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»Ich bin also nur zum Teil ein Mensch.«

»Richtig«, bestätigte Miss Cab. »Dein Vater ist ein Übernatürlicher, und dass eines deiner Beine nicht in Ordnung ist, liegt auch daran. Es ist nicht vorgesehen, dass sich Übernatürliche mit Menschen zusammentun. Das geht oft nicht gut aus. Zu kurze Beine, schlechte Augen, fehlende Finger oder Zehen, aufbrausendes Temperament und so weiter.«

Das menschliche Hirn kann nur eine begrenzte Anzahl Schocks verkraften. Es ist so ähnlich, als müsste man sich mit zehn anderen Jungs in eine Klokabine zwängen – irgendwann kracht das Ding zusammen.

»Aber deine übernatürliche Herkunft hat auch Vorteile«, fuhr Miss Cab fort, »zum Beispiel deine Widerstandskraft gegen das Dämonengift.«

Das hob meine Stimmung wieder. Vielleicht besaß ich ja noch andere übernatürliche Superkräfte, die mir helfen konnten, Rosie zurückzubekommen. Ich musste mehr darüber erfahren! »Was macht denn einen Übernatürlichen aus? Und wer ist jetzt eigentlich mein Vater?«

»Das kann ich dir auch nicht sagen, aber es gibt die verschiedensten übernatürlichen Wesenheiten«, gab Miss Cab zurück. »Dein Vater könnte ein Nawal sein, ein Dämon, ein Seelenführer oder auch ein Zwerg.«

Ein Zwerg. Na toll. Einen übernatürlichen Mayazwerg als Vater hatte ich mir schon immer gewünscht.

»Weiß meine Mutter das?« Meine Stimme wurde schrill. »Ich meine, ist ihr klar, dass sie sich damals in eine Art …« Mir fehlte das passende Wort. Monster? Mom hätte sich bestimmt nicht in einen schlurfenden Putzschwamm verliebt!

»Sie weiß, dass dein Vater ein Übernatürlicher war, aber sie kennt die Prophezeiung des Feuers nicht, denn das würde sie in große Gefahr bringen. Von allen Arten Liebe, die es gibt, ist die Mutterliebe die unvernünftigste. Wenn deine Mutter über die Prophezeiung Bescheid wüsste, würde sie alles tun, um dich zu beschützen, und das könnte verhängnisvolle Folgen haben – für sie, für dich, für die ganze Welt. Darum gibt es ja mich. Aber wenn du mehr über deinen Vater wissen willst, frag sie am besten selbst. In ihre Herzensangelegenheiten hat sie mich nie eingeweiht.«

»Und was ist mit Hondo?«

»Der hat von all dem keine Ahnung.«

Das leuchtete mir ein. Dann dachte ich an Mr Ortiz. War er etwa auch ein Mayabeschützer? Doch als ich Miss Cab nach ihm fragte, erwiderte sie lachend: »Um Himmels willen, nein. Er ist zu hundert Prozent ein Mensch.«

Machte das die Sache nun besser oder schlechter? Mir brach der Schweiß aus. »Warum passiert das alles ausgerechnet mir? Und warum gerade jetzt?«

Miss Cab faltete die Hände im Schoß. »Weil es so vorherbestimmt ist. Was denkst du wohl, warum du so dicht an dem Vulkan wohnst, in dem Ah-Puch eingekerkert ist?«

»Ähm … weil ich einfach Pech habe?«

Sie schüttelte den Kopf. »Du hast dir diesen Ort ausgesucht. Besser gesagt, die Prophezeiung hat ihn für dich ausgesucht.«

»Aber als wir hierhergezogen sind, war ich doch noch gar nicht auf der Welt!«

»Deine Mutter war bereits schwanger mit dir und die Prophezeiung hat auch ihre Entscheidungen beeinflusst. Du kippst mir doch nicht um, Zane?« Sie fächelte mir mit der Hand Luft zu. »Ich habe mir diesen Ort auch nicht ausgesucht. Freiwillig wäre ich bestimmt nicht ans Ende der Welt gezogen, wo jemand wie der alte Ortiz um mich herumscharwenzelt, aber für eine Seherin hat die Pflicht stets Vorrang.«

