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Als ich die Augen wieder aufschlug, war der Himmel ein pechschwarzes Meer und alle Geräusche waren so gedämpft, als hätte ich Watte in den Ohren.

Ich drehte mich ächzend auf die Seite und stellte fest, dass ich fast zwanzig Meter Abhang zurückgelegt hatte. Mein Schädel brummte, beide Handgelenke waren aufgeschürft und mein Ellbogen blutete. Dann fiel mir Rosie ein. Wo war sie?

Ich rappelte mich hoch und spähte mit zusammengekniffenen Augen in die Dunkelheit. »Rosie! Wo steckst du, mein Mädchen?« Ich war schon drauf und dran, wieder bergauf zu klettern, als ich es von unten jaulen zu hören glaubte. »Rosie!« Obwohl mir schwindlig war, humpelte ich hektisch bergab.

Unten hockte ich mich kurz hin, weil ich wieder zu Atem kommen musste, und da tauchte Mom auf. Sie fiel vor mir auf die Knie und packte mich so fest an den Schultern, dass es wehtat.

Tränen liefen ihr über die Wangen und sie sprudelte auf Spanisch los (»Gracias a Dios!« und so weiter) – wie immer, wenn sie sich aufregte.

»Ich habe den Ausbruch gehört!«, schluchzte sie. »Als ich nach dir sehen wollte, hast du nicht im Bett gelegen und …« Ihr Griff wurde noch schmerzhafter. »… ich hatte dir doch verboten, hierherzukommen! Und dann auch noch mitten in der Nacht! Was hast du dir bloß dabei gedacht?!«

»Mir geht’s gut«, wehrte ich ab, setzte mich richtig hin und schaute zur Bestie hoch, die schwärzer als ein Wüstenkäfer war. Wie lange war ich bewusstlos gewesen? »Hast du Rosie gesehen?«, fragte ich hoffnungsvoll.

Aber Mom antwortete nicht, weil sie so damit beschäftigt war, sämtlichen Heiligen zu danken und mich zu umarmen.

Ich geriet in Panik. »Mom!« Ich machte mich los. »Wo ist Rosie?«

Doch da kam Rosie angelaufen. Sie trug meinen neuen Stock im Maul, und als ich ihn ihr abnahm, sprang sie an mir hoch und leckte mir das Gesicht, als müsste sie sich vergewissern, dass ich noch am Leben war. Ich zog sie an mich, schlang die Arme um ihre breite Brust und vergrub das Gesicht in ihrem Nackenfell, damit Mom nicht sah, dass mir ebenfalls die Tränen kamen.

»Ich hab dich lieb, du dummer, dummer Hund!«, flüsterte ich erstickt.

Bis der Krankenwagen, die Polizei, die Feuerwehr und die Kamerateams eingetroffen waren, dauerte es nicht lang. Kamen die etwa alle meinetwegen? Dann fiel mir wieder der gruselige Typ ein, der mit dem Flugzeug abgestürzt war. Er brauchte bestimmt dringender Hilfe als ich. Die Sanitäter hatten mich im Nu von Kopf bis Fuß untersucht, meine Schürfwunden verarztet und Mom mitgeteilt, dass ich möglicherweise eine Gehirnerschütterung hätte und man einen CT-Scan machen müsste. Das hörte sich teuer an.

»Mir geht’s gut!«, sagte ich rasch und stand zum Beweis auf.

Der Sanitäter musterte mich skeptisch von oben bis unten.

»Ich habe ein schwaches Bein«, setzte ich hinzu und stützte mich auf meinen Stock. Das klang besser als: »Ich bin behindert.«

Mom schüttelte nur den Kopf.

»Was stimmt denn nicht mit deinem Bein?«, wollte der Sanitäter wissen.

»Sein rechtes Bein hat das linke noch nicht ganz eingeholt«, sagte Mom.

In Wahrheit wusste kein Mensch, was mit mir los war. Bis jetzt hatten alle Ärzte gerätselt, warum mein rechtes Bein nicht genauso schnell gewachsen war wie das andere. Vielleicht war ich ja ein medizinisches Wunder und konnte im Fernsehen auftreten. Ich wäre jedenfalls lieber ein Wunder gewesen als ein Rätsel.

