Erst vor wenigen Stunden habe ich das Versteck im Boden des Bootshauses entdeckt und
bin in die Vergangenheit gestolpert. Seitdem habe ich ein ganzes Leben mit Ned, Madalyn
und Gerald erlebt. Das Oyster Shore aus der Vergangenheit ist für mich greifbarer
als die Gegenwart, und die Gesichter ihrer ehemaligen Bewohner sind so real wie die
Leidenschaften, die sie verzehrten. Mit jedem Wort ist mir ihre verlorene Welt nähergekommen,
und die Stimmen, die über ein Jahrhundert verstummt waren, haben dafür gesorgt, dass
die Wahrheit endlich ans Licht kommt.
Als ich die letzten Seiten lese, wirft die Sonne ihr Licht über den Horizont. Ich
schaue mich um und sehe denselben Fliesenboden wie einst, die schmale Stiege und die
Dachbalken, die auch Ned und Madalyn schon sahen. Doch ich bemerke gleichzeitig, dass
vieles fehlt. Wo ist der geliebte Sessel, der aus Edgars Arbeitszimmer gerettet wurde?
Wo der dickbäuchige Ofen, auf dem Ned Tee kochte? Wer hat das große Messingbett entfernt,
wo er Madalyn liebte und danach trunken vor Glück für sie posierte, während sie ihn
zeichnete? Die modernen Möbel sind Eindringlinge, und fast schon rechne ich damit,
Gerald hereinschleichen zu sehen, um das Versteck zu durchwühlen, oder Marrick, der
auf die Veranda springt und ruft, Ned solle auf den Ponton kommen und mit ihm etwas
trinken. Zurück in der Gegenwart fühle ich mich desorientiert und mehr als nur ein
bisschen aus der Zeit gefallen.
Beim Lesen ist das Feuer im Holzofen unbemerkt heruntergebrannt, und die Kühle eines
neuen Morgens hat sich ebenso in das Bootshaus geschlichen wie die Geheimnisse aus
dem alten Versteck gedriftet sind. Nun bin ich die neue Hüterin dieser Geheimnisse
und der einzige lebende Mensch, der die Wahrheit über das verschollene Buch kennt.
Doch es steht mir nicht zu, die Geheimnisse preiszugeben, und Neds Roman gehört nicht
mir, obwohl ich ihn gefunden habe. Am Austernufer gehört in Wahrheit jemandem, der Ned Carew und Madalyn Trelyon viel näher steht als
ich.
Ich lege ein Holzscheit in den Ofen und fache die Glut an, dann rufe ich Breakspear
und öffne die Tür zur Veranda, wo mich ein neuer Tag empfängt. Mein Hund zischt durch
meine Beine, springt die Stufen hinunter, rast am Ufer entlang und erschreckt Enten,
die sich flatternd und mit missvergnügtem Quaken in die Lüfte erheben. Madalyn und
Ned kannten bestimmt auch solche Morgen, wo sie Hand in Hand am Ufer entlanggingen
und dunkelgrüne Abdrücke im taunassen Gras hinterließen. Vielleicht besuchten sie
den vergessenen Brunnen, der schon seit vielen Jahren von dichten Dornenranken bedeckt
ist, und sprachen über Kits erste Gedichte und den Tag, an dem das Foto von ihnen
geschossen wurde. Auch Gerald muss diese frühen Morgenstunden gekannt haben, denn
sie eignen sich perfekt dazu, unbemerkt durch die Welt zu schleichen. Vielleicht war
es an einem Morgen wie diesem, als Neds Buch gestohlen und Ereignisse in Gang gebracht
wurden, die zu Geralds einsamem Ende führten, das niemand betrauerte?
Nebelschleier hängen über dem Fluss, und zwei Schwäne gleiten fast spurlos über das
glatte Wasser. Ich gehe über den Ponton, eingelullt von den sich an den Pfeilern brechenden
Wellen und der Stille der schlafenden Welt. Hier ist Ned geschwommen, hier zog die
Strömung Gerald Richtung Meer, und hier schloss sich das silbrige Wasser über Madalyns
Kopf, als sie ein letztes Mal um ihre Freiheit kämpfte. Dieser Fluss ist eine Nahtstelle
von Vergangenheit und Gegenwart, und als das Wasser sich unter meinen Füßen windet
und kräuselt, weiß ich, dass es hier Stimmen gibt, die jeder vernehmen kann, der achtsam
innehält.
»Ich höre euch«, sage ich, »ist es Zeit, dass die Wahrheit ans Licht kommt?«
Ich weiß nicht, was ich erwarte. Wäre dies ein Film, würde Neds Geist erscheinen,
oder auch Geralds Schatten (den ich mir mit Ketten beschwert vorstelle wie Jacob Marley
aus Dickens’ Weihnachtsgeschichte). Doch ich höre nur den schrillen Ruf eines Wasservogels, womit ich mich wohl zufriedengeben
muss. Am gegenüberliegenden Ufer lugt die Sonne über die Wipfel, und als ich mein
Gesicht dorthin wende, fühlt sich die Wärme an wie eine Bestätigung. Geben Ned, Madalyn
und sogar Gerald mir ihren Segen, ihre Geschichte zu erzählen? Wollen sie mir sagen,
dass Neds Roman an seinen rechtmäßigen Besitzer übergeben werden muss, damit sie alle
ihren Frieden finden?
Nebelschleier ziehen am fernen Ufer auf, hinter denen verschwommen Bäume sichtbar
werden. Hier überlappen sich Vergangenheit und Gegenwart, so wie vergessene Gesichter
von einst sich über die der nun Lebenden schieben. Bei Nebel ist es leicht zu glauben,
dass die Dorfkinder immer noch am Ufer spielen. Ned, mit seinem sonnengebräunten,
sommersprossigen Gesicht liegt bäuchlings im Gras und kritzelt eifrig in sein Heft.
Marrick ringt mit Sammy Trewen. Madalyn zeichnet und Gerald schmollt. Ich weiß, es
ist nur eine optische Täuschung, doch als Sonnenlicht vom Wasser reflektiert wird,
habe ich den Eindruck, weiße Röcke und wehende rote Haare aufblitzen zu sehen.
»Madalyn?« War sie es, auf die ich schon mal einen Blick erhascht habe? Ist sie das
geheimnisvolle Mädchen am Wassersaum?
»Madalyn?«
Da bellt Breakspear, Enten flattern in die Lüfte, und das Mädchen ist verschwunden.