»Sind Sie so eine Art Bodyguard, oder was?«

»Ich stamme von den Geheimnishütern der Großen Prophetin ab. Das ist mein Erbteil«, antwortete sie würdevoll. »Ich hüte ein Geheimnis, das schon meine Ahnen um jeden Preis bewahrt haben.«

Plötzlich wurde ich wütend. »Und Sie sind nie auf die Idee gekommen, dass Sie mir mal davon erzählen könnten?«

»Es war noch nicht so weit.«

»Und warum ist es jetzt auf einmal so weit?«

»Als der Bote so kurz vor der Sonnenfinsternis die Dinge ins Rollen gebracht hat, wurde mir klar, dass sich die Prophezeiung jetzt erfüllt.«

Ich gestand ihr nicht, dass in Wahrheit ich die Dinge ins Rollen gebracht hatte. Schließlich hatte ich den Eingang zum Vulkankrater freigelegt, sodass die Hilferufe des ollen Stinkers seine schwachköpfigen Diener erreichen konnten.

Ich kratzte mir den Kopf. »Ich fasse noch mal zusammen: All diese Mayas – Sie, Brooks und der Bote – sind nur hier, weil der Todesgott seit Hunderten Jahren in ein zauberkräftiges Artefakt eingesperrt ist, das wiederum in meinem Vulkan versteckt ist und von mir gefunden werden soll, damit er freikommt?«

»Stimmt. Hast du dich noch nie gewundert, dass du im Dunkeln so gut sehen kannst?«

»Woher wissen Sie das denn?«

»Ich weiß alles über dich, Zane Obispo. Schließlich war ich schon bei deiner Geburt dabei.«

Am liebsten wäre ich sofort nach Hause gelaufen und hätte meine Mutter mit Fragen nach meinem übernatürlichen Vater gelöchert, aber es gab Wichtigeres. Erstens: Rosie wiederfinden. Zweitens: am Leben bleiben.

Ich gab mir einen Ruck. »Ich muss nach Xib’alb’a. Sie können mir nicht zufällig sagen, wie ich da hinkomme?«

Miss Cab schüttelte energisch den Kopf. »Du kannst nicht ins Land der Toten hinabsteigen, Zane.«

»Weil ich selber noch nicht tot bin?«

»Weil es viel zu gefährlich wäre. Die Bewohner der Unterwelt rollen den Lebenden nicht gerade den roten Teppich aus, und wenn du dort hinkämst … die Unterwelt würde dich verschlingen. Ihre Bewohner haben eine Schwäche für Menschenfleisch. Es gilt dort als Delikatesse.«

Mir wurde schon wieder übel (mein Magen rebellierte in letzter Zeit eindeutig zu häufig) und ich hob rasch die Hand. »Schon gut, ich hab’s verstanden.«

»Du musst dich wohl leider damit abfinden, dass Rosie tot ist.«

Wieder sah sie aus, als täte es ihr ehrlich leid, aber ich hätte am liebsten losgeschrien. Rosie konnte nicht tot sein! Sie durfte nicht tot sein!

Ich schluckte den dicken Kloß in meinem Hals hinunter. »Na gut«, erwiderte ich mit belegter Stimme, »dann holen Sie Rosie eben zurück. Eine so mächtige Seherin wie Sie kann die Unterwelt doch bestimmt gut gebrauchen!« (Okay, das war vielleicht ein bisschen weit hergeholt.) »Sie könnten doch mit den Bewohnern verhandeln oder so.«

»Wir müssen uns auf das konzentrieren, was jetzt vordringlich ist, Zane, nämlich dass dir nichts zustößt.«

Ich sprang vom Sofa und lief wie ein Irrer im Zimmer auf und ab. »Rosie braucht mich! Was aus mir wird, ist mir egal!«

Vielleicht war es egoistisch von mir, vielleicht sogar dumm, doch ich konnte die ganze Zeit nur an Rosie denken. Daran, wie ich sie damals gefunden hatte. Wie ich ihr die Dornen aus den Pfoten gezogen und sie gebadet hatte. Wie sie zitterte und ich sie in ein Handtuch gewickelt, an mich gedrückt und ihr versprochen hatte, ihr würde nie wieder jemand etwas antun.

Ich hatte sie angelogen.

