Wie ich mir schon gedacht hatte, war das Wasser so kalt, als bohrten sich eine Million Eissplitter in meine Haut. Ich hielt Brooks’ Hand fest gepackt und zog sie mit mir in die Tiefe. Ob der See überhaupt einen Boden hatte?
Zum Glück hatte mir Mom schon ganz früh im öffentlichen Freibad Schwimmen beigebracht. Ich schwamm gern, denn im Wasser humpelte ich nicht, und ich konnte auch im Trüben gut sehen. Zwei zu null für Team Übernatürlich.
Jetzt sah ich, dass unter der Oberfläche mehrere Felsgänge in den See mündeten. Wenn ich den falschen wählte, würden wir als Gerippe auf dem Grund vermodern. Ich spähte mit zusammengekniffenen Augen in die Dunkelheit, bis ich am Ende eines Gangs rechts von uns ein schwaches Licht schimmern sah. Sofort schwamm ich darauf zu und zog Brooks hinter mir her. In dem engen Gang drehte ich mich auf den Rücken und befühlte beim Schwimmen mit einer Hand die Decke. Die Steine schürften mir die Haut auf und ich konnte kein Luftloch entdecken, doch gerade als meine Lunge zu platzen drohte, tat sich über uns eine Öffnung von ungefähr anderthalb Metern Durchmesser auf.
Ich streckte den Kopf hindurch und rang gierig nach Luft. Unter mir strampelte Brooks noch im Wasser. Ich zerrte sie hoch und drehte sie mühsam herum, sodass auch sie eine große Portion Sauerstoff schnappen konnte.
»Wir … werden … hier … unten … sterben!«, keuchte sie verzweifelt.
»Weiter vorn ist es hell«, schnaufte ich. »Da müssen wir hin.«
»Das … schaff ich nicht, Zane.«
»Klar schaffst du das!«
»Der Bote … Er ist hinter uns her und hat … es auf mich abgesehen. Er weiß … was ich vorhabe.«
Also nichts wie weg! »Hol noch mal ganz tief Luft, und auf drei tauchen wir wieder unter. Eins, zwei …«
Plötzlich wurde Brooks mit einem Ruck unter Wasser gezogen und entglitt mir. Der Dämon!
Ich tauchte sofort ab und tastete so lange umher, bis ich ihre Hand wiedergefunden und sie befreit hatte. In meiner Panik schwamm ich schneller, als ich es mir je zugetraut hatte, und hielt auf das Licht zu.
Noch zehn Meter. Konnten wir noch so lange die Luft anhalten?
Gleich ist es geschafft, Brooks. Halt durch!
Mach schnell!, rief Brooks … aber ich hörte sie nicht mit meinen Ohren, sondern in Gedanken! Und das war keine Einbildung. Er kommt zurück!, schrie sie.
Die Boten wollen doch, dass ich Ah-Puch freilasse!, erwiderte ich meinerseits in Gedanken und hoffte, dass auch sie mich hören konnte.
Ja, aber mich wollen sie loswerden!, erwiderte Brooks.
Egal. Zehn Sekunden noch!
Meine Lunge war wieder kurz davor zu bersten.
Dann mündete der Felsgang endlich in einen unterirdischen See und wir konnten auftauchen. Ich schnellte empor, durchbrach die Oberfläche und schnappte nach Luft. Anschließend zerrte ich Brooks hoch und drehte sie so auf den Rücken, dass ihr Gesicht aus dem Wasser ragte. Ihre Augen waren geschlossen, ihr Mund stand offen.
»Brooks!« Ich kletterte auf die Uferfelsen und hievte sie ebenfalls hoch. Weil die Felsen nass waren, rutschte ich aus und landete auf dem Hintern.
Jetzt tauchte auch der Dämon aus dem Wasser auf. Seine blaue Haut war grau verfärbt und zerfiel wie durchweichtes Toastbrot.
Rasch rappelte ich mich wieder hoch und stellte mich zwischen das Monster und Brooks. »Du kriegst sie nicht!«, brüllte ich den Dämon an.
Er kroch wie eine Eidechse auf dem Bauch an Land, hielt dann aber inne und schaute an sich hinunter. Erst jetzt bemerkte er, dass er sich auflöste. Anscheinend war ihm nicht klar gewesen, dass er nicht wasserfest war. Er schrie und fauchte, als sein Fleisch in großen Brocken von ihm abfiel. Dann verflüssigten sich auch seine Knochen und nur noch eine zähe, dunkle Pfütze trieb auf der Wasseroberfläche.