Vielleicht bin ich ganz kurz in ihre Zeit gestolpert, denke ich, rufe meinen Hund
und kehre ins Bootshaus zurück. Gibt es nicht eine Theorie, dass Gegenwart, Vergangenheit
und Zukunft parallel nebeneinander herlaufen? Mir gefällt die Vorstellung, denn sonst
wäre unser Leben doch nur ein bittersüßer Augenblick. Jahreszeiten wechseln, Jahre
vergehen, Liebe und Schmerz verblassen, Stimmen verstummen, und wir alle enden als
Fotos in staubigen Alben. Doch ich stelle mir gerne vor, dass wir an einem Ort so
bleiben, wie wir waren: jung, voller Leben und Energie. Ist das vielleicht der Himmel?
Die Unsterblichkeit? Ist es das, was sich Schriftsteller erhoffen, wenn ihre Geschichten
in alle Ewigkeit wirken? Wenn etwas von dem bleibt, was wir waren, was wir fühlten,
und etwas, das uns wieder ins Leben zurückruft? Es könnte die Liebe sein, die in einer
schlichten Zeichnung zum Ausdruck kommt, die Traurigkeit im Blick eines Soldaten,
der im Schützengraben fotografiert wurde, oder auch die Worte eines hinreißenden Romans,
der ein Bild von dem, was wir waren, weit in die Zukunft wirft. Unsterblichkeit zeigt
sich in vielen Dingen.
Und es gibt doch eine Möglichkeit, weiterzuleben.
Während ich auf das Tageslicht warte, das mir Mut geben soll, füttere ich Breakspear
und koche mir einen Kaffee. Dann setze ich mich mit meinem Laptop und all meinen Unterlagen
an den Tisch. Aber mein Kaffee wird kalt, während ich mich wieder über die Briefe
von Bess und Marrick beuge, vor allem über Marricks Schilderung des Angriffs, die
Bess Madalyn zu lesen gab. Dabei mache ich mir Notizen und stelle Verbindungen her.
Als zum Licht der Sonne auch die Wärme kommt, weiß ich, dass ich zu Noah muss, um
ihm zu erzählen, was ich entdeckt habe.
»Gehen wir Gassi, Breakspear?«
Begeistert wedelt mein Hund mit dem Schwanz. Er liebt sein neues Dasein in Cornwall.
London mit seinen vielen Häusern und Asphaltstraßen muss ihm wie ein ganz anderes
Leben vorkommen, und ich glaube, er hat mir sogar verziehen, dass ich ihn von seinem
geliebten Garten weggezerrt habe. Wie könnte ein kleines Fleckchen Rasen auch mit
freier Natur und langen Spaziergängen durch die Wildnis konkurrieren? Es wird ihm
das Herz brechen, Oyster Shore zu verlassen, und mir wohl auch, denn ich gehöre hierher.
Ich bin hier genauso verwurzelt wie die Weiden und Eschen am Ufer. Auf keinen Fall
will ich sie ignorieren oder gar ausreißen. Viel lieber will ich mich in die Vergangenheit
vergraben, in die unglaubliche Geschichte, die ich entdeckt habe. Als ich als Kind
von Cornwall träumte, sehnte ich mich nach Oyster Shore. Wie auch nicht, da meine
Familie hierhergehört? Langsam dämmert mir, dass wir neben Familienmerkmalen wie Haar-
oder Augenfarbe auch tiefsitzende Erinnerungen erben.
Es war in den frühen Morgenstunden, und ich war völlig übermüdet vom Überfliegen des
Romans und Entziffern verblasster Handschriften, als ich vor Aufregung laut aufschrie.
Breakspear, den ich rüde aus dem Schlaf gerissen hatte, bellte vorwurfsvoll.
»Tut mir leid, mein Junge«, sagte ich. »Aber wenn Bess Carew Elizabeth Penwurthy war,
meine Urgroßmutter, dann war Ned Granny Mays Onkel. Und damit mein Urgroßonkel! Unglaublich,
oder? Und Marrick und Bess waren meine Urgroßeltern!«
Unbeeindruckt hatte Breakspear wieder den Kopf auf die Pfoten gelegt und weiter von
Uferböschungen und wilden Kaninchen geträumt. Mochte sein Frauchen finden, dass Schlaf
nicht so wichtig war, so brauchte ein Spaniel doch seine acht Stunden. Ich hingegen
hätte kein Auge zumachen können, dazu war ich viel zu aufgeregt über meine Entdeckung.
Ich war mit Ned Carew aus dem berühmten Gedicht verwandt! Mit Ned, dem Kriegshelden,
der unter großen Opfern seinen besten Freund gerettet hatte. Mit Ned, dem jungen Mann
auf den Skizzen, die das Mädchen gezeichnet hatte, das ihn anbetete. Ned, dem begabten
Autor, der seinen großen Roman und sein Herz aufgegeben hatte, damit Madalyn sicher
und glücklich leben konnte. Ned gehörte zu meiner Familie. Er war Autor wie ich!
Dass Marrick Penwurthy mein Urgroßvater war, überraschte mich nicht sonderlich, da
ich in meiner Kindheit von Granny May oft genug Geschichten über ihren Vater gehört
hatte. Marrick war mir mit seiner düsteren Stimmung und den unberechenbaren Wutanfällen
immer wie ein Ungeheuer aus einem Märchen erschienen. Nun wirkte er menschlicher,
da ich ihn in der Geschichte als kleinen Jungen kennenlernen durfte, der gerne die
Schule geschwänzt hatte und fischen gegangen war. Als ich Neds Buch las und die Briefe,
die er und Madalyn sich geschrieben hatten, war mein Urgroßvater kein Phantom mehr,
sondern ein zu allem entschlossener junger Mann, der seine Sandkastenfreundin heiratete,
für sein Land kämpfte und von seinem mutigen besten Freund gerettet wurde. Ohne Ned
Carew wäre ich nicht mal hier! Was für ein Gedanke!
Durch diese Briefe und Dokumente war mir ermöglicht worden, meinen Urgroßvater nicht
mehr als Stereotyp zu sehen, sondern als echten Menschen, und da ich unbedingt mehr
über ihn erfahren wollte, hatte ich mich auf jegliche Erwähnung von ihm gestürzt.
Seine Stimmungsschwankungen und Albträume rührten wohl von einer posttraumatischen
Belastungsstörung, und wegen seiner Kriegsverletzungen musste er am Ende das Fischen
aufgeben und sein Boot verkaufen. Wie Granny May immer sagte, starb er als zorniger
Mann, aber jetzt wusste ich den Grund, und mein Herz floss über vor Mitgefühl für
ihn und all die anderen Männer seiner Generation, die mit sichtbaren und unsichtbaren
Verletzungen aus dem Krieg heimgekehrt waren.