Zum Glück hatte Mom nicht auch noch meinen rechten Fuß erwähnt. Der war nämlich zwei Größen kleiner als der linke, weshalb sie mir immer zwei Paar Schuhe auf einmal kaufen musste.

Als Nächstes wollte die Polizei mit mir sprechen. Nachdem ich Officer Smart (sie hieß wirklich so!) erzählt hatte, was passiert war, sagte sie: »Das Flugzeug ist also in den Krater gestürzt, richtig?«

Ich nickte und hielt dabei Rosie fest, die auf- und abtrippelte und den Vulkan anjaulte. »Alles gut, mein Mädchen«, sagte ich leise.

Officer Smart setzte die Befragung fort. »Hattest du den Eindruck, dass mit dem Flugzeug etwas nicht stimmte? Hat es komische Geräusche von sich gegeben? Oder hast du Rauch gesehen?«

Mir war nichts aufgefallen – außer den rot glühenden Augen und Furcht einflößenden Zähnen des Piloten. Aber das hatte ich mir bestimmt bloß eingebildet …

»Und?«, hakte Officer Smart nach.

»Ich weiß nicht mehr.« Je weniger ich sagte, desto besser. Wenn ich berichtete, was ich wirklich gesehen hatte, kam ich um eine Gehirndurchleuchtung garantiert nicht herum. Aber eine Frage brannte mir auf der Zunge. »Was ist denn aus dem Piloten geworden?«

Officer Smart schielte zu Mom hinüber, als müsste sie erst meine Mutter um Erlaubnis bitten, mir die schreckliche Wahrheit mitteilen zu dürfen.

»Wir haben ihn noch nicht gefunden«, erwiderte die Polizistin dann. »Aber ein Suchtrupp ist schon unterwegs.«

Der Pilot konnte den Absturz unmöglich überlebt haben, aber … Moment mal! Ein Suchtrupp? Was, wenn sie meine Höhle entdeckten? Dann würde das Fernsehen darüber berichten und lauter Forscher würden herkommen und so tun, als gehörte mein Vulkan ihnen!

Ein Auto kam angefahren. Es hielt und Miss Cab und Mr O. stiegen aus. Mr O. hakte Miss Cab unter und beide tappten durch die nächtliche Wüste. Sie versteckte ihre blinden Augen hinter ihrer großen Chanel-Sonnenbrille, er trug wie immer seinen breitkrempigen Cowboyhut, um seine Glatze zu verdecken. Die beiden wirkten wie ein altes Ehepaar, was aber zu Mr O.s großem Bedauern nicht der Fall war. Er fragte mich immer über Miss Cab aus: »Was ist ihre Lieblingsfarbe? Spricht sie manchmal über mich? Glaubst du, sie würde mal mit mir ausgehen?«

Eines Tages hatte ich Miss Cab tatsächlich gefragt, ob sie sich vorstellen könnte, Mr O.s Freundin zu werden, aber sie hatte mich angeschaut, als hätte ich von ihr verlangt, in eine Feuergrube zu springen. Weil ich Mr O. nie davon erzählt hatte (damit er nicht vor lauter Kummer noch dicker und kahlköpfiger wurde), hatte er die Hoffnung noch nicht aufgegeben und schmiedete andauernd Pläne, wie er Miss Cab dazu überreden könnte, mit ihm essen zu gehen. Das imponierte mir irgendwie.

»Zane!« Mr O. riss besorgt die braunen Augen auf. »Ich habe die Flammen gesehen. Ist alles in Ordnung? Oder hast du dich verbrennt?«

»Es heißt ›verbrannt‹!«, brummelte Miss Cab und rückte ihre Brille zurecht.

Offenbar habe ich mich gerade noch rechtzeitig weggerollt, dachte ich.

