Vorwort

I ch prophezeie jetzt schon, dass es Menschen geben wird, die unterstellen werden, ich hätte mir die nachfolgenden Geschichten ausgedacht, hätte den Protagonisten nicht nur ihre eigenen, sondern auch meine Worte in den Mund gelegt, wäre ihnen womöglich gar nicht begegnet, hätte alles erdichtet, ersonnen und erfunden.

Manchmal frage ich mich selbst, ob das wirklich alles so passiert sein kann.

Aber nein, ich ziehe die Frage zurück. Urteilen Sie selbst, und verlassen Sie sich dabei auf Ihr Bauchgefühl und Ihren gesunden Menschenverstand. Und ganz gleich, zu welchem Urteil Sie kommen: Ich nehme es Ihnen nicht übel.

*

Ich bin bei einem großen Medienunternehmen beschäftigt und assistiere dort dem Leiter der Haustechnik. Wir arbeiten in einem 60 Meter hohen Büroturm, in dem rund tausend Menschen tagtäglich ein und aus gehen.

Die Tätigkeit ist anspruchsvoll und beschränkt sich nicht auf das Wechseln von Glühlampen, LED -Panels und Leuchtstoffröhren. Wir führen Wartungsarbeiten durch, kümmern uns um streikende Aufzüge und defekte Klimaanlagen, reparieren zickende Rauchmelde-, Brandschutz- und Alarmanlagen, programmieren neue Zugangskarten fürs Gebäude, und wenn wir mal nicht weiterwissen, dürfen wir Fremdfirmen beauftragen.

Ich mag den Job. Er ist abwechslungsreich, und man kommt mit vielen Menschen in Kontakt. Am liebsten halte ich mich in den Redaktionsräumen auf. Ich liebe die wuselige Atmosphäre bei den Onlinern, fühle mich aber auch bei den vergleichsweise stillen Leuten aus dem Print-Ressort wohl.

Momentan bin ich mit der jährlichen Überprüfung der Rauchwarnmelder beschäftigt.

Auf dem Flur laufe ich der Personalchefin über den Weg. Auch in ihrem Büro müssen die Batterien der Geräte gewechselt werden. Ich stelle mich mit meinem Namen vor und frage sie, wann der Wartungstermin am besten passen würde.

Irritiert wiederholt sie meinen Namen. Weil ich die Fragezeichen in ihrer Stimme wahrnehme, bestätige auch ich ihn noch mal.

Sie mustert mich und ist plötzlich ausgesprochen liebenswürdig.

«Kommen Sie am besten morgen um 14:00 Uhr vorbei. Dann sprechen wir im Anschluss darüber, wie es bei Ihnen im Haus weitergehen könnte. Ich hatte gerade Ihre Unterlagen auf dem Tisch. Sehr beeindruckend!»

Ich denke, dass sie von der schriftlichen Ankündigung der Rauchmelder-Überprüfung spricht, und wundere mich über ihren Enthusiasmus.

Ich entgegne: «Danke, aber das ist ja keine große Sache.»

Sie lacht.

«Keine große Sache? Das ist das Erste, was Sie sich bei uns abtrainieren müssen: Bescheidenheit!»

Ich nicke verwirrt.

 

Am nächsten Tag erscheine ich mit meinem kleinen Werkzeugkoffer in der Personalabteilung. Erwartungsgemäß ist der Check der Brandmelder in wenigen Sekunden erledigt.

Die Personalchefin bittet mich in ihr Büro.

Ich stelle meinen Koffer ab und nehme an einem runden Tisch Platz. Sie schenkt mir ein Glas Mineralwasser ein.

«Also, ich habe mir Ihre Unterlagen noch mal angeschaut und sage es in aller Offenheit: Wir lassen Sie keinen einzigen Tag mehr in der Haustechnik arbeiten.»

Gedanken rasen durch meinen Kopf. Was habe ich falsch gemacht? Ist dies das Aus? Wovon soll ich nächsten Monat die Miete zahlen?

Sie fährt fort. «Sie gehören natürlich zu uns in die Redaktion!»

«Aber, ich, ich kann doch nicht. Ich weiß doch gar nicht …»

«Nix aber», unterbricht sie mich und schaut mich tadelnd an. «Ich habe es Ihnen schon mal gesagt! Sie dürfen nicht so bescheiden sein!»

Einerseits bin ich erleichtert, andererseits verstehe ich nicht, was da gerade passiert.

«Ich habe mir Ihre Unterlagen gründlich angeschaut und mit der Redaktion Rücksprache gehalten. Sie passen perfekt auf die Stelle! Mir fällt niemand ein, der sich besser mit Personen der Zeitgeschichte unterhalten könnte als Sie.»

Mir fallen auch gerade keine Namen ein, und deshalb nicke ich.

«Na, sehen Sie! Und jetzt gebe ich Ihnen für den Rest des Tages frei. Geben Sie den Kittel und das Werkzeug in der Haustechnik ab, fahren Sie nach Hause, und dann kommen Sie morgen wie ein normaler Mensch in die Redaktion.»

Sie lacht.

«Aber vorher müssen wir uns noch den Formalien zuwenden, aber das Prozedere kennen Sie ja, und das läuft eh nach den Vorgaben des Haustarifs.»

Sie legt mir einen Haufen Zettel und einen Kugelschreiber hin.

Die Buchstaben tanzen vor meinen Augen. Wie ferngesteuert unterschreibe ich die Verträge. Nur bei der Anschrift stutze ich:

«Das ist nicht meine Adresse.»

«Ach, das ist ja seltsam. Die habe ich aus den Unterlagen übernommen. Wie lautet denn Ihre aktuelle Adresse?»

Sie nimmt ein Lineal, streicht die Adresszeilen und fügt handschriftlich meine Daten ein. Dabei redet sie leise mit sich selbst: «Oder soll ich das noch mal gegenchecken? Ach egal, ich hab ihn bereits angekündigt, und außerdem gibt es ja immer noch die Probezeit.»

Am nächsten Tag melde ich mich wie besprochen in der Redaktion. Dort werde ich freudig vom Redaktionsleiter begrüßt.

«Da kommt ja die sehnsüchtig herbeigewünschte Verstärkung! Und was für ein Glücksgriff! Wir waren alle ganz ergriffen, als wir Ihre Unterlagen gesehen haben. Wahnsinn!»

Ich bin verwirrt. Einerseits will ich den offenkundigen Irrtum aufklären, andererseits will ich mein Gegenüber nicht enttäuschen.

Der Redaktionsleiter strahlt mich an:

«Wollen wir uns duzen? Gut! Heute kannst du dich noch etwas ausruhen, aber morgen geht es richtig los. Dann reist du nach Hamburg zu Markus Lanz. Viel Spaß und auf gute Zusammenarbeit! Ich freue mich auf das Interview!»