Aus Neds Schwester Bess mit den veilchenblauen Augen und den dunklen Haaren, dem wilden
Temperament und den raschen Fäusten wurde die strenge Mutter, die Granny May in Erinnerung
behielt. Elizabeth Penwurthy, die ehemalige Bess Carew, war die wütende Frau, die
dem unglücklichen Fremden die Tür gewiesen hatte. Nun wusste ich, dass der Besucher
kein Fremder gewesen war, sondern Gerald Snowe, der sich sehnlichst Absolution für
den Tod seiner Verlobten wünschte und das Buch zurückgeben wollte, das er gestohlen
hatte. Kein Wunder, dass die kleine May vor Angst gezittert hatte, als ihre Mutter
ihn anschrie, denn wie sehr muss Bess Gerald gehasst haben! Er hatte Ned bestohlen
und betrogen, er hatte die Familie Penwurthy bedroht und Bess den geliebten Bruder
geraubt. Ned Carew hatte ein neues Leben in Australien begonnen: Da hätte er genauso
gut zum Mond fahren können, denn wie sollten einfache Fischer wie Bess und Marrick
je dorthin kommen? Bess musste gewusst haben, dass sie Ned wie mehr wiedersehen würde.
Sie muss auch gewusst haben, dass Gerald bereitwillig die Schiffspassage gezahlt hätte,
wenn sie ihm Neds Aufenthaltsort verraten hätte – nur um sie loszuwerden. Aber Bess
hätte nicht mal im Traum daran gedacht, Neds Aufenthaltsort zu verraten.
Meine eigenen Recherchen hatten bereits ergeben, dass Gerald Snowe mit den Jahren
immer zurückgezogener lebte und religiöser wurde. Wie erwartet erbte er das Unternehmen
der Familie, verkaufte es aber zu einem exorbitanten Preis in den dreißiger Jahren
und zog sich als Laienbruder in ein Kloster zurück. Man sah ihn nur noch selten außerhalb
des Londoner Seminars, und er starb so einsam und ungeliebt, wie er gelebt hatte,
und hinterließ sein gesamtes Vermögen dem Orden. Es war ihm gelungen, alle Exemplare
des Romans zurückzurufen und zu vernichten, seine literarische Karriere war beendet,
noch bevor sie richtig angefangen hatte, und Am Austernufer geriet in Vergessenheit. Niemand ahnte, dass einer der größten literarischen Schätze
des frühen zwanzigsten Jahrhunderts vor über vierzig Jahren einer Fischerfrau in Cornwall
anvertraut worden und davor dem wahren Autor gestohlen worden war.
Jetzt liegt dieser literarische Schatz auf meinem Tisch. Ich halte einen sensationellen
Fund buchstäblich in meinen Händen, und mein Biographengeist sichtet und sortiert
schon emsig, um das zu strukturieren, was ich im Versteck im Bootshaus gefunden habe.
Dies ist eine phänomenale Entdeckung, von der alle Biographen träumen. Dennoch zögere
ich, das Buch gehört mir nicht. Auch wenn ich es aufgespürt habe und mein Familienzweig
eine große Rolle in der Geschichte spielt, gehört der Roman jemand ganz anderem.
Ich suche alles zusammen, was meine Theorie belegt, und lege sie in die robuste Tasche,
die Fi mir mitgab, als ich mich das letzte Mal im Dorfladen blicken ließ. Um die Briefe,
die Unterlagen und das Manuskript zu schützen, wickle ich alles noch in einem Pullover
und schiebe das Bündel in meinen Rucksack. Den Rest kann Noah vom Bootshaus holen
und lesen, wenn er Zeit hat – und ich glaube, das wird schon bald der Fall sein.
Dann wandern Breakspear und ich durch den stillen Wald und die gewundene Zufahrt hinauf.
Als wir an Oyster House vorbeikommen, fällt mir wieder ein, wie Madalyn die Gezeiten
des Flusses beobachtete und sich um ihren Geliebten sorgte, der im Schlamm und Gemetzel
der Westfront steckte. Hier überbrachte ihr auch meine Urgroßmutter die Neuigkeit,
dass Ned als vermisst galt, und sie setzte eine Reihe von Ereignissen in Gang, die
das Leben vieler Menschen veränderte.
Als ich Noahs Wohnwagen erreiche, kribbelt in mir eine nervöse Energie, die vom Schlafmangel
und zu viel Koffein herrührt. Noah sitzt auf der Eingangsstufe in der Sonne, und aus
seinen nassen Haaren tropft es ihm auf die nackten Schultern. Rinnsale kriechen ihm
bis hinunter zu den schmalen Hüften, die nur von einem Handtuch bedeckt sind. Hastig
wende ich den Blick ab, damit er ja nicht denkt, ich wollte ihn anmachen und hätte
gleich Übernachtungsklamotten mitgebracht.
»Tag«, sagt Noah. »Ich fürchte, die morgendliche Schwimmrunde hast du verpasst, aber
für ein Schinkensandwich kommst du genau richtig.«
Wie aufs Stichwort knurrt mein Magen.
»Klingt, als bräuchtest du was zu essen.« Noah steht auf, während Breakspear begeistert
um ihn herumspringt. »Gib mir eine Sekunde, damit ich mich anziehen kann. Dann guck
ich mal, was ich tun kann.«
»Ich wollte kein Frühstück schnorren …«
»Jetzt sag nicht, du wolltest mir beim Düngen helfen.«
Ich rümpfe die Nase. »Auf gar keinen Fall! Tut mir leid, dass ich so früh vorbeikomme,
aber du hast gesagt, ich soll mich melden, sobald ich was rausgefunden habe. Tja,
das habe ich. Ich weiß, was aus Madalyn Trelyon und dem Buch wurde. Die Lösung war
die ganze Zeit direkt vor unserer Nase.«
Ich zittere, aber das könnte auch vom vielen Kaffee kommen, den ich in der Nacht getrunken
habe.
»Hol erstmal tief Luft, und dann sag das noch mal«, schlägt Noah vor. »Und vielleicht
ohne so auszusehen, als würdest du gleich in Ohnmacht fallen?«
»Wenn ich’s dir nicht sofort sage, falle ich tatsächlich in Ohmacht«, rufe ich aus.
»Deine Mum ist fast schon selbst draufgekommen. Noch ein paar Wochen mehr und eine
Reise hierher, dann hätte sie es rausgefunden. Ganz bestimmt!«
»Wieso? Was hat meine Familie mit deinem mysteriösen Schriftsteller zu tun?«
»Einfach alles! Deine Familiengeschichte ist fest mit der Geschichte von Oyster Shore
verwoben. Das war sie schon immer, nur hat jemand beschlossen, die Wahrheit zu verschleiern
und für sich zu behalten. Deshalb muss ich es zuerst dir erzählen, Noah, noch vor
Matt Enys und Hamish und allen anderen!«
»Dann werfe ich mir mal was über und mache Frühstück, und du erzählst mir alles«,
sagt er und schiebt mich in den Wohnwagen. »Setz mal den Kessel auf und koch Tee.
