W er einen der Medienauftritte von Richard David Precht verfolgt, sollte frei von Neid sein. Die große schlanke Statur, das schulterlange Haar, die blitzenden Augen, der lässige Anzug, das aufgeknöpfte Hemd. Der erfolgreiche Philosoph ist eine Medienfigur von seltener Komplettheit. Er sieht wie ein Fotomodell aus, tritt souverän auf und ist von beeindruckender Eloquenz.
Der gefragte Schriftsteller, Publizist und Moderator kann sich vor Arbeit kaum retten. Er schreibt Bücher, hält Vorträge, sitzt in Talkshows und auf Podien, hat seine eigene Fernsehsendung und podcastet regelmäßig. Die Medien sind voll des Lobs und feiern ihn als «Bürgerphilosophen», «Universalgelehrten» und «Welterklärer».
Anlässlich seines neuen Buchs bietet eine PR -Agentur ein Interview mit dem begehrten Autor an.
Obwohl derlei Pressetermine oft ein Geschäft auf Gegenseitigkeit sind, sage ich augenblicklich zu und nehme mir vor, mich nicht instrumentalisieren zu lassen. Jedenfalls nicht über das unvermeidbare Maß hinaus.
Der Einladung liegt ein Landkartenausschnitt von Bayern bei. Der Treffpunkt ist ein Kloster in herrlicher Alleinlage am Tegernsee. Herr Precht halte dort einen Vortrag vor Managern. Ich dürfe den ganzen Tag mit ihm verbringen, so das Anschreiben der Agentur.
Wenige Tage später begebe ich mich auf die Reise nach Süddeutschland.
Es ist einer dieser wolkenlosen und klaren Spätsommertage, die den Blick in die Ferne zulassen. Das mittelalterliche Gebäudeensemble liegt auf einem Hochplateau. Von dort eröffnet sich die Aussicht über den Tegernsee und die dahinterliegende Bergkulisse. Wenn man etwas als eine Postkartenidylle bezeichnen kann, dann ist es diese Naturlandschaft.
Ich stelle das Auto auf dem Parkplatz ab, steige aus und muss schlucken. Zwischen all den gepflegten Limousinen und Luxuskarossen wirkt mein ungewaschener Kleinwagen wie ein Fremdkörper.
Vor der Abfahrt habe ich den Gebäudeplan studiert, den man der Einladung beigelegt hatte. Im Zentrum steht das historische Haupthaus mit Kreuzgang und Kapelle, dahinter das Schulhaus und eine Remise. Links und rechts schließen sich moderne Flügelbauten an. Hier werden die Übernachtungsgäste untergebracht.
Ein mit Stahlkanten eingefasster Kiesweg führt mich Richtung Haupthaus. Es ist still, nur das Knirschen meiner Schritte auf dem Kies ist zu hören.
Gedanklich gehe ich den geplanten Ablauf durch. Ich will Precht vor allem zu den großen gesellschaftspolitischen Themen unserer Zeit befragen und mit ihm über die Gestaltung von Gegenwart und Zukunft sprechen.
Wie werden sich Digitalisierung und Künstliche Intelligenz auf uns auswirken? Wer sind die Gewinner, wer die Verlierer? Warum ist Precht ein Verfechter des bedingungslosen Grundeinkommens? Wie stellt er sich das soziale Pflichtjahr für junge und alte Menschen vor, das er vorgeschlagen hat?
Sollte das Gespräch an irgendeiner Stelle ins Stocken geraten, wird ein Blick auf meinen Spickzettel helfen, auf dem ich mir zahlreiche weitere Stichworte notiert habe.
Mittlerweile bin ich am Eingang angelangt und ziehe an der schweren Eichentür. Sofort eilt ein älterer Mann herbei. Er trägt ein schwarzes bodenlanges Gewand und stellt sich als Bruder Anselm vor. Er gehöre zur Abtei und würde hier in der alten Benediktiner-Tradition «von ora et labora» beten und arbeiten.
