zufolge war Gerald ein eingefleischter Junggeselle, der allein und fast vergessen starb. Vermutlich fand die Verlobung nur im kleinsten Kreis statt, aus Rücksicht auf Geralds Gesundheit und den Krieg, der auf der anderen Seite des Ärmelkanals tobte. Trauer um seine Verlobte, die er mit seinem Buch assoziierte, führte wahrscheinlich dazu, dass Gerald Snowe unbedingt sein Werk auslöschen und sich selbst davon distanzieren wollte. Trauer zeigt sich eben auf unterschiedliche Arten.
Nachdenklich kaue ich am Ende meines Stifts, schreibe Madalyn Trelyon – tragischer Verlust auf meinen Notizblock und unterstreiche die Wörter zweimal. Mit tragischer Verlust wurde das Geschehen bewusst vage gehalten. In diesem Alter ist jeder Tod tragisch. Wieso wurde die Todesursache nicht genannt? War es eine Krankheit? Ein Unfall? Mord? Je länger ich darüber nachdenke, desto überzeugter bin ich, dass gerade das, was nicht über Madalyn Trelyon gesagt wurde, von Bedeutung ist. Es wimmelt von Möglichkeiten, und ich prüfe jede einzelne auf ihre Wahrscheinlichkeit. Ein Mord wäre in die Zeitungen gekommen. Eine Krankheit wäre sicher erwähnt worden. Genauso wie ein Unfall. Was also wäre so schrecklich gewesen, dass es verschwiegen werden musste? Was wäre ein Tabu gewesen, von dem die Zeitungen niemals berichtet hätten? Hat Madalyn sich umgebracht? Oder, und dazu muss die Phantasie einen großen Sprung machen, gibt es eine andere Erklärung für Geralds Abneigung gegen das Buch: Hat er sie umgebracht? War es ein Verbrechen aus Leidenschaft? Vielleicht starb sie auch bei einem schrecklichen Unfall? Durch Ertrinken im Fluss?
Mit einem Mal kühlt die Atmosphäre merklich ab. Breakspear hebt ruckartig den Kopf und starrt hinaus in die Dunkelheit, wo der Fluss still und unsichtbar durch die Nacht strömt. Bei seinem starren Blick stellen sich mir die Nackenhärchen auf, und als er zu winseln anfängt, würde ich am liebsten aufspringen und die Vorhänge vor der Schwärze da draußen zuziehen. Hat Madalyn Trelyon dort ihr tragisches Ende gefunden? Ist Madalyn das ertrunkene Mädchen aus Granny Mays Geschichten und der Geist, von dem Davey Tuckey sprach?
»Wenn Treena hier wäre, würde sie ein Pendel schwingen und die Geister befragen«, sage ich zu Breakspear, aber der starrt immer noch in die Dunkelheit und winselt erneut.
»Was hast du denn, Junge? Was ist da draußen?«
Auch ich blicke in die schwarze Leere, sehe aber nur mein eigenes Gesicht in der Dunkelheit, bleiche Haut und riesige Augen. Sollte irgendetwas in der tintenfarbenen Welt jenseits der Scheibe lauern, so kann ich es nicht erkennen. Obwohl es wahrscheinlich nur ein vorbeihuschender Fuchs ist, der Breakspears Aufmerksamkeit geweckt hat, ziehe ich die Vorhänge mit einem energischen Ruck zu, und auf einmal ist das Bootshaus ein helles Rettungsfloß inmitten eines Ozeans aus Bäumen. Ich bin eben eine Städterin, die sich albernerweise fürchtet, wenn keine Straßenlaternen und erleuchtete Läden die Dunkelheit in Schach halten.