Das machen die Briten doch so, oder?«
»Aber klar, wenn wir nicht gerade Kricket spielen oder unsere Nachbarn stören.«
»Eine schöne Frau, die mich besuchen kommt, stört mich niemals«, gibt Noah galant
zurück.
»Das richte ich aus, falls eine vorbeikommen sollte«, kontere ich.
Er verdreht die Augen, geht zu der kleinen Tür am hinteren Ende des Wohnwagens, dreht
sich noch mal um und bedenkt mich mit einem Lächeln, das mir das Gefühl gibt, als
wäre ich doch schön – zumindest ein kleines bisschen.
»Nicht nötig, weil ich es ihr gerade schon selbst gesagt habe. Hauptsache, du verrätst
meinen Kumpels nicht, dass ich mich angezogen habe, als sie vorbeikam. Die würden mir glatt die australische Staatsbürgerschaft
aberkennen!«
»Könnte an deinen englischen Wurzeln liegen. Du weißt ja, wie verklemmt wir sind.«
»Gott! Dann bin ich britischer, als mir klar war!«
Viel, viel mehr, als dir klar ist, denke ich, während ich den Wasserkessel fülle und Teebeutel heraushole. Als ich
darauf warte, dass das Wasser kocht, vibriert mein Handy in der Tasche. Ich hole es
heraus und kriege sofort Beklemmungen, als ich sehe, dass es eine SMS von David ist.
Du hast deinen Standpunkt klar gemacht. Ruf mich an.
Seine SMS ist eine Botschaft aus einem anderen Leben, das so falsch war wie das, das Madalyn
gehabt hätte, wäre sie Geralds Frau geworden. Ich lösche den Text und Davids Nummer
gleich mit. Als seine Daten aus meiner Kontaktliste verschwinden, frage ich mich,
wieso ich so lange dazu gebraucht habe. Wovor hatte ich Angst, obwohl es doch so leicht
zu beenden war? Wie Madalyn Trelyon vor mir habe ich den Sprung in die Freiheit gewagt,
und der heutige Tag ist wirklich in vielerlei Hinsicht ein Neustart.
Als Noah in Jeans und T‑Shirt zurückkehrt, habe ich zwei Becher Tee gemacht und all
meine Unterlagen auf dem Tisch ausgebreitet. Es liegt nicht in meinen Händen, was
Noah mit den Neuigkeiten anfängt, die ich ihm eröffnen werde. Er setzt sich, und ich
beginne, ihm alles zu erklären, wohl wissend, dass ich alles wild durcheinander beschreibe,
aber ich kann nicht anders. Die Aufregung sprudelt aus mir hervor wie Wasser über
Stromschnellen. Noah hört aufmerksam zu, und vor lauter Staunen werden seine schönen
grünen Augen immer größer – Augen, die so grün sind wie die eines anderen atemberaubenden
Menschen.
Wie konnte ich bei allen Recherchen eigentlich das das größte und wichtigste Beweisstück
übersehen, das mir direkt nach meiner Ankunft in Oyster Shore unter die Nase gehalten
wurde? Die Lösung war die ganze Zeit deutlich sichtbar, nur eben nicht im Museum oder
in antiquarischen Büchern oder verschlüsselten Botschaften, sondern in Form von Grübchen,
grünen Augen und künstlerischem Talent. Die Antwort auf all die Fragen ist Noah Wilson.
Er ist das Ergebnis der Geschichte, und er ist Ned Carews größtes Vermächtnis.
Die Hinweise waren überall, und viele von ihnen hat Noah mir sogar selbst gegeben.
Seine weißblonden Locken. Seine künstlerische Begabung. Sein großzügiges Herz. Sein
Talent zu unterrichten. Seine tiefe, beständige Liebe zu Kim, der Frau, die er von
der ersten Sekunde an zur Frau nehmen wollte. Sein kornisches Erbe. Seine Verwandte,
die in ferner Vergangenheit ihren Verlobungsring verkaufte, um sich eine Schiffspassage
nach Australien leisten zu können. Die Familientradition als Lehrer zu arbeiten. Selbst
die Leidenschaft von Noahs Mutter, mehr über den Familienstammbaum zu erfahren, galt
nicht der Vergangenheit, sondern der Zukunft, in der ihr geliebter Sohn einen Platz
in der Welt finden sollte, nachdem seine Frau und seine Mutter gegangen waren. Noah
ist der Grund, warum Gerald Snowe endlich in Frieden ruhen kann.
Unsterblichkeit erlangt man nicht nur durch Kunst oder Ruhm, sondern durch Nachkommen.
Auch sie reichen unsere Geschichten an unsere Kinder und Kindeskinder weiter, und
die Familien, die wir gründen, sind ebenfalls ein Vermächtnis. Ned und Madalyn leben
nicht nur auf den Seiten eines vergessenen Romans und in einigen wenigen Briefen weiter.
Sondern auch in der Familie, die sie gegründet haben.
Nachdem ich in den frühen Morgenstunden die Verbindung hergestellt hatte, platzte
ich fast vor Aufregung. Ich las beide Romane noch einmal, bevor ich die Briefe sichtete,
die sich Madalyn und Ned geschrieben hatten, als er im Krieg war. Danach prüfte ich
sorgfältig die Unterlagen, die Noahs Mutter zusammengestellt hatte und die unter anderem
eine Passagierliste eines Schiffs enthielten, das 1917 nach Australien gefahren war,
außerdem einen kurzen Zeitungsartikel über Madalyns tragischen Unfall und verschiedene
Berichte über die Arbeit im Allington Krankenhaus. Zusammen mit dem Inhalt von Granny
Mays Kiste sind alle Beweise beisammen, genau wie Gerald vor langer Zeit behauptete,
als er sie Bess Carew gab. Es besteht kein Zweifel an der Entstehung von Am Austernufer und auch nicht an seinem wahren Urheber, und die literarische Welt wird die Wahrheit
über den Roman erfahren: Warum Gerald Snowe das Manuskript an sich genommen hat und
wie er auf Vergebung für seine Taten hoffte. Er starb in dem Bewusstsein, dass Madalyn
sich wegen seiner Umtriebe umgebracht hatte. Sein ganzes Leben verbrachte er in dem
Glauben, für ihren Tod verantwortlich zu sein, und er starb von Schuldgefühlen gequält.
Man muss schon ein Herz aus Stein haben, um kein Mitleid für ihn zu empfinden.
»Erzahl mir alles noch mal ganz genau, und zwar von Anfang an«, sagt Noah und nimmt
seinen Becher. Er nippt an seinem Tee, und als sich die Muskeln an seinem Hals bewegen,
frage ich mich unwillkürlich, wie sich seine Haut an meinen Lippen anfühlen würde.