Der Mönch hat ein angenehmes Wesen und ist zum Plaudern aufgelegt. Wie aus dem Nichts erscheint Precht: «Bruder Anselm, Sie sollen doch unsere Gäste in Ruhe lassen.»
Der derart Gerüffelte murmelt eine Entschuldigung und ist so schnell verschwunden, wie er aufgetaucht ist.
Mir gegenüber steht der berühmte Philosoph und sieht noch fantastischer als im Fernsehen aus. Schwarze Hose, schwarzes Oberhemd, schwarze Schuhe. Was bei jedem anderen formal und düster wirkt, lässt ihn modisch-elegant und lässig erscheinen. Die obersten zwei Knöpfe des Hemdes sind geöffnet, die Ärmel aufgekrempelt. Dazu die gebräunte Haut, die blauen Augen und das grau melierte Haar. Für jemanden wie Precht ist es keine Kunst, gut auszusehen, seufze ich innerlich.
«Willkommen! Bitte folgen Sie mir unauffällig», lauten seine mit charmanter Ironie hingeworfenen Begrüßungsworte. Auf unserem Weg blicke ich verstohlen nach rechts und links und bin beeindruckt. Die denkmalgeschützte Immobilie wurde mit einigem Geschmack und noch mehr Geld saniert und erfüllt die höchsten Ansprüche an ein modernes Hotel mit Tagungszentrum. Gleichzeitig strahlt das historische Gemäuer eine wohltuende Ruhe aus.
«So, da sind wir!» Precht hält mir eine Tür auf. Das seitlich angebrachte Schild weist den Raum als Tagungsraum «Aristoteles» aus. Wir nehmen an einem Tisch Platz. Im Hintergrund hängen eingerahmte Plakate, die das Cover von Prechts neuem Buch zeigen. Der Titel lautet «Von Utopia nach Realia». Darunter steht in kursiver Schreibweise «Schnellzug oder Regionalexpress? Wir haben die Wahl».
Ich greife die Formulierung auf und frage, ob es eine direkte Verbindung zwischen den beiden Orten gibt und wie man ans Ziel gelangt.
«Wie wir nach Realia gelangen? Sicher nicht mit dem Regionalexpress der Zögerlichkeit, sondern mit dem ICE der Entschiedenheit, ach nein, mit dem D-Zug der Entschlossenheit. Verflixt! Natürlich Schnellzug.» Und leise vor sich hin murmelnd wiederholt er: «Wir wollten Schnellzug sagen. Mit dem Schnellzug von Utopia nach Realia! Mit dem Schnellzug.»
Kurz scheint Precht den Faden verloren zu haben, fängt sich jedoch rasch wieder: «Es ist doch so: Wir brauchen ein neues Betriebssystem für unsere Gesellschaft. Und dazu müssen wir die drei großen Fragen unserer Zeit beantworten. Wer sind wir, und wenn ja, wie viele?»
Während ich auf die angekündigte dritte Frage warte, ist Precht schon weiter: «Wir leben in einer Zeit der großen Überforderung, und es gibt unendlich viele Gründe für Besorglichkeiten. Wir glauben nicht, was wir wissen, und wir wissen nicht, was wir glauben. Oder einfacher ausgedrückt: Wir wissen nicht, was wir glauben, und wir glauben nicht, was wir wissen.»
Er macht eine kurze Pause und fügt nachdenklich an: «Wir befinden uns in einem ständigen Spagat zwischen der Poesie des Herzens und der Prosa der Verhältnisse. Die Zukunft, die subjektiv, aber vielleicht auch objektiv gesehen der Gegenwart nachfolgt, hängt über uns, wie das Schwert des Damokles über Diogenes in der Tonne.»
Da klopft es an der Tür, es ist Bruder Anselm.
«Was ist denn?», herrscht ihn Precht ungehalten an. «Sie sehen doch, dass wir beschäftigt sind.»
Bruder Anselm reicht ihm ein Handy: «Ich sollte doch Bescheid sagen, wenn jemand Wichtiges anruft.»
Precht seufzt. Ich signalisiere ihm, dass er gern telefonieren kann, was er dankend annimmt. Er nimmt das Handy und verlässt den Raum.