Miss Cab strich die Papierrolle glatt, die sie auf den Couchtisch gelegt hatte, und deutete auf verschiedene seltsame Symbole. »Die Sonnenfinsternis findet morgen statt. Das ist der Tag der Abrechnung. Der Tag der Zählung. Dann erfüllt sich die Prophezeiung des Feuers. Wir müssen überlegen, wie wir uns im Notfall retten können.«

Ich wischte mir die verschwitzten Hände an der Jeans ab. »Aber es ist noch nicht morgen! Bestimmt können wir Rosie bis dahin noch zurückholen!«

»Ich will dir keine falschen Hoffnungen machen, Zane. Selbst wenn ich Rosie zurückholen könnte, wäre sie nicht mehr dieselbe. Sie wäre …« Miss Cab stockte. »… verändert.«

»Wie, verändert?«

»Das kann ich nicht sagen. Aber ich bin schon einigen begegnet, die aus Xib’alb’a zurückgekehrt waren, und sie wurden nie mehr die Alten.«

»Also kann man doch von dort zurückkehren!« Wenn Rosie hinterher ein bisschen anders war, machte das nichts. Ich war ja auch irgendwie anders und außerdem konnte ich den Gedanken nicht ertragen, dass mein Hund für immer an so einem schrecklichen Ort festsaß. »Bitte versuchen Sie es wenigstens!«

»Zane.« Miss Cab schüttelte wieder den Kopf. »Ich müsste mich in eine andere Welt begeben und dich schutzlos zurücklassen. Das entspricht weder meiner Aufgabe noch meiner Natur, tut mir leid. Für Rosie bin ich nicht zuständig. Ich bin für dich zuständig und muss morgen, wenn sich dein Schicksal erfüllt, an deiner Seite sein.«

Allmählich hatte ich die Nase voll davon, dass mir jeder erklärte, ich müsste diesen Puh freilassen! Der Typ war mir genauso egal wie die blöde Prophezeiung. »Warum sollte ich jemanden freilassen, der die ganze Welt zerstören will? Wieso will er das überhaupt? Was haben ihm die Menschen getan, dass er sie alle umbringen will?«

»Das geht auf längst vergangene Zeiten zurück. Die beiden mächtigen Schöpfergottheiten Hurakan und Kukuulkaan wollten Wesen erschaffen, die sie anbeten sollten.«

Diese Schöpfungsgeschichte kannte ich aus meinem Buch. »Als Erstes haben sie Menschen aus Schlamm erschaffen.«

»Aber diese Menschen waren schwach und unnütz«, spann Miss Cab den Faden weiter. »Sie besaßen keinen Verstand und die Götter vernichteten sie wieder. Anschließend versuchten sie es mit Menschen aus Holz, aber die waren so dumm wie … na ja, wie Holzköpfe eben sind, und darum …« Sie fuhr sich mit dem Finger über die Kehle.

»Vernichten machte den Göttern anscheinend Spaß.«

»Sie wollten nur ihr Ziel erreichen und das war, Menschen zu erschaffen, die Verstand besaßen und ein Gespür für Zeitrechnung hatten.«

Ich wusste, wie die Geschichte weiterging. »Die nächsten Menschen bestanden aus Mais, stimmt’s?« Ist doch ganz logisch, oder?

Miss Cab nickte. »Leider waren die Maismenschen zu klug geraten, darum sandten ihnen die Götter einen Nebel, der ihren Verstand ein bisschen verwirrte.«

»Erst wollen die Götter kluge Menschen und dann ist es auch wieder nicht recht«, sagte ich. »Das sind Probleme!« (Vielleicht solltet ihr Götter mal zum Psychiater gehen.)

»Die Götter schätzen keine Rivalen.«

»Menschen können doch keine Rivalen der Götter sein.«

»Hast du schon mal von den Heldenbrüdern gehört?«

»Meinen Sie die Zwillinge, die die Herren der Unterwelt überlisteten und einige sogar töteten?« Mein Buch widmete den beiden vier Seiten und drei Abbildungen.