Geschockt merke ich, wie sehr ich mich danach sehne, es herauszufinden. Nur mühsam
löse ich meinen Blick von ihm und schiebe diese Gedanken auf den Schlafentzug. Dann
tauche ich erneut ein in die Geschichte von Freundschaft, Liebe und Kindheitsfehden,
die zu Diebstahl und erbitterter Rivalität führte. Noah hört aufmerksam zu, schaut
sich hin und wieder ein Foto an oder nimmt den Phönix-Kamm. Als er schließlich die
Hand auf das in Leder gebundene Notizbuch legt, schimmern Tränen in seinen grünen
Augen.
»Und das ist es also?«, fragt er voller Ehrfurcht, »Neds Buch?«
»Es ist jetzt dein Buch. Ned Carew war dein Urgroßvater, das heißt, es gehört dir als nächstem Angehörigen.
Es ist die Geschichte deiner Urgroßeltern und dein Erbe. Am Austernufer gehört dir.«
Manchmal betritt man als Biograph Neuland. Ein Abstecher vom geplanten Weg kann in
Treibsand und Verzweiflung enden, oder er führt in einem atemberaubenden Slalom in
ein völlig neues Gebiet, das mit tausend Möglichkeiten lockt. Ich habe genug Recherchen
und Projekte betrieben, um zu erkennen, wenn ich in einer Sackgasse gelandet bin,
kenne aber auch das Kribbeln der Aufregung, das einen Durchbruch ankündigt. Als ich
die ganze Nacht hindurch dieses Buch las, bekam ich ständig Gänsehaut und hatte einen
rasenden Puls.
Madalyn Trelyon war an jenem Tag nicht ertrunken. Ihr Tod war eine Hypothese, kein
Faktum, und an diesem Punkt wurde die Geschichte unklar, genau wie sie gehofft hatte.
Auf ihrer Gedenktafel steht Sehr geliebt, viel zu früh gegangen, aber aus dem Fluss wurde nie eine Leiche geborgen, und so gab es keinen stichhaltigen
Beweis, dass sie gestorben war. Nur die Annahme, dass ihre Leiche mit der Flut ins
Meer getrieben wurde. Da ihrem Tod immer der Ruch des Selbstmords anhaftete, wurde
nie darüber gesprochen. Ich war von dieser Hypothese ausgegangen, schließlich sprach
nichts dagegen, doch was, wenn ich vollkommen falsch lag? Was war wirklich geschehen,
wenn Madalyn es geschafft hatte, sich vor Geralds suchendem Blick unter Wasser oder
hinter dem Schilf am Ufer zu verstecken, dann zum anderen Ufer zu schwimmen und unbemerkt
von Oyster Shore zu fliehen? Ihr Verschwinden war die perfekte Lösung für ihr Dilemma,
und Gerald, der sie nur als schlechte Schwimmerin kannte, hatte nie einen Verdacht
geschöpft. Da er glaubte, dass sie tot war, suchte er nicht nach ihr und gab auch
keine Einzelheiten über ihr letztes Gespräch am Ufer preis. Und ganz gewiss kümmerte
er sich um Constance, da sie die Mutter seiner verstorbenen Verlobten war.
Aber Madalyn Trelyon konnte schwimmen. Das hatte Ned in einem seiner Briefe an sie
beschrieben. Er hatte sie an den Nachmittag erinnert, als sie gemeinsam im Fluss schwammen
und sich danach unter dem blauen Himmel im Gras am Ufer liebten. Madalyn hatte die
Gelegenheit genutzt, war zum gegenüberliegenden Ufer geschwommen und hatte gehofft,
nicht von der Strömung ins Meer gezogen zu werden. Kaum hatte sie das Ufer erreicht,
war sie vermutlich zu Marrick und Bess gerannt, damit sie ihr Schutz boten und ihr
halfen, Ned zu finden. Diese Theorie wird durch ein Dokument gestützt, das Noahs Mutter
fand: eine Passagierliste von 1917, derzufolge sich eine gewisse Elizabeth Carew nach
Sydney einschiffte. Zuerst hatte mich das verwirrt, da meine Urgroßmutter Cornwall
nie verlassen hatte oder gar nach Australien gefahren war. Doch dann hatte ich eins
und eins zusammengezählt.
»Natürlich!«, hatte ich so laut ausgerufen, dass meine Stimme im Bootshaus widerhallte.
»Bess hat Madalyn ihre Identität geliehen, damit niemand sie aufspüren konnte. Und
Madalyn hat den Verlobungsring von Gerald verkauft, um sich die Passage nach Sydney
leisten zu können.«
Madalyn Trelyon war nach Australien gereist und hatte sich der Gefahr von Stürmen
und U‑Boot-Torpedos ausgesetzt, um Ned zu finden, der zu der Zeit als Lehrer im Norden
von Queensland arbeitete. Dort waren beide geblieben, hatten ein neues Leben angefangen
und eine Familie gegründet.
»Aber meine Urgroßmutter hieß Lyn«, wendet Noah ein. »Das dachte ich zumindest. Sie
hat ihre Werke mit LC signiert.«
»Es zeigt sich bestimmt, dass sie in Wahrheit Madalyn Trelyon war. Lyn, die Abkürzung
für Madalyn, war vermutlich ihr Pseudonym als Künstlerin. Und ein Schutz vor Nachforschungen.
Schließlich hatten sie ein neues Leben begonnen.«
»Ein Neustart ist manchmal hart errungen«, bemerkt Noah, und ich weiß, dass er dabei
nicht nur an Ned und Madalyn denkt. Plötzlich runzelt er die Stirn. »Hey! Heißt das,
wir sind verwandt?«
»Cousins dritten Grades oder so. Über mindestens drei Ecken«, erkläre ich rasch. Das
habe ich schon gegoogelt – natürlich aus rein akademischem Interesse.
»Ach, das hast du schon geklärt?«, fragt Noah amüsiert. »Wieso denn?«
»Das gehört zu meinem Job, Berufskrankheit«
»Ach ja«, sagt Noah und nickt ernst. Aber an seinen Augen bilden sich Lachfältchen.
»Aus keinem anderen Grund?«
»Welcher Grund sollte das denn sein?«
Er lacht. »Na, vielleicht fällt uns einer ein.«
Ich werde rot, weil ich wirklich hoffe, dass es so kommen wird.
Während ich meinen Tee trinke und mich um eine möglichst neutrale Miene bemühe, blättert
Noah das Skizzenbuch durch und schüttelt staunend den Kopf.