Ich gieße mir ein Glas Wein ein und kehre zu meiner Arbeit zurück. Abgesehen von Mord, für den es keinerlei Beweis gibt, liegt Selbstmord nahe, über den zu sprechen 1917 noch ein Tabu war. Wurde nicht erst kürzlich zugelassen, dass Selbstmörder auf geweihtem Boden beerdigt werden dürfen? Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts wurde Selbstmord wohl nicht als Verzweiflungstat angesehen, sondern als Schande, daher war es verständlich, dass es geheim gehalten wurde, vor allem bei einer so ranghohen Familie wie den Trelyons. Die Theorie scheint mir schlüssig. Granny Mays Geschichte über das ertrunkene Mädchen könnte durchaus auf dem tragischen Tod von Madalyn Trelyon beruhen, deren Geschichte sich im Laufe der Zeit zu einer lokalen Legende verwandelte. Selina Trewen war bei unserem Abschied frustriert, weil sie sicher war, irgendetwas über Oyster Shore vergessen zu haben. Könnte dies der mysteriöse Todesfall von Madalyn gewesen sein?
Gedankenverloren spiele ich mit meinem Kuli. Die Hypothese scheint mir wirklich einleuchtend. Es gibt keinen aufwändigen Grabstein für Madalyn – nur eine Gedenktafel, also keine Leiche. Und es wurde auch keine große Trauerfeier erwähnt, die der Tochter eines Viscounts doch zugestanden hätte. Es ist schon sehr seltsam, dass ihr Tod so beiläufig abgetan wurde, schließlich war sie die letzte direkte Nachfahrin einer Familie, die seit der Zeit des Feudalismus großen Einfluss in Trevellan hatte. Ein vertuschter Selbstmord wäre da durchaus denkbar, zumal die Leute in den Wirren des Krieges sicher nicht allzu viele Fragen stellten.
Eine Theorie aufzustellen ist einfach. Die eigentliche Schwierigkeit liegt darin, sie mit harten Fakten zu untermauern. Außerdem ist da noch die Frage, vor der ich immer wieder zurückscheue: Wer war das Mädchen in Weiß, das im Fluss Strandgut sammelte? Das Mädchen mit den roten Haaren, das der Ebbe folgte? Habe ich Madalyns Geist gesehen? Oder habe ich mir sie nur eingebildet, weil meine Phantasie in der hiesigen Atmosphäre mit mir durchgeht?
Halte dich strikt an die Tatsachen, befehle ich mir streng, als ich »Madalyn Trelyon« google. Fakten und nicht Intuition, Gefühle und Geister sind das Fundament einer Biographie. Ich muss alles ganz sachlich halten, und über die Familie Trelyon gibt es historische Fakten. Ihre Wurzeln reichen zurück bis zu Heinrich II. Sie hatten viele wichtige Ämter inne, und ihr Glück stieg und fiel mit den Monarchen, die sie unterstützten. Doch so lange ich mich auch durch die Ritter und Höflinge scrolle, bis zu den Parlamentsmitgliedern des zwanzigsten Jahrhunderts, nirgendwo wird eine Trelyon-Tochter erwähnt, die in so jungen Jahren zu Tode kam. Es ist, als wäre Madalyn aus der Familiengeschichte gelöscht worden.
Meine Suche endet im Nichts. Genau wie Geralds Buch scheint Madalyn nie existiert zu haben, was bei mir den Verdacht aufkommen lässt, jemand könnte sich sehr viel Mühe gegeben haben, beide von der Bildfläche verschwinden zu lassen. Und in diesem ganzen verwirrenden Geheimnis gibt es eine Verbindung zu Kit Rivers, Edward Carew und meinem Urgroßvater Marrick Penwurthy. Ich betrachte noch einmal das Foto von Marrick und seinem Freund, weil ich auf einmal überzeugt bin, dass diese beiden jungen Männer der Schlüssel zu diesem Rätsel sind. Ich vergrößere das Foto auf meinem Handy, zoome es immer mehr heran und entdecke plötzlich etwas, das dem Bild eine ganz neue Dimension verleiht. Spielen mir meine müden Augen etwa einen Streich?
»Unmöglich«, hauche ich und zoome das Foto noch näher heran, bis es ganz körnig wird und ich mich fragen muss, ob ich Halluzinationen habe. Ich versuche es noch mal mit einem anderen Bildausschnitt, zoome es erneut heran, aber es besteht kein Zweifel an dem, was ich auf dem vergilbten Foto entdeckt habe: Zwischen Daumen und Zeigefinger hält der unglückselige Gefreite Edward Carew den Schmuckkamm mit dem rubinäugigen Phönix.