Ich drehte mich rasch nach Brooks um und beugte mich über sie. Sie atmete nicht mehr.
»Brooks!« Voller Panik begann ich mit Mund-zu-Mund-Beatmung.
Bitte, bitte, bitte.
Atme.
Atme!
Doch sie machte die Augen nicht auf, sondern lag mit aschfahlem Gesicht reglos da. Dann fing die Luft auf einmal zu flimmern an und sie verwandelte sich in einen Falken, allerdings in einen deutlich kleineren als sonst. Rasch tastete ich an ihrem gefiederten Hals nach dem Puls. Ich konnte ihn fühlen, aber nur ganz schwach.
Mir blieb selbst fast das das Herz stehen. Gerade hatte sie doch noch in Gedanken mit mir gesprochen, mich wieder mal herumkommandiert!
»Bitte, Brooks!« Ich kniete mich neben sie und rüttelte sie leicht. »Wach auf! Wir haben’s geschafft! Aber ohne dich weiß ich nicht, was ich jetzt machen soll«, redete ich auf sie ein, als würde sie wieder zu sich kommen, wenn ich an ihr Gewissen appellierte.
Im selben Augenblick erfüllte ein seltsames silbriges Licht die kleine Höhle und ich schaute mich zum ersten Mal richtig um. Von der niedrigen Decke hingen hellgrüne Stalaktiten und die Wände waren so porös und löchrig wie versteinerte Schwämme.
Als ich mir das Wasser aus den Augen gewischt hatte, sah ich auch, wo das Licht herkam, nämlich aus einer bräunlichen Steinsäule, auf die eine zusammengeringelte Schlange gemalt war. Vor meinen Augen erwachte das Bild zum Leben und die Schlange entrollte sich und glitt an der Steinsäule herunter.
»Zane!«, zischelte sie.
»Hau ab!«
Während das Reptil an ihr hinabglitt, wurde die Säule durchsichtig wie ein Eisblock und ich konnte erkennen, dass eine kleine schwarze Figur darin eingeschlossen war. Die Figur war ungefähr fünfzehn Zentimeter groß und stellte eine bösartig aussehende Eule mit schlitzförmigen Augen dar. Ihre Flügel waren ausgebreitet, als wollte sie gleich davonfliegen, und sie sah so lebensecht aus, dass ich sofort begriff, dass Ah-Puch darin eingekerkert war. Die anderen Götter hatten ihn in ein Abbild seines Lieblingstiers verbannt, der Eule Muwan.
Meine Hand auf Brooks’ gefiederter Schulter zitterte, aber ich riss mich zusammen. »Bleib ruhig liegen«, sagte ich, »ich krieg das schon hin.« Mein Inneres stand in Flammen und auch meine Beine brannten wie Feuer.
Dann ertönte wieder eine Stimme, aber diesmal war es nicht die Schlange, sondern Ah-Puch selbst.
Ich kann sie retten.
Ich konzentrierte mich weiter auf Brooks, auf ihr goldbraunes Federkleid, auf ihr Herz, das immer noch schlug. Was sollte ich tun? Solange sie in diesem Zustand war, konnten wir den Rückweg durch den See nicht antreten und einen Ausgang aus der Höhle schien es nicht zu geben.
In meiner Verzweiflung entschloss ich mich, mit dem alten Stinker zu reden. »Wie kommen wir hier raus?« Meine Stimme hallte von den Wänden wider.
Ich kann sie retten, sagte er noch einmal.
»Wie denn?«
Stille, aber im Grunde kannte ich die Antwort ja schon.
Mit weichen Knien stand ich auf, ging zu der Steinsäule hinüber und streckte die zitternde Hand danach aus. Hatte ich schon erwähnt, dass ich Schlangen nicht ausstehen kann? Die Schlange glitt über meine Finger und in der Säule tat sich ein senkrechter Riss auf. Dann öffneten sich die beiden Hälften wie eine Flügeltür.
Meine Hände machten sich selbstständig und zogen die aus Ton geformte Eulenfigur heraus. Sie vibrierte und eine Art Kraftstrom schoss durch mich hindurch wie ein Schnellzug.