»Meine Urgroßmutter war in späteren Jahren eine wirklich anerkannte Künstlerin. Sie
hatte Ausstellungen in Sydney und Cairns, und ihre Zeichnungen waren bei Sammlern
heiß begehrt. Die Skizzen hier kamen mir von Anfang an vertraut vor. Das ist ihr Frühwerk,
nicht wahr?«
»Ja, ich glaube schon.«
Er zeigt mir das Bild von dem jungen Mann, der auf dem Bett liegt. »Und du glaubst,
das ist Ned?«
»Das ist Ned. Er sieht aus wie du.«
Er kneift leicht die grünen Augen zusammen. »Kann sein, aber eigentlich sieht er genauso
aus wie mein verstorbener Onkel Joey. Seine Haare waren genauso wie Neds. Und du sagst,
Ned war der Sohn eines Lehrers?«
»Ja. Hast du mir nicht schon mehrmals erzählt, dass du von einer langen Linie von
Lehrern stammst?«
»Die anscheinend viel länger ist, als ich dachte! Ich hatte keine Ahnung, dass es
einen Edgar Carew gab oder dass mein Urgroßvater früher in einem Militärkrankenhaus
unterrichtete.« Seufzend legt er das Skizzenbuch auf den Tisch. »Ich fühle mich ganz
schlecht, weil ich Mum nur selten nach ihrer Familie gefragt habe. Aber irgendwie
waren sie für mich nie richtige Menschen. Ich bin ein Wilson, ein alteingesessener
Aussie, und ihre Seite der Familie bestand nur aus einer Reihe von Namen.«
»Du musst dich nicht schlecht fühlen. Schließlich gehört das alles in die ferne Vergangenheit.
Wie viele von uns fragen nach ihren Urgroßeltern? Sie sind doch fast immer nur schemenhafte
Gestalten für uns.«
»Aber für mich sind sie jetzt ziemlich real – Madalyn und Ned, meine ich. Wie Menschen,
die ich kenne und gernhabe. Fast schon wie Freunde. Ich kann kaum glauben, dass das
alles schon so lange her ist. Es fühlt sich so …« Er hält inne und sucht nach dem
richtigen Wort, »… so wirklich an. So lebendig.«
»Wart’s ab, bis du erst Neds Buch und die Notizen deiner Mutter gelesen hast. Dann
wird es dir noch realer vorkommen.«
»Ich bin schon sehr gespannt«, nickt er. »Wow! Meine Familie stammt von hier! Sie
haben dieselben Dinge gesehen, die ich jetzt auch sehe. Die Gezeiten, die Schwalben.
Die Sonnenstrahlen auf dem Wasser. Sie liebten die Orte, die ich auch liebe.«
»Du bist die Fortsetzung ihrer Geschichte«, erkläre ich, denn wenn ich Noah anschaue,
diesen sanften, freundlichen Mann mit dem künstlerischen Talent, dann ist es, als
sähe ich die beiden jungen Menschen vor mir, die sich vor vielen Jahren am Ufer von
Oyster Shore ineinander verliebten. Noah Wilson ist eine wunderschöne Mischung aus
Ned und Madalyn. Von ihnen hat er die weißblonden Locken, die grünen Augen und sein
treues Herz geerbt, genauso wie seine Berufung als Künstler und Lehrer. Er ist die
perfekte Mischung aus ihnen beiden. Ich wünschte, die beiden wüssten, dass ihr Urenkel
zu dem Ort zurückgekehrt ist, wo ihre Geschichte begonnen hat.
»Aus unserer Familiengeschichte wissen wir, dass meine Urgroßeltern friedlich in Oz
gelebt haben«, sagt er. »Es gab keine Bestseller und keinen Ruhm für sie, nur ein
einfaches Leben, eine glückliche Ehe und eine Tochter. Sie selbst haben das sicher
als Reichtum betrachtet, und ich kann ihnen nur zustimmen. Doch was war mit Gerald
Snowe? Weißt du irgendwas über sein Schicksal?«
»Es gibt kaum Informationen über ihn, weil er so zurückgezogen lebte«, erkläre ich.
»Er konvertierte zum Katholizismus und trat als Laienbruder in einen Orden ein. Ich
würde behaupten, dass er den Rest seines Lebens in Reue und Buße für seine Taten verbrachte.
Jedenfalls war er überzeugt, für Madalyns Tod verantwortlich zu sein, und das hat
ihm offenbar seine geistige Gesundheit geraubt.«
»Armer Kerl. Im Grunde war er noch ein Junge, oder? Sie waren alle noch so jung –
im gleichen Alter wie meine Abschlussschüler. Und was weiß man schon in diesem Alter?
Wir machen alle Fehler, aber die meisten von uns haben die Chance, sie wieder gutzumachen.
Gerald hatte die nie. Er hat nie Vergebung erfahren.«
»Außerdem entkam er dem Krieg, und ich glaube, das hat ihm ebenfalls keiner verziehen.«
Ich denke an die Fotos von den hoffnungsvollen jungen Männern in ihren Uniformen.
Von Madalyn und Gerald auf der Treppe vor Vyvyan Court. Von Kit Rivers, der Männer
in die Schlacht führen musste, obwohl er eigentlich nur Gedichte schreiben wollte.
Sie alle waren noch sehr jung, und wenn ich an Gerald denke, muss ich einfach Mitleid
mit ihm haben, denn er liebte Madalyn ebenfalls. Aber es war eine verdrehte und unerwiderte
Liebe, die seine Seele zerrüttete und unendlich viel Leid brachte. Ich kann nur vermuten,
dass seine Schuldgefühle wegen ihres Todes in Verbindung mit dem schlechten Gewissen
darüber, dass er Neds Arbeit gestohlen hatte, ihm den Verstand raubten. Oder hatte
Madalyn ihn tatsächlich verflucht? Denn Geralds Leben scheint wirklich in sich zusammengebrochen
zu sein.
Ich denke an den kleinen Jungen im Matrosenanzug, der immer den anderen Kindern hinterherlief
und von ihnen akzeptiert werden wollte. Welch ein elendes Leben er führte, welch eine
tragische Verschwendung! Geschlagen mit Neid und Rachsucht hatte Gerald stets die
falschen Entscheidungen getroffen, was dazu führte, dass er Neds Buch stahl und sein
Leben in Verzweiflung beendete. Kein Wunder, dass er Oyster Shore hasste und mit aller
Macht zu verhindern versucht hatte, dass man ihn mit dem Roman in Verbindung brachte,
den er gestohlen hatte. Hatte er in der Angst gelebt, dass sein Geheimnis ans Licht
käme? Oder hatte er sogar gehofft, sein Diebstahl würde auffliegen, so dass er die
Strafe bekäme, die er verdiente? War er enttäuscht, als Bess und Marrick nichts mit
der Kiste anfingen, die er ihnen gebracht hatte?
