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Als ich am nächsten Morgen in den Heiliggeist-Bus stieg, hatte ich scheußliche Kopfschmerzen und sah alles verschwommen. Das kommt davon, wenn man Albträume hat – vor allem, wenn in diesen Träumen der eigene Hund plötzlich sprechen kann und einen warnt: Du bist in Gefahr!

Wenn damit die neue Schule gemeint war, war die Warnung berechtigt. Im Bus saßen bereits acht Kinder. Das machte insgesamt sechzehn Augen. Rosie hatte mich bis zur Ecke begleitet, und als ich einstieg, hockte sie sich hin und heulte so jämmerlich, dass ich mich gleich noch zehnmal elender fühlte. Aber das Getuschel der anderen Schüler war schlimmer.

Was ist denn mit seinem Bein?

Warum geht er am Stock?

Wieso hat sein Hund nur drei Beine?

Bestimmt hat er das vierte abgehackt und gegessen!

Ich lockerte die blöde karierte Schulkrawatte und zerrte mein weißes Hemd aus der Hose, wobei ich stur aus dem Fenster schaute. Beim Frühstück hatte ich Mom klarzumachen versucht, dass ich nach dem Flugzeugabsturz an einer posttraumatischen Belastungsstörung litt, und ich hatte sie schon fast rumgekriegt … als Miss Cab reingekommen war, weil sie mir alles Gute wünschen wollte. Sie hatte behauptet, ich sähe in meiner neuen Schuluniform »hinreißend« aus, und Mom davon überzeugt, dass die Schule mir guttun würde, weil sie mich von meinen »verrückten Einfällen« ablenken würde. Schon klar. Den ganzen Tag unter griesgrämigen Nonnen zu verbringen, würde mir garantiert helfen, die gruselige Fratze des Monsters zu vergessen.

Die Fahrt zur Schule dauerte zwanzig Minuten. Als wir angekommen waren, hatte ich noch zehn Minuten, um mir meinen Stundenplan abzuholen, und weitere fünf Minuten, um dazu verdonnert zu werden, mich beim Direktor, Pater Baumgarten, zu melden. Ja, ich hatte Mom versprochen, mir Mühe zu geben, Freunde zu finden und Ärger aus dem Weg zu gehen. Aber wenn einen der Bestimmt-hat-er-seinem-Hund-das-Bein-abgehackt-Typ gegen einen Spind schubst und einem »aus Versehen« den Ellbogen in den Magen rammt und fünf andere Vollidioten sich darüber totlachen, würde ja wohl jeder dem Mistkerl den Stock über den Schädel hauen. Natürlich nur »aus Versehen«. Wenn ich mich nicht gewehrt hätte, hätten sie mich den Rest des Schuljahrs tyrannisiert. Hinterher lachte jedenfalls keiner mehr.

Vor dem Büro des Direktors klopfte ich mit dem Stock auf den Boden, glotzte das gerahmte Papstfoto an der Wand an und überlegte, wie ich Mom erklären sollte, dass ich einen anderen Jungen geschlagen hatte – als sich das schönste Mädchen des Planeten (oder sogar des Universums) neben mich setzte. Sie duftete nach Regen und ihre Haut schien von innen heraus zu leuchten. Sie trug schwarze Leggings, eine Kapuzenjacke und schwarze, abgewetzte Schnürboots, die aussahen, als hätten sie schon so manchen Kampf überstanden. Eine Auftragskillerin, die großen Wert auf Hautpflege legte – so könnte man sie am ehesten beschreiben. Und wieso trug sie eigentlich keine Schuluniform?

»Hi«, sagte sie und strich sich eine dunkle Haarsträhne hinters Ohr.

Mein Magen schlug einen Purzelbaum. Ich war es nicht gewohnt, mit schönen Mädchen zu reden. Richtigstellung: Ich war es nicht gewohnt, überhaupt mit Mädchen zu reden. Ich lehnte meinen Stock unauffällig in die Ecke und wedelte mit der Hand. Sagen konnte ich nichts, weil mir die Stimme wegblieb.