»Diese ›Herren‹«, sagte Miss Cab abfällig, »waren hirnlose Ungeheuer, die Ah-Puch dienten.«

Ich musste ihr recht geben. Dass die Taten der Zwillingsbrüder so heldenhaft sein sollten, hatte mir auch nicht richtig eingeleuchtet. Im Grunde hatten die beiden nur ihren Vater und ihren Onkel rächen wollen, die von den Xib’alb’anern ermordet worden waren.

»Nachdem die Brüder ihre Gegner überlistet und getötet hatten, besagt die Legende, dass sie Ah-Puch selbst bezwangen. Das fanden die Menschen großartig, und ab da verachteten sie die Unterwelt. Sie fürchteten sogar den Todesgott nicht mehr, und so etwas ist nie gut. Es nimmt immer ein böses Ende, wenn die Menschen die Götter nicht mehr respektieren.«

»Das heißt, Ah-Puch will die Welt ein viertes Mal zerstören und neue Menschen erschaffen, die ihn wieder respektieren?«

»So ähnlich.« Miss Cab betrachtete den Papierbogen auf dem Tisch. »Wenn du Ah-Puch während der Sonnenfinsternis freilässt, wird seine Rachsucht grenzenlos sein und ihn wird nach deinem Blut dürsten.«

»Hä? Warum sollte er seinen Befreier umbringen wollen? Das ist doch total unlogisch!«

»Ich habe nie behauptet, dass Ah-Puch logisch denkt. Stell dir doch mal vor, du wärst über vierhundert Jahre lang eingesperrt.«

Klar wäre das blöd, aber ich würde bestimmt nicht nach dem Blut anderer Leute dürsten. Schon eher nach einem extragroßen Schokomilchshake. »Besitzen Sie nicht zufällig ein Zauberschwert oder so was, womit Sie Götter unschädlich machen können?«

Miss Cab riss erstaunt die Augen auf. »Wie kommst du denn darauf? Es ist nicht meine Aufgabe, Ah-Puch zu töten. Ich bin doch keine Auftragsmörderin!«

»Aber Ah-Puch darf die Welt nicht zerstören! Dann sterben doch alle!« Mom, Hondo, Mr O., Brooks …

Miss Cab holte tief Luft. »Es ist nicht an mir, seine Schreckensherrschaft zu beenden, Zane. Der Auftrag, den ich von meinen Ahnen übernommen habe, ist eindeutig: das Geheimnis der Prophezeiung zu hüten und für deine Sicherheit zu sorgen.«

»Und was ist mit der Welt? Ist die Ihnen egal?«

»Der Auftrag, den ich von meinen Ahnen übernommen habe, ist eindeutig«, wiederholte sie so ausdruckslos wie ein Roboter. »Außerdem hätte ich gar nicht die Macht, Ah-Puch zu töten. Das können nur die anderen Götter.«

»Dann bitten wir sie eben darum! Jetzt gleich. Sie stehen doch mit ihnen in Verbindung, oder? Jemand wie Sie kann sich doch bestimmt direkt zu ihnen durchstellen lassen!«

»Ich pflege nicht mit den Göttern zu telefonieren, Zane, und selbst wenn, würde ich sie nicht um so etwas bitten. Das ist nicht meine Aufgabe. Meine Aufgabe ist es nicht, mich einzumischen. Ich habe ausschließlich den Auftrag meiner Ahnen zu erfüllen.«

»Ich weiß nicht …«, erwiderte ich bemüht ruhig. »Würden die Götter denn nicht gern erfahren, wann der Typ, den sie in den Knast gesteckt haben, wieder entlassen wird?«

»Es ist nicht meine Aufgabe …«

»Okay, schon kapiert«, fiel ich ihr rasch ins Wort. »Auftrag der Ahnen und so weiter.«

Aber wenn sie die anderen Götter nicht vorwarnen und den Todesgott nicht unschädlich machen wollte, wie wollte sie dann dafür sorgen, dass ich die vier Liter Blut in meinen Adern behalten konnte?

Ihr Gesicht war blass und angespannt. »Sobald Ah-Puch frei ist, bekommen es die Götter von allein mit, verlass dich drauf. Dann ist es ihnen überlassen, wie sie ihm Einhalt gebieten.«

»Und wie wollen Sie ihn daran hindern, mich … mich umzubringen? Er ist doch ein Gott!«, setzte ich hinzu, als hätte sie das womöglich vergessen.