Noahs Mutter, eine überaus gründliche Historikerin, hatte mehrere zeitgenössische
Zeitungsartikel über Madalyn Trelyons Verschwinden gesammelt. In jedem gab es Andeutungen
darüber, dass das junge Paar einen Spaziergang gemacht hatte und die Braut ausgerutscht
und in den Fluss gefallen wäre. In keinem wurde die Frage aufgeworfen, wieso sie bei
derartigem Wetter spazieren gegangen waren. Aber es muss Gerede gegeben haben. In
einem Artikel hieß es, Gerald, der selbst nicht gut schwimmen konnte, wäre seiner
Verlobten nachgesprungen, jedoch ohne Erfolg. Danach bekam er eine Lungenentzündung,
an der er fast starb, und offenbar erfolgte in dieser Zeit seine Hinwendung zur Religion.
Ein anderer Artikel beschreibt ihn als tragische Figur, die stundenlang auf Knien
in der Dorfkirche betete und in Oyster Shore am Ufer spukte. War dies der Geist, den
Treena angeblich gesehen hatte? Spukt Geralds verfluchter Geist immer noch an dem
Ort, den er hassen gelernt hat?
Constance Trelyon lebte noch zwei Jahre in Oyster Shore, dann starb sie. Die Snowes
wohnten bis zu Sir Arthurs Tod Mitte der zwanziger Jahre auf Vyvyan Court. Danach
kehrte Lady Mary zu ihrer Familie im Norden zurück, und das Anwesen wurde wie so viele
andere bedeutende Familiensitze Stückchen für Stückchen verkauft. Ich kann mir vorstellen,
dass Oyster House zu dieser Zeit abgesperrt wurde, dass die Möbel unter Staublaken
und die Gärten unter Dornenranken und Unkraut verschwanden, und das Bootshaus dem
Fluss und dem immer näher rückenden Dickicht überlassen wurde, so vergessen und geheimnisumwoben
wie seine einstigen Besitzer.
Wohin Gerald Snowe genau ging, nachdem seine Familie Vyvyan Court verließ, bleibt
unbekannt. Noahs Mutter hatte sich umfangreiche Notizen über mögliche religiöse Refugien
in Frankreich und Spanien gemacht, doch alle mit einem Fragezeichen versehen. Am Ende
enthält die Geschichte seines Lebens mehr Mutmaßungen und Lücken als Fakten. Allerdings
kann ich eine Lücke füllen, denn ich weiß mit Sicherheit, dass Gerald Snowe nach Cornwall
zurückkehrte und meine Urgroßmutter aufsuchte, um einiges wieder in Ordnung zu bringen.
Ich stelle mir Gerald in späteren Jahren als gebrechliche, von Schuld und Krankheit
gebeugte Gestalt vor. Vor meinem inneren Auge humpelt er die Gasse zum Cobble Cottage
hinauf, nimmt allen Mut zusammen und klopft mit hämmerndem Herzen an die Tür. Ich
höre, wie Bess ihn anschreit, er solle sie in Ruhe lassen, wie sie ihm all ihren Hass
und ihre Trauer entgegenschleudert, weil sie ihren Bruder für immer verloren hat.
Wie er sie anfleht und versucht, seine Schuld wieder gutzumachen. Er hoffte wohl,
dies mit dem Originalmanuskript tun zu können, denn damit hätten Bess und Marrick
alles wieder in Ordnung bringen können. Bess hätte Ned das Buch schicken können, wo
auch immer er war, oder sie hätte Geralds Diebstahl preisgeben und ihn ruinieren können.
Vielleicht ersehnte er genau das, um endlich bestraft zu werden, doch seine Rechnung
ging nicht auf. Fragte er sich, warum? Das werden wir nie erfahren.
Doch selbst wenn Bess ihrem Mann die Kiste und die verschlüsselte Nachricht gegeben
hätte, wäre Ned niemals in der Lage gewesen, sein Werk zu veröffentlichen. Denn dann
hätte er verraten, dass Madalyn noch lebte. Nach allem, was ich über Bess’ Charakter
erfahren habe, vermute ich, weit wichtiger als Reichtum war ihr die Gewissheit, dass
Gerald leiden musste. Daher verriet sie Marrick kein Wort über die Kiste und verbarg
Geralds Schuld und das gestohlene Manuskript im Versteck im Bootshaus. Sie hätte sich
wohl nie träumen lassen, dass über ein Jahrhundert später ihre Urenkelin in dieses
Versteck greifen und die Vergangenheit wiederaufleben lassen würde.
»Gerald versuchte, alles wieder in Ordnung zu bringen«, erkläre ich Noah. »Und vielleicht
ist es doch nicht zu spät für ihn, Wiedergutmachung zu leisten.«
Jetzt weiß ich, warum Hannah Wilson so versessen darauf war, dass ihr Sohn nach Cornwall
reiste, um ihre Suche fortzusetzen. Dabei ging es nicht um einen lange verlorenen
Roman oder ein Vermögen, sondern um Familienwurzeln, die ihren Sohn in den Jahren
trösten sollten, die er ohne sie und seine geliebte Kim überstehen musste. Hannah
Wilsons Suche galt nicht ihrer Vergangenheit, sondern es ging ihr dabei um Noahs Zukunft.
»Neds Linie setzte sich fort«, erkläre ich, »das hatte deine Mutter herausgefunden.
Er und Madalyn hatten eine Tochter, deine Großmutter mütterlicherseits, und außerdem
einen Sohn, der im Zweiten Weltkrieg starb. Du bist der Letzte aus Neds Linie, genau
wie meine Schwester und ich die Letzten aus Bess’ Linie sind. Gerald hat das Buch
Neds nächstem Angehörigen zurückgegeben, was bedeutet, dass du darüber verfügen kannst – genau wie über die Wahrheit über Am Austernufer. Oh, Noah, es ist einfach unglaublich! Von so einer Geschichte träumen alle Biographen.
Sie war die ganze Zeit hier und hat darauf gewartet, erzählt zu werden.«
»Ohne dich könnte sie aber nicht erzählt werden. Du bist einfach wunderbar, Wenna!
Lass dir niemals was anderes einreden.«
Unwillkürlich denke ich an David, der auf subtile Weise ständig mein persönliches
und berufliches Selbstvertrauen ausgehöhlt hat. Er weckte Zweifel in mir, ob ich gut
genug sei, Recherchen zu betreiben und eigene Bücher zu schreiben, und nutzte meine
Unsicherheit, um mich an ihn zu binden. Mit der Zeit und der Distanz und durch Gerald
Snowes Geschichte habe ich erkannt, dass es dabei nur um Davids eigene Ängste ging.
Irgendwann werde ich ihm wohl verzeihen – sogar Mitgefühl für ihn haben. Doch für
heute reicht es mir, mich selbst wieder zu mögen.
»Kein Wunder, dass ich bei dir das Gefühl habe, dich schon ewig zu kennen«, fügt Noah
hinzu. »Jetzt ergibt alles einen Sinn. Mein Gott, was für eine unglaubliche Geschichte!