»Ich bin Brooks«, sagte sie ihrerseits, ohne eine Miene zu verziehen.

Mein Onkel Hondo hatte mir mal erklärt, dass man Mädchen am besten beeindruckte, indem man sie gar nicht beachtete, darum nickte ich nur flüchtig in ihre Richtung und betrachtete dann ein Plakat an der Wand. Es kündigte irgendeine Veranstaltung an, die übermorgen stattfinden sollte. Auch ein Foto von Pater Baumgarten prangte darauf. Er trug eine alberne grüne Sonnenbrille und grinste so breit, dass man sämtliche Zähne sah.

AN ALLE FANS DER SONNENFINSTERNIS: IHR SEID HERZLICH EINGELADEN, DIE TOTALE SONNENFINSTERNIS MIT EUREN MITSCHÜLERN ZUSAMMEN ZU ERLEBEN. WIR TREFFEN UNS UM 17 UHR. SCHUTZBRILLEN SIND IM BÜRO ERHÄLTLICH.

»Hast du auch einen Namen?«, fragte Brooks.

Doch, schon. Ich nickte ihr wieder zu. Ich hab bloß einen Knoten in der Zunge.

»Bist du immer so unhöflich?«

Nein. Sonst nie. Nur wenn mich hübsche dunkelhaarige Mädchen ansprechen. Ich drehte mich zu ihr um, räusperte mich verstohlen und brachte »Zane« heraus.

»Du bist neu hier.«

»Heute ist mein erster Tag. Und du? Wieso trägst du keine Uniform?«

Als sie lächelte, flammten eine Million Watt auf. »Nicht schlecht!«, sagte sie. »Dein erster Tag, und du musst schon zu Baumgarten? Wetten, das ist ein Rekord?«

Ich setzte mich gerade hin. »Und was hast du angestellt?«

Sie lehnte sich total entspannt zurück, als müsste sie nicht gleich dem Direktor Rede und Antwort stehen.

»Erzähl ich dir später«, erwiderte sie dann und mir stockte kurz das Herz. Später? Das hieß, dass ich sie wiedersehen würde. Volltreffer!

Mein Blick fiel auf den gelben Hefter, den sie auf dem Schoß hatte. Sie hatte etwas draufgekritzelt, aber keine Herzchen oder niedliche Kätzchen oder ihren Namen in verschnörkelten Großbuchstaben. Nein, sie hatte ein haariges Monster mit Glubschaugen gezeichnet. Ich fiel fast vom Stuhl. Das Ungeheuer von letzter Nacht? Ich blinzelte und sah noch einmal hin. Nein, meine Augen hatten mir keinen Streich gespielt. Das gezeichnete Monster sah noch ganz genauso aus. Ich wollte Brooks eben danach fragen, als Pater Baumgarten die Tür öffnete und mich hereinwinkte.

Mist! Brooks hatte mich so in ihren Bann geschlagen, dass ich nicht mehr an meinen blöden Stock gedacht hatte. Wenn sie mich humpeln sah, würde sie bestimmt nie wieder mit mir reden wollen.

Ich tat das Erstbeste, was mir einfiel. Ich schob meinen Schulrucksack mit dem Fuß vor mir her und tat dann so, als sei ich über die Türschwelle gestolpert. Lieber sollte sie mich für einen Tollpatsch halten als für Sir Hinkefuß.

Die Unterredung mit Pater Baumgarten brachte mir zehn Rosenkränze und eine Woche Nachsitzen ein. Außerdem würde er Mom anrufen und ich musste mich bei dem Jungen entschuldigen, den ich geschlagen hatte. Ein echt beschissener erster Tag. Der einzige Lichtblick war Brooks. Für die Bekanntschaft mit ihr hatte sich das alles gelohnt. Leider war sie schon weg, als ich den letzten Rosenkranz aufgesagt hatte, und ich traf sie auch nicht wieder.