»Indem ich ihm ein Opfer darbringe.«

»Ein Opfer?« Das Wort blieb mir im Halse stecken. »Sie meinen … so was wie ein Geschenk?«

»Ich meine frisches Blut.«

Mir wurde schwummerig. »Aber nicht das Blut von einem lebendigen Tier oder einem Menschen … oder?«

Sie strich sich nachdenklich das Kinn. »Schlangen mag Ah-Puch besonders gern.«

»Echt jetzt? Der Typ trinkt Schlangenblut?« Vielleicht hat ihm noch niemand einen Hackfleisch-Burrito mit grüner Chilisoße angeboten. Danach hätte er garantiert keine Lust mehr auf Blut.

Miss Cab stand auf. »Wir schweifen schon wieder ab. Du musst jetzt stark sein, hast du verstanden?«

Stark? Ich hatte einen Dämon getötet! Und schon musste ich wieder an Rosie denken. Ich hatte sie im Stich gelassen und schwor mir, das wiedergutzumachen.

Ich stand ebenfalls auf und sah Miss Cab fest an. »Ich mache mit. Mit der Prophezeiung und dem … dem Blutopfer und so. Aber erst will ich Rosie wiederhaben. Sie sind die Einzige, die ihr helfen kann, und wenn ich Rosie verliere, bin ich hinterher nicht mehr derselbe …« Mir versagte die Stimme, doch ich riss mich zusammen. »Bitte, Miss Cab! Ich flehe Sie an!«

»Du willst für einen Hund alles aufs Spiel setzen?«

Ich hatte keine Lust, noch jemandem zu erklären, dass Rosie für mich nicht irgendein Hund war, sondern meine beste Freundin. Darum nickte ich nur.

Miss Cab rieb sich den Nasenrücken und seufzte. »Ich kann mich bei ein paar alten Freunden erkundigen, ob sie Rosie gesehen haben. Sie sind den Seelen Verstorbener beim Übertritt nach Xib’alb’a behilflich. Vielleicht können sie sich mal nach ihr umschauen. Aber ich bleibe in der Nähe und bin noch vor der Sonnenfinsternis morgen wieder da.«

Besser als nichts. So erfuhr ich vielleicht wenigstens etwas über Rosie und konnte danach entscheiden, wie ich weiter vorgehen würde.

»Aber du musst mir versprechen, dass du dich bis zu meiner Rückkehr sowohl vom Vulkan als auch von diesem Mädchen fernhältst«, fuhr Miss Cab fort. »Die Nawal hat hier nichts verloren und ist nicht vertrauenswürdig. Bleib bis morgen zu Hause. Abgemacht?«

»Abgemacht.« Wobei ich nicht ganz begriff, wieso ich in Gefahr sein sollte, wenn die Boten doch wollten, dass ich ihren Stinkeboss freiließ. Und hatte Brooks nicht gemeint, sie wolle versuchen, alles zum Guten zu wenden? Ich konnte doch nicht einfach so tun, als würde ich sie nicht mehr kennen! Schließlich hatte sie in der Vulkanhöhle für mich ihr Leben riskiert.

Miss Cab betrachtete wieder den Papierbogen und brummelte etwas vor sich hin.

Daraufhin schaute auch ich mir das zerknitterte Blatt näher an. Auf den ersten Blick sahen die farbigen, sich überschneidenden Linien wie ein U-Bahn-Netz aus. Aber dann entdeckte ich darüber verteilt zehn oder mehr Quadrate, die blau blinkten wie auf einem Computermonitor. So etwas hatte ich noch nie gesehen.

»Dieser Plan ist ein sehr seltenes Stück, Zane. Die meisten Pfortenpläne sind nicht mehr erhalten. Sie sind sozusagen eine aussterbende Spezies.« Miss Cab schob eine herausgerutschte Haarnadel zurück in ihren Dutt. »Wer einen solchen Plan besitzt, erzählt niemandem davon. Ist das klar?«

»Äh … ja.«

»Die blinkenden Felder bezeichnen die Eingänge zu den verschiedenen Ebenen der Welt. Sie ändern sich täglich. Der hier blinkt schneller als die anderen, siehst du das? Das bedeutet, dass er sich demnächst schließt und woanders wieder öffnet. Man wählt also besser einen, der nur schwach blinkt.«

»Und woher weiß man, wo die Eingänge liegen?« Auf der Karte waren keine Ortsnamen verzeichnet, nur unverständliche Symbole, die an Hieroglyphen erinnerten.