Mom tätschelte mich. »Jetzt kann ihm nichts mehr passieren, den Heiligen sei Dank.«

»Es gehört sich nicht, sich mitten in der Nacht aus dem Haus zu schleichen, Zane«, sagte Miss Cab streng. »Was hast du dir dabei gedacht?« Sie wandte sich nach dem Vulkan um und ich erkannte trotz der riesigen Sonnenbrille, dass sie finster dreinblickte. Dabei tastete sie nach dem Mayaanhänger aus Jade, den sie an einem Lederband um den Hals trug. Sie hatte mir mal erzählt, dass in dem Anhänger ein Schutzgeist hauste. Wenn ich ein Schutzgeist gewesen wäre, hätte ich mir ein spannenderes (und nicht so winziges) Zuhause ausgesucht.

Officer Smart wollte jetzt unter vier Augen mit Mom sprechen und die beiden entfernten sich ein paar Meter von uns.

Worum es wohl bei dem Gespräch ging? Doch da nahm mich Miss Cab beiseite. »Ich hatte dich doch gewarnt, dass dieser Ort muy peligroso ist. Halte dich lieber davon fern!«

»Der Vulkan ist nicht gefährlich«, widersprach ich und ergänzte in Gedanken: Jedenfalls war er das bis heute Nacht nicht.

Miss Cab ließ sich nicht beirren. »Hier lauert das Böse.« Sie rückte wieder ihre Brille zurecht. »Das spüre ich ganz deutlich. Komm nicht mehr hierher.«

Wenn sie wüsste, dass ich sogar einen Eingang entdeckt hatte! Zum Glück waren ihre hellseherischen Fähigkeiten ziemlich unzuverlässig. Es wäre echt nervig gewesen, wenn sie alles vorher gewusst hätte.

»Haben Sie den Flugzeugabsturz vorhergesehen?«, fragte ich, um sie abzulenken.

In diesem Augenblick riss Rosie sich los und sauste davon. Obwohl sie nur drei Beine hatte, war sie so schnell wie ein geölter Blitz. Ich lief ihr hinterher und ärgerte mich, dass ich nicht richtig rennen konnte, aber immerhin war ich ein superschneller Humpler. »Rosie!«

»Zane!«, rief Mom mir nach.

Als ich an dem Suchtrupp vorbeikam, der sich über den Abhang verteilt hatte, passte ich auf, dass mich niemand bemerkte. Ich wollte auf die andere Seite des Bergs, denn in diese Richtung war Rosie verschwunden. Als ich dort ankam, war kein Mensch zu sehen, aber aus dem Krater der Bestie stieg Rauch auf, als wäre sie erwacht. Rosie stand weiter unten und bellte wie verrückt. Ich humpelte zu ihr hin. Worüber regte sie sich so auf? Ich packte sie am Halsband und folgte ihrem Blick.

Und traute meinen Augen nicht. Mein Hirn musste wohl doch etwas abbekommen haben. Denn das, was ich sah, konnte nur eine Halluzination sein.

Mir war immer noch nicht klar, was ich eigentlich im Cockpit des Flugzeugs gesehen hatte. Einen Außerirdischen? Ein Monster? Einen betrunkenen Piloten in einem echt guten Halloweenkostüm? Wie auch immer – auf jeden Fall konnte niemand so einen Absturz überleben. Trotzdem kauerte der Typ jetzt zwanzig Meter von mir entfernt hinter einem Busch und scharrte wie ein Tier in der Erde. Aus der Nähe sah er noch abstoßender aus und er war eindeutig weder ein Außerirdischer noch trug er ein preisverdächtiges Kostüm. Er … es … sah wie die Ungeheuer aus meinem Mythenbuch aus, nur noch hässlicher. Im Mondlicht wirkte seine bleiche Haut graublau und sein aufgedunsener Körper war mit dunklen Haarbüscheln bewachsen. Die knorpeligen Ohren hingen ihm bis auf den muskulösen Nacken. Das Wesen hob den Kopf und starrte mich mit lidlosen Glubschaugen an. Dann stand es auf (es war mindestens drei Meter groß) und kam schwerfällig auf mich zugeschlurft. Wie hatte dieses Riesenvieh in das kleine Flugzeug gepasst?