Endlich!, raunte Ah-Puch.
Ich umklammerte die Figur und ließ mich wieder neben Brooks fallen. Ihre Falkengestalt flimmerte jetzt und ich bekam auf einmal Angst, sie könnte wie Rosie zu Staub zerfallen. »Nein! Nicht!« Ich schüttelte das Eulenfigürchen. »Du hast gesagt, du kannst sie noch retten!«
Durch einen Spalt in der Höhlendecke kroch ein Lichtstrahl. Die Sonnenfinsternis!
Schweiß lief mir den Rücken hinunter, als sengende Hitze meine Eingeweide zum Kochen brachte. Ich rang verzweifelt nach Luft.
Eine der Höhlenwände war leicht nach außen geneigt und so durchlöchert, dass man vielleicht zu dem Spalt hochklettern konnte. Ich steckte die Figur in die Hosentasche und stand auf.
»Bleib, wo du bist, Brooks!«, rief ich beim Klettern über die Schulter.
Als ich oben angekommen war und mich durch den Spalt gezwängt hatte, erblickte ich weder den Vulkankrater noch die Wüste, sondern eine Art Marslandschaft – kilometerweit nur Sand, rotes Gestein und kein Zeichen von Leben. Ich legte den Kopf in den Nacken und hielt eine Hand über die Augen, damit ich die Sonnenfinsternis betrachten konnte. Der Himmel war violett und wurde von Sekunde zu Sekunde dunkler.
Ich holte die Eulenfigur aus der Tasche.
Es ist so weit, raunte Ah-Puch.
»Weck Brooks auf!«
Erst musst du mich freilassen.
Was soll ich bloß machen, Brooks? Hoffentlich konnte sie mich hören, so wie vorhin unter Wasser. Ich kann dich doch nicht einfach sterben lassen!
»Dein blöder Bote hat ihr das angetan!«, schrie ich die dämlich grinsende Eule an.
Deine Freundin will, dass ich weiter eingekerkert bin.
»Ich auch!«
Ah-Puch lachte höhnisch. Tja, aber jetzt sitze ich am längeren Hebel.
Was leider stimmte. Ich hatte keine Ahnung, wo wir hier gelandet waren, und Brooks rang mit dem Tod. Ich gab auf. »Wenn ich dich rauslasse, rettest du sie dann?«
Du kannst natürlich auch einfach abwarten.
»Und du kannst von mir aus in deiner Eule verschimmeln! Kannst du Brooks jetzt noch retten oder nicht?!«
Ich bin der Herr der Toten. So was ist mein Spezialgebiet.
Mir fiel wieder ein, dass Miss Cab gemeint hatte, Ah-Puch würde nach meinem Blut dürsten, aber jetzt zählte nur noch Brooks. War es leichtsinnig, einer einzelnen Person das Leben zu retten, indem man einen Gott freiließ, der die ganze Welt vernichten konnte? Klar. Aber damit konnte ich mich später befassen. Momentan ging es nur darum, dass Brooks nicht die nächste Bewohnerin von Xib’alb’a wurde.
Der Mond schob sich langsam vor die Sonne und verschluckte ihr Licht.
Lass mich frei.
»Und meine Hündin Rosie will ich auch zurückhaben! Sie sitzt in deiner Unterwelt fest.«
Einverstanden.
Als der Schatten des Mondes die Sonne endgültig verdeckte, holte ich tief Luft und tat das, was ich unbedingt hatte vermeiden wollen. Ich zerschmetterte die Eule am Rand des Felsspalts. Der Ton zerbarst, die Flügel fielen ab und der aufwallende Staub verdeckte einen Augenblick lang den Inhalt der Figur. Ich wedelte ihn hustend weg, dann erblickte ich einen langen, zusammengefalteten Papierstreifen, der dunkel und weich wie feuchte Baumrinde war. Als ich ihn herauszog, um ihn mir näher anzusehen, schimmerte er auf einmal matt und faltete sich von selbst dreimal auf. Aber er war weder beschrieben noch bemalt – was sollte das? Ich fuhr den welligen Rand mit dem Finger nach.
Da schwebte der Streifen plötzlich in die Höhe, loderte bläulich auf und verwandelte sich in eine dicke schwarze Rauchsäule. Ein markerschütternd schriller Schrei zerriss mir fast das Trommelfell und zwang mich in die Knie.