35

http://www.dcode.fr/tools/maya-numerals/images/1.png

Erstens: In der Höhle war eine Frau. Zweitens: Die Frau war klein, sogar noch kleiner als meine Mutter. Genau wie Niemand trug sie ein rotes Gewand und sie stand mit dem Rücken zu mir auf einem wackligen Hocker. In der Hand hielt sie einen großen – ich berichtige mich: riesengroßen – Steinhammer, mit dem sie auf irgendetwas eindrosch, dass die Funken nur so flogen.

Ich duckte mich, als ein Funke über meinen Kopf hinwegzischte und im Wasser verdampfte.

»Geh lieber da weg«, knurrte sie. Rums! Der nächste Funke.

»Du bist die Funkenschlägerin!« Wer sonst sollte sie sein? Ich hatte sie tatsächlich gefunden. Na schön, vielleicht war Niemand doch nicht nur eine Nervensäge. Dann fiel mir ein, dass ich die blöde Maske noch aufhatte.

Als ich sie absetzen wollte, sagte die Frau: »Das würde ich an deiner Stelle lieber lassen.«

Hä? Hatte sie Augen im Hinterkopf? »Warum denn?«

»Weil dir das Licht die Augen verschmoren kann.«

Das war ein Argument. Ich ließ die Maske auf.

Ihre roten Haare waren verfilzt und sie hatte lauter Silberglöckchen hineingeflochten. Jetzt drehte sie sich zu mir um. Mit ihrem Gesicht stimmte etwas nicht. Ihre Nase war nach rechts verrutscht und das rechte Auge saß tiefer als das linke. Mitten auf der Stirn hatte sie eine dicke Beule, als hätte eine Monstermücke sie gestochen. »Ich dachte schon, du tauchst gar nicht mehr auf«, sagte sie.

»Du … du bist die …«

»Ja, ja«, blaffte sie ungeduldig. »Komm endlich her, damit ich sehen kann, ob das Ding passt.«

»Ob was passt?«

Sie verdrehte ein Auge, aber das andere bewegte sich nicht mit, als wäre es festgeklebt. Als ich näher trat, konnte ich einen Blick auf den Steinblock werfen, auf den sie mit dem Hammer eingeschlagen hatte. Der Block erinnerte ein bisschen an einen Opferaltar und darauf lag ein Gehstock, aber was für einer! Er bestand aus gehämmertem Silber und hatte einen Griff aus Jade. Er sah einfach … supercool aus! Wenn ich damit auf die Straße gegangen wäre, hätten mich die Leute angesprochen und gefragt, wo man so etwas kaufen konnte.

»Steh nicht dumm rum – nimm ihn in die Hand!« Sie schüttelte ungeduldig den Kopf, aber seltsamerweise läuteten die Glöckchen dabei nicht.

Als ich nach dem Stock greifen wollte, fing er plötzlich zu summen an, doch das Geräusch verstummte sofort wieder, als ich die Finger um den Griff schloss. Ich weiß es nicht mehr genau, aber ich glaube, ich hielt den Atem an. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass das hier ein bedeutsamer Augenblick war. Dass das, was als Nächstes geschehen würde, entscheidend war. Der Stock war federleicht und warm und ich hätte schwören können, dass er sanft vibrierte. Ich stellte ihn auf den Boden, drehte mich um und machte einen Schritt. Es war … der Wahnsinn!

Das gibt’s doch nicht! Mein Humpeln war … Es war weg! Erst stockte mir das Herz und ich war fassungslos, dann ging ein breites Grinsen über mein Gesicht.

Die Frau beobachtete mich. »Na los, geh noch ein paar Schritte.«

Ich wäre am liebsten den ganzen Tag so herumgegangen! »Aber wie …? Das ist toll!«

Sie nickte nur. »Der Stock kann noch mehr. Er ist zugleich ein Speer und gehorcht deinem Befehl.«

Während sie sich weiter über seine magischen Eigenschaften ausließ, betrachtete ich den Stock von allen Seiten.

»Und wie verwandelt man ihn in einen Speer? Gibt es irgendwo einen Knopf dafür?«

»Musst du erst einen Knopf drücken, damit du Arme und Beine bewegen kannst?«

War die Frage ernst gemeint?