Aber wie kam es, dass sie den Unterweltdämon auf ihren Hefter gemalt hatte? Vielleicht besitzt sie ja das gleiche Mayabuch wie ich.

Doch es sollte nicht nur bei einem Rätsel bleiben. Nach dem Abendessen gab ich Rosie draußen ihr Futter, dann ging ich wieder rein und schaute mir zusammen mit Hondo und zwei seiner Kumpel den großen Wrestlingkampf zwischen dem »Würger« und dem »Irren« an. Zum Glück hatte Mom heute Spätdienst, sonst hätte sie Hondo bestimmt an den Zehen aufgehängt, weil er gegen die Regel verstieß, in meiner Anwesenheit kein Bier zu trinken und keine Zigarren zu rauchen.

Er leckte sich die orangefleckigen Finger ab, dann hielt er mir die halb leere Cheetos-Tüte hin. »Willst du auch?«

Man hätte denken sollen, dass Hondo aufgrund seiner Ess-, Trink- und Qualmgewohnheiten total fertig aussehen müsste, aber mit seinen knapp einundzwanzig Jahren wirkte er wie siebzehn und war der reinste Schrank: mächtiger Bizeps, Bauchmuskeln aus Stahl und eiserner Griff. Er hatte selbst Wrestler werden wollen und in der Highschool sogar mal eine Goldmedaille gewonnen, aber dann hatte er seinen Traum begraben müssen (soll heißen, er konnte sich das College nicht leisten). Jetzt arbeitete er als Hausmeister in einer Bank. Ich hatte ihn mal gefragt, was er denn gern studiert hätte, und er hatte grinsend geantwortet: »BWL. Dann müsste ich die Bank jetzt nicht putzen, weil sie nämlich mir gehören würde.«

Nachdem ich vorletztes Jahr an meiner alten Schule verprügelt worden war, hatte er mir eine Menge Wrestlingtricks beigebracht, zum Beispiel den Double Leg Takedown, den Wheelbarrow und den Gutwrench. Vor allem aber hatte er mich immer wieder zu Boden geworfen und eine jubelnde Menge nachgeahmt, als sei es eine Heldentat, mich, den »Lahmen«, zu besiegen.

»Das Junkfood bringt dich noch mal um«, sagte ich jetzt.

Einer seiner Freunde schnaubte verächtlich und schaufelte sich die nächste Handvoll Flips mit künstlichem Aroma in den Mund. »Wir essen ja Salsa-Dip dazu. Da ist Gemüse drin, Tomaten und so.«

Ich verdrehte die Augen. »Tomaten sind Beeren. Also eigentlich Obst.«

Hondo zuckte nur die Achseln. »Gibt schlimmere Todesarten.« Das war sein Standardspruch.

»Zum Beispiel?« Ich hob ein paar leere Bierdosen auf und warf sie in den Mülleimer.

Er steckte sich den nächsten Cheeto in den Mund. »Zum Beispiel, wenn man in einem Säurefass aufgelöst wird.«

Es klingelte. Ich ging zur Tür, weil ich dachte, es wäre noch einer von Hondos Freunden, aber ich irrte mich.

Es war Brooks.

»Wa-was machst du denn hier?«, stotterte ich verdutzt. Woher wusste sie, wo ich wohnte?

Sie musterte meinen Stock. So gründlich, dass ich am liebsten im Flurläufer versunken wäre. Dann sah sie mich mit ihren dunklen Augen an und sagte: »Der ist supercool.«

»Ich habe … ich bin …« Meine Gedanken überschlugen sich. Wie sollte ich ihr das mit meinem Bein erklären, ohne mich als Krüppel zu outen?

»Ich weiß alles über dich«, sagte sie, beugte sich vor und setzte gedämpft hinzu: »Ich hatte doch versprochen, dass wir später weiterreden. Jetzt ist später.«