Das Wesen fauchte etwas, das sich wie »Ah! Puh!« anhörte, aber weil ich so durcheinander war, verstand ich es nicht richtig.

Ich wollte schreien, brachte aber keinen Laut heraus.

Dicht über meinem Kopf kreiste plötzlich eine riesige schwarze Eule mit gelb glühenden Augen. Ich musste mich ducken, um ihren Krallen auszuweichen.

Dann hatte Mom mich eingeholt. »Was war denn los, Zane? Warum bist du auf einmal weggerannt?«

»Geh weg, Mom!« Warum hatte sie keine Angst?

Das Ungeheuer riss den Furcht einflößenden Rachen auf. Gelber Schleim tropfte heraus.

Rosie heulte in den schrillsten Tönen und ich packte meinen Stock. Wenn sich das Vieh auf Mom stürzen würde, würde ich ihm die Stockspitze ins Auge rammen.

Im selben Augenblick stieß das Monster einen dumpfen Laut aus und löste sich in einen dünnen Rauchfaden auf, der sich zum Himmel emporkräuselte.

Mein Herz schlug zum Zerspringen. »Hast du … hast du das gesehen?«

»Was denn?« Mom befühlte meine Stirn. »Du machst mir Angst, Zane. Vielleicht sollten wir dich doch im Krankenhaus untersuchen lassen.«

»Mit meinem Kopf ist alles in Ordnung. Da war … nur ein Kojote.«

Natürlich war nichts in Ordnung. Nicht mal ansatzweise.

Ich streichelte Rosie, um sie zu beruhigen – nein, um uns beide zu beruhigen. Wenigstens hatte mein Hund das Ungeheuer auch gesehen. Aber warum Mom nicht?

»Necesitas Ruhe!«, sagte sie energisch. »Du gehörst ins Bett.«

Sobald Mom rausgegangen war, nahm ich mein Mayabuch vom Nachttisch. Ich entdeckte eine Abbildung, die dem sonderbaren Wesen sehr ähnlich sah, bis hin zu den Haarbüscheln und den Glubschaugen. Sicherheitshalber las ich die Bildunterschrift zweimal. »Ein Dämon der Unterwelt Xib’alb’a«, teilte ich Rosie dann flüsternd mit. »Aber wie kann das sein? Das sind doch alles bloß erfundene Geschichten!«

Sie legte mir die Pfote aufs Bein und winselte.

»Ja, ich find’s auch gruselig, mein Mädchen.«

Ich schob das Buch unters Bett und schlüpfte unter die Decke. Rosie knurrte.

»Hast recht«, sagte ich, stand noch einmal auf, bückte mich nach dem Buch und ging zur Kommode. Mom bestand darauf, dass ich immer ein Fläschchen Weihwasser in der Schublade hatte. Ich spritzte ein paar Tropfen auf die Abbildung des Dämons, schob das Buch dann unter den Schmutzwäschehaufen im Kleiderschrank und machte die Schranktür zu.

Als ich mich wieder hinlegte, kuschelte sich Rosie an mich. Ihr Herz klopfte wie verrückt. Sie fürchtete sich immer noch.

Natürlich konnte ich nicht einschlafen. Den Flugzeugabsturz mitzuerleben, war schrecklich gewesen. Die Vorstellung, Rosie hätte verbrennen können, noch schrecklicher. Und dann der Anblick des Ungeheuers – der war so verstörend gewesen, dass ich es nicht in Worte fassen konnte.

Dazu kam Moms rätselhaftes Verhalten: Wieso hatte sie den Dämon nicht auch gesehen? Was wäre passiert, wenn er uns angegriffen hätte? Hätten Rosie und ich Mom dann verteidigen können?

Ich kniff die Augen fest zu, aber das Bild des unheimlichen Wesens wollte einfach nicht verschwinden.

Nur eines ängstigte mich noch mehr: Mit meinem verkrüppelten Bein hätte ich nie im Leben schnell genug vor dem Monster fliehen können.