Aber sie redete schon weiter. »Der Stock ist jetzt mit dir verbunden. Ich habe Blitze hineingehämmert, ihn mit uralter Magie aufgeladen und mit Götterblut getränkt, genau genommen mit dem Blut deines Vaters. Jetzt ist der Stock nahezu unzerstörbar, Zane Obispo.«

»Mit … mit dem Blut meines Vaters?«

»Es ist das allererste Mal, dass er welches gespendet hat. Zwar nur einen Tropfen, aber weil er der Schöpfergott ist, genügt das.«

(Sorry, Mat. Bestimmt war ihr klar, dass du ebenfalls ein Schöpfergott bist.)

»Kommen wir zum großen Finale!«, sagte die Frau. »Such dir einen Blitz aus.«

Unwillkürlich sah ich mich um. Aus den Felswänden ragten große Vorsprünge, sodass die Höhle noch beengter wirkte. »Äh … wo soll ich denn hier einen Blitz hernehmen?«

»Wie wär’s mit dem Wasser?« Sie sprach jetzt so laut, dass die Wände bebten.

Ich drehte mich nach dem Becken um, dann sah ich wieder sie an. Wollte sie mich verarschen?

»Nun mach schon!« Sie schwenkte den Hammer, als wollte sie ihn mir gleich auf den Schädel donnern. »Sonst funktioniert er nicht.«

Wer funktioniert sonst nicht? Der Stock? Ich scheute mich davor, in das brodelnde Wasser zu fassen, und das entging ihr nicht.

»Glaubst du etwa, ich habe mir so viel Mühe gegeben und Funken geschlagen wie schon seit Jahrhunderten nicht, damit du dir jetzt in die Hose machst?«

Das saß.

Ich überwand mich, ging zu dem Becken hinüber und kniete mich hin. Die Funken schossen durchs Wasser wie flinke Fische. »HALT!«, brüllte die Frau, als ich die rechte Hand ins Wasser tauchen wollte.

»Was … was ist denn?«

Die Funkenschlägerin stieg von ihrem Hocker. »Hast du irgendwelche Allergien?«

»Allergien?!«

»Gegen Blitze? Oder gegen elektrische Ladung?«

»Äh … keine Ahnung. Ich glaube nicht.«

»Dann ist es ja gut.« Sie nickte und ich tauchte die Hand ein.

Meine Haut wurde heiß, aber es tat nicht weh. Die Funken sausten mir durch die Finger. Dann hielten sie plötzlich an – alle, bis auf einen. Der glitt von selbst in meine Hand und ich zog sie rasch heraus.

Der Funke fühlte sich wie ein ofenwarmer, in Alufolie gewickelter Burrito an, bloß dass er pulsierte, als sei er lebendig. Die Funkenschlägerin begutachtete ihn. »Ja, der könnte gehen«, brummelte sie, als sei jeder Funke anders – was ja vielleicht auch der Fall war. Dann kletterte sie wieder auf ihren Hocker. »Komm rauf.«

»Wozu?«, fragte ich misstrauisch.

»Damit ich den Blitz in dein Bein hämmern kann.«

Vor lauter Verblüffung hätte ich beinahe laut gelacht. »Wie bitte? Du willst mit dem Hammer auf mein Bein einschlagen?«

»Das habe ich doch gesagt. Sperr die Ohren auf.«

»Ich … ich glaube, das ist keine gute Idee. Ich humple sowieso schon und …«

»Ich war schon immer gegen die Verbindung von Göttern und Menschen! Man weiß nie, was dabei herauskommt.« Sie legte den Hammer weg. »Dein Vater ist das Herz des Himmels, Zane.«

»Weiß ich.«

»Er ist sehr mächtig.«

»Mhm.« Auch das war mir bekannt.

Sie musterte flüchtig mein zu kurzes Bein. »Er wird auch ›Schlangenbein‹ genannt.«

»Stimmt. Das Schlangenbein hat er mir vererbt.« Ich schwang mein Bein hin und her.