»Das ist nicht schwer. Die Karte entspricht dem Universum und die vier Himmelsrichtungen – Osten, Westen, Norden und Süden – sind in unterschiedlichen Farben dargestellt. Aber man braucht Übung, um die Linien und Zeichen zu deuten. Mal sehen. Der nächste Eingang …« Sie fuhr mit dem Finger eine schwarze Linie nach, die zu einem blau leuchtenden Quadrat führte, das kaum blinkte. … »liegt in Lolas Taco-Imbiss in Tularosa.«

»Der Eingang zur Unterwelt ist in einem Imbiss?«, wiederholte ich ungläubig.

Miss Cab sah mich an, als hätte sie noch nie so eine dumme Frage gehört. »Richtig. Durch den Imbiss gelangt man auf die sechste Ebene des Kapokbaums. Das ist der Weltenbaum. Von dort aus kann ich mich mit meinen alten Bekannten in Verbindung setzen. Aber es ist lange her, dass ich zuletzt eine solche Reise unternommen habe, und ich bin ein bisschen eingerostet.«

Vom Weltenbaum hatte ich auch schon gelesen. Er wurzelte in Xib’alb’a, wuchs mitten durch die irdische Welt und reichte bis hinauf ins Paradies. Allerdings war ich davon ausgegangen, dass der Baum nur eine Legende war.

Ich wollte schon nachhaken, doch Miss Cab sagte kategorisch: »Für heute ist Schluss mit den Fragen, sonst platzt dir noch der Schädel. Du musst jetzt wiederholen, was du mir versprochen hast.«

Ich verspreche nicht gern etwas, das ich vielleicht nicht halten kann.

»Sprich mir nach: Ich, Zane Obispo, gelobe, dass ich mein Haus während Miss Cabs Abwesenheit unter keinen Umständen verlasse und ihre Rückkehr am morgigen Tag abwarte.«

Zum Glück war morgen Samstag und ich hatte keine Schule. »Und was mache ich, wenn ein Bote bei uns aufkreuzt? Darf ich das Haus dann verlassen?«

Sie klopfte ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden. »Diese Spatzenhirne haben jetzt damit zu tun, sich wie die Kakerlaken zu vermehren und auf der Suche nach Ah-Puch in sämtliche Winkel des Vulkans zu krabbeln. Keine Sorge. Sie warten darauf, dass du bei ihnen aufkreuzt.«

Was für ein ekliges Bild! Von mir aus konnten die Boten warten, bis sie schwarz wurden. Prophezeiung hin oder her, bevor ich Rosie nicht wiederhatte, würde ich keinen Fuß mehr in die Nähe des Vulkans setzen.

»Apropos Boten«, sagte ich, »wie kommt es, dass meine Mutter den Dämon nicht sehen konnte?«

»Das ist ganz typisch für Dämonen. Nur der kann sie sehen, von dem sie gesehen werden wollen. Mit Göttern ist es das Gleiche. Auch sie sind Meister der Tarnung. Du konntest den Dämon sehen, weil du …«

»Weil ich ein Übernatürlicher bin, alles klar.« An diesen Gedanken würde ich mich wohl nie gewöhnen.

»Na dann!« Miss Cab klatschte in die Hände. »Ich habe euer Haus mit ein paar magischen Sicherheitsvorkehrungen ausgestattet, damit keine anderen Übernatürlichen hereinkommen können. Deshalb bist du dort auch am besten aufgehoben. Hast du das verstanden?«

Ich sagte brav, was sie hören wollte.

Miss Cab brachte mich noch bis zu unserem Haus und passte auf, dass ich auch hineinging. Ich wollte die Tür schon zumachen, drehte mich aber noch einmal um. »Ach, Miss Cab …«

»Ja?«

»Buena suerte.«

»Einer Seherin wünscht man kein Glück«, entgegnete sie naserümpfend. »Hauptsache, du hältst dein Versprechen.«