Ich wünschte, Mum wäre hier!«
Das Unglaublichste habe ich ihm noch gar nicht erzählt. Ich greife nach dem vergilbten
Umschlag in meiner Tasche. Soll ich ihn Noah jetzt geben? Er ist so klein und doch
so bedeutsam. Der Inhalt dieses Umschlags wird alles für Noah verändern. Die Information
wird ihn an diesem Ort verankern. Doch will Noah das überhaupt? Oder sehnt er sich
nach seiner Heimat zurück, dem Land der Hitze, der Sonne und der goldenen Strände?
«Ich glaube, deine Mutter ahnte das schon«, erwidere ich. »Aber ihr blieb nicht genug
Zeit, um ihre Recherchen zu beenden.«
»Es ist einfach überwältigend«, sagt er. »Nie hätte ich das erwartet. Nicht in einer
Million Jahren.«
Was jetzt noch kommt, wird dich noch mehr überraschen, denke ich. Denn es ist der Stoff, aus dem Bücher und Filme und Märchen geschaffen
sind, aber nicht das echte Leben. Unglaubliche Glücksfälle, von denen man in Romanen
liest. Und sie kommen eben doch vor, zum Beispiel genau jetzt. Ich ziehe das letzte
Dokument aus meiner Tasche und schiebe es mit dem Wissen über den Tisch, dass sich
damit Noah Wilsons Leben für immer verändern wird.
»Was ist das?«
»Geralds letzter Akt der Wiedergutmachung. Ich glaube, danach hat deine Mutter gesucht.
Sie muss einen Verdacht gehabt haben.«
Noah wiegt den Umschlag in seinen Händen, als könnte sich eine Bombe darin befinden.
In gewisser Weise stimmt das, denn der Inhalt hat die Macht, sein bisheriges Leben
in tausend Stücke zu reißen. Ich sehe zu, wie er die Unterlagen herausholt. Aber es
gibt keine Explosion. Es ist nur der letzte Akt der Buße eines Mannes, der gequält
von Reue einsam und allein starb. Während Noah das vergilbte Dokument liest, halte
ich die Luft an, aber nicht für Noah, sondern für Gerald Snowe. Wird Noah sein Geschenk
annehmen und es nutzen, um die Sünden der Vergangenheit wieder gutzumachen?
Das Papier zittert in Noahs Händen. »Ist es das, was ich glaube?«
»Wenn du glaubst, dass dies Gerald Snowes Testament ist, dann ja.«
»Mein restliches Vermögen, das ich zum Zeitpunkt meines Todes besitze oder zur Verfügung
habe, hinterlasse ich Edward Carew. Sollte dieser vor mir sterben, vererbe ich meinen
gesamten Besitz den Nachkommen Edward Carews und deren Nachkommen.« Verwirrt blickt Noah auf. »Das verstehe ich nicht. Gerald Snowe ist doch seit über
fünfzig Jahren tot!«
»Sein Besitz wurde von einem Treuhandfond verwaltet. Bis der Erbe gefunden würde.
Du, Noah.«
»Ich?«
»Als einziger direkter Nachkomme von Ned Carew bist du der Erbe. Gerald wollte die
Dinge mit Ned wieder in Ordnung bringen und zurückgeben, was er genommen hatte.«
»Wieso hat er dann nicht nach Ned gesucht? Er war doch reich, oder? Er hätte es sich
leisten können, Detektive zu engagieren.«
»Ich glaube, das hat er versucht, aber damals gab es noch kein Facebook oder Ancestry,
womit man Menschen aufspüren kann. Und die Post war sehr langsam. Jedenfalls wurde
Geralds Besitz, oder das, was davon geblieben war, seit seinem Tod von einem Treuhandfond
verwaltet. Bis Neds Erbe auftauchen würde.«
Noah fährt sich mit der Hand durch die Locken. Madalyns Locken mit Neds Haarfarbe.
Als er sich auf die Unterlippe beißt, weiß ich, das hat er von ihr. Es ist unglaublich.
»Na, da habe ich aber Glück! Woraus besteht denn das Vermögen? Aus einer Million Stück
Seife? Gott, da werde ich aber sauber sein!«
Ich lache. »Das Seifenwerk wurde lange vor Geralds Tod verkauft, und in seinen letzten
Jahren hat er einen Großteil seines Vermögens an wohltätige Einrichtungen gespendet.«
»Worum geht es dann also?«
»Gerald hat für Madalyn ein Hochzeitsgeschenk gekauft, aber es war eines, das ihn
mit ihrem Verlust und dem gestohlenen Meisterwerk verband. Er hasste dieses Geschenk
und kümmerte sich lange Zeit nicht darum. Deshalb ist es vernachlässigt und zugewuchert
und wartet darauf, dass Ned und Madalyn zurückkehren. Und wenn nicht sie, dann ihre
Nachkommen. Ach, Noah! Kannst du nicht erraten, was es ist?«
»Oyster Shore? Im Ernst?«
»Im Ernst! Deine Mutter muss geahnt haben, wohin ihre Nachforschungen sie führten.
Deshalb bestand sie darauf, dass du ihre Suche beendest. Wäre die Alzheimer-Krankheit
nicht so rasch bei ihr fortgeschritten, hätte sie es schon bald selbst erraten, denn
es ging um mehr als den Familienstammbaum. Du bist der Einzige, der alles wieder in
Ordnung bringen kann, Noah, der Einzige, der dafür sorgen kann, dass Gerald Snowe
in Frieden ruht. Du entscheidest, was mit Oyster Shore und Neds Buch geschieht.«
»Ich weiß schon genau, was zu tun ist«, erklärt Noah. »Und ich habe dir das schon
bei unserer ersten Begegnung gesagt. Weißt du noch? Dies ist ein heilsamer Ort. Ein
Ort, wo Menschen ihren Frieden finden, wo sie sich von den Fährnissen des Lebens erholen
können. Dies war der Ort, wo ich mich erholen konnte, und du doch auch, oder, Wenna?«
Er hat recht. Ich habe hier Heilung erfahren und dies umfassender, als ich je erwartet
hätte.
»Dieser Ort war meine Zuflucht, nachdem ich Kim und Mum verloren habe.« Noah wischte
sich mit dem Handrücken über die Augen. »Ich glaube wirklich, er hat mich gerettet.
Vielleicht kann ich das auch für andere ermöglichen.«
Mir stockt der Atem, so schön und selbstlos ist Noahs Vision, so symbolträchtig dieses
Erbe. Dieser Mann, dessen Herz so groß und treu ist, wird der perfekte Wächter von
Oyster Shore und seiner Geheimnisse sein, denn er ist das Beste, was Ned und Madalyn
zustande gebracht haben. Er ist ihr Vermächtnis, die beste Verkörperung ihrer Liebe
und ihr größtes Werk.
Wenn irgendjemand Geralds Fehler wiedergutmachen und Oyster Shore seinen Frieden geben
kann, dann Noah Wilson.