Sie kniff die Lippen zusammen. »Ein typischer Mensch würde annehmen, dass so ein Schlangenbein nutzlos ist, aber für einen Gott ist die Kraft der Schlange unschätzbar wertvoll.«

»Du willst mir erzählen, dass mein Schlangenbein wertvoll ist?«

»Dein Bein«, erwiderte sie nachdrücklich, »ist der wertvollste Teil von dir und nicht etwa der schwächste, wie du glaubst. Dein Bein ist der Schlüssel zu deinen magischen Fähigkeiten und ein Beweis für deine göttliche Herkunft.«

Die Frau hatte sie doch nicht alle! »Als Nächstes behauptest du wahrscheinlich, ich bin der Sturmläufer.«

»Warum, bei allem, was heilig ist, sollte ich so etwas behaupten?«

»Weil ich der Sturmläufer bin!«

In ihren Augen leuchtete es auf. »Den Namen hast du von einer Göttin, stimmt’s?«

»Kann sein«, antwortete ich absichtlich unbestimmt.

»Euch Menschen fällt es oft schwer, die Sprache der Götter richtig zu deuten. ›Sturmläufer‹ kann auch heißen, dass du den Sturm in dir trägst. Dass er sozusagen durch dich hindurchläuft.«

Ich machte ein verständnisloses Gesicht.

Sie verpasste mir eine leichte Kopfnuss. »Kapierst du, was ich sagen will, Sturmläufer?«

Allmählich wurde ich sauer. »Bitte noch mal in Kurzform, wenn das nicht zu viel verlangt ist.«

»Du … bist … der Sturm«, sagte sie überdeutlich, als sei ich total begriffsstutzig.

Aha. Ich war immer noch nicht schlauer. Aber als ich schon fragen wollte: »Und was zum Teufel bedeutet das?«, hob sie die Hand.

»Der Sturm schlummert in dir. Wenn ich den Blitz in dein Bein gehämmert habe, erwacht er, fegt wie ein magischer Orkan durch dich hindurch und stellt fest, worin deine vorherrschende Macht besteht.«

»Meine vorherrschende Macht?«

»Dein Vater ist für Stürme, Feuer und Wind zuständig. Hörst du mir überhaupt zu? Zieh keinen Flunsch! Wir müssen herausfinden, ob er seine Macht an dich weitervererbt hat.«

»Für Feuer und Wind ist er auch zuständig?«, wiederholte ich nur verwirrt.

»Hallo?!« Sie verlor allmählich die Geduld. »Dein Vater, der Schöpfer- und Zerstörergott … Schon mal gehört?«

»Okay, er ist ein hohes Tier, aber was bedeutet denn nun ›vorherrschende Macht‹?«

»Hurakan besitzt zahlreiche Fähigkeiten, aber er hat sie dir nicht alle vererbt, denn das hättest du nicht überlebt. Wir müssen herausfinden, welche deiner Fähigkeiten die wichtigste ist.«

So langsam konnte ich ihr folgen. »Meine Fähigkeiten haben also nicht unbedingt etwas mit Laufen zu tun?«

Sie schlug sich an die Stirn. »Wie gesagt, der Sturm läuft sozusagen durch dich hindurch. Du musst eins mit ihm werden, und darum muss ich dir den Blitz einhämmern. Aber dazu kommen wir gleich.« Sie schüttelte energisch den Kopf, doch die Glöckchen in ihrem Haar läuteten wieder nicht. »Genauso gut kann es sein, dass dir dein Vater nichts mitgegeben hat, was von Bedeutung ist. Der Sturm muss sich richtig entfalten können, und vielleicht bist du nicht das Gefäß, das so etwas aushält. Vielleicht bist du einfach zu schwach.«

Ich bin doch kein Gefäß! Und schwach war ich auch nicht.

»Willst du jetzt erfahren, worin dein Erbteil besteht, oder nicht?«

Ich gab mir einen Ruck und nickte.

»Dann komm endlich rauf und leg dich hin.«

Ich kletterte auf den Steinblock und legte mich auf den Rücken. Sie nahm den Funken in die eine Hand und packte mit der anderen den Hammer.

»Warte!«

»Was ist denn jetzt schon wieder?«

»Wird es wehtun?«

Sie ließ den Funken auf mein Bein gleiten und holte schwungvoll aus. »Und ob!«