Etwas nervös blättere ich in meinen Notizen und höre ihn durch die geschlossene Tür reden:
«Der Verband der pyrotechnischen Industrie? Natürlich halte ich auf Ihrer Jahrestagung die Keynote, wenn Sie es wünschen. Theodor Adorno hat es in seiner Ästhetischen Theorie einmal recht treffend ausgedrückt: Feuerwerk ist die perfekteste Form der Kunst, da sich das Bild im Moment der höchsten Vollendung dem Betrachter wieder entzieht. »
Precht schweigt einige Zeit und fragt dann zurück: «Ach so, es geht Ihnen quasi darum, den Diskurs um Feuerwerk auf eine sachliche und faktenbasierte Grundlage zu stellen? Sehen Sie, ich habe mit dem Entrüstungspessimismus der Moralindustrie eh nichts am Hut. Die Entscheidung Pro oder Contra Feuerwerk muss jeder für sich selbst treffen können, ohne dass ein gesellschaftlicher Druck aufgebaut wird. Schicken Sie den Vertrag und die Adresse für die Rechnung an mein Sekretariat. Wir sehen uns dann bei Ihnen vor Ort. Ich freue mich, auf Wiederhören!»
Precht betritt wieder den Raum und nimmt Platz. «Entschuldigen Sie die Unterbrechung. Wo waren wir stehengeblieben?»
«Die Zukunft …»
«Ach, wissen Sie. Ich will hier weder als weißer alter noch als weiser alter Mann auftreten, aber das Leben baut nichts auf, wozu es die Steine nicht woanders herholt. Eines muss jedem von uns klar sein: Die Entscheidung, wofür ich mich entscheide, entscheidet über alle weiteren Entscheidungen. Oder einfacher ausgedrückt: Die Wirkung von Wirkungen liegt nicht in der Wirkung, sondern in der Bewirkung der Wirkung. Das macht die Antwort auf die Frage jedoch nicht unbedingt einfacher, wie Sie sich vorstellen können.»
Ich nicke und spüre die aufkeimende Panik, seinen komplexen Gedankengängen nicht folgen zu können.
Precht spricht weiter: «Wir leben heute im Zeitalter des Internets, einem Ort der Jetzigkeit ohne geschichtliche Tiefe, und das schließt direkt an die Frage an: Warum gibt es alles und nicht nichts?»
Er lehnt sich erneut zurück und schaut mich triumphierend an.
Ich antworte, dass ich mich nicht kompetent genug fühle, um diese Frage zu beantworten.
Precht lacht: «Für was ist ein Philosoph eigentlich kompetent, außer für das Kompensieren von Inkompetenz? Ich nenne das gerne die Inkompetenz-Kompensations-Kompetenz. Geht die Inkompetenz-Kompensations-Kompetenz tröpfchenweise vorzeitig verloren, spricht man von einer Inkompetenz-Kompensations-Kompetenz-Inkontinenz. Wer darüber Bescheid weiß, verfügt über Inkompetenz-Kompensations-Kompetenz-Inkontinenz-Kompetenz!»
Stolz schweigt er für einen Moment, und ich höre, wie es in meinen Ohren klingelt. Ich zweifele an meinem Verstand, aber es ist erneut ein Anruf für Precht.
Diesmal macht er sich nicht die Mühe, den Raum zu verlassen, sondern geht direkt dran:
«Verband der Glücksspielindustrie? Natürlich erinnere ich mich an Sie. Wir haben letzte Woche gesprochen, oder?»
Er lacht, wartet die Antwort ab. «Ja, das Thema Glück. Heinrich Heine hat es 1854 in seinen Memoiren treffend formuliert: In uns selbst liegen die Sterne unseres Glücks. Das würde ich gerne zum Kernthema meines Vortrags machen. Ich spreche etwa 30 Minuten über Glück, abgemacht? Sie hatten doch diesen Werbeslogan voll betörender Sinnhaftigkeit? Wie lautete der noch mal? Ach ja: Wussten Sie, dass Glück das Einzige ist, das sich verdoppelt, wenn man es teilt? Wunderbar, das baue ich in meine Rede ein. Schicken Sie den Vertrag und die Adresse für die Rechnung an mein Sekretariat. Wir sehen uns dann vor Ort. Ich freue mich, auf Wiederhören!»
Precht schaut mich an. «Wo waren wir stehengeblieben? Ach ja, bei den großen Fragen über die Zukunft unserer Gesellschaft. Wie kriegt man mehr Gemeinwohl-Ökonomie hin? Wie steigt man aus diesem westlichen Gefahren- Industrialismus aus? Wie können wir uns vom Materialismus lösen, ohne das Betriebssystem der bürgerlichen Leistungs- und Lohnarbeitsgesellschaft zum Absturz zu bringen? Um diese Fragen beantworten zu können, müssen wir uns von ihnen lösen, zwei, drei Schritte zurücktreten und das Gesamtbild betrachten. Und dann stellen sich ganz andere Fragen: Warum wollen wir, was wir wollen? Warum wollen wir, was wir sollen? Und warum sollen wir, was wir wollen?»
Precht schaut zunächst mich an, dann auf seine Armbanduhr. «Oh, ich bin spät dran. Gleich halte ich meinen Vortrag. Sie können gerne zuhören.»
Ich lasse mir die Gelegenheit nicht entgehen und folge Precht durch die verzweigten Gänge. Wir passieren den Tagungsraum «Sokrates», dann den Tagungsraum «Platon» und erreichen schließlich den größten Konferenzraum. Er bietet etwa einhundertzwanzig Zuhörern und Zuhörerinnen Platz und trägt den Namen «Precht».
Die Längsseite des Raums ist voll verglast und bietet einen überwältigenden Blick auf den Tegernsee und das dahinterliegende Bergpanorama. An der Stirnseite steht eine etwa ein Meter hohe Bühne. Darüber eine riesige Leinwand, links und rechts davon zwei schwarze Lautsprechertürme. Precht springt lässig auf das Podium, schnappt sich das Mikrofon und beginnt mit dem Soundcheck: «Test, eins, zwei. Test. Test.»
Nach und nach füllt sich der Saal mit überwiegend männlichen Zuhörern mittleren Alters. Die meisten tragen eine Anzughose und darüber ein Sakko, einige sind im Anzug erschienen, einige wenige haben Jeans und Jackett miteinander kombiniert.
Nachdem alle zur Ruhe gekommen sind, beginnt Precht mit seinem Vortrag. Es geht um die Stille und die Kunst des Schweigens.
Der Geschwätzigkeit der Welt könne nur mit Stille begegnet werden. In unserer Gesellschaft herrsche eine Kakofonie selbst ernannter Experten, die ununterbrochen auf ihre Zuhörer einreden würden. Dem müsse man sich durch Lautlosigkeit und Schweigen entziehen. Schon der große chinesische Philosoph Laotse habe gesagt, dass die Stille die größte Offenbarung sei. Nur in der absoluten Stille würden wir uns hören. In der Moderne würden wir uns hinter vielen Worten verschanzen, weil wir es nicht aushalten, zu schweigen. Manchmal sei es jedoch besser, nichts zu sagen. Dies gelte auch und gerade im Management. Ein französischer Philosoph habe es einmal so ausgedrückt: Wer nicht zu schweigen weiß, verdient nicht zu herrschen. Diese Erkenntnis dürfe nicht verschwiegen werden, nein, darüber müsse unbedingt und immer wieder geredet werden.
Mittlerweile haben sich kleine Schweißtröpfchen auf seiner Stirn gesammelt. Ich habe auf die Uhr gesehen, Precht spricht bereits seit 90 Minuten über die Kunst des Schweigens. Zum Schluss hat er noch einen Tipp für uns alle: «Tragen Sie den Gedanken des Schweigens in die Welt hinaus, machen Sie Werbung dafür und versuchen Sie, andere Menschen für die Stille zu begeistern. Nur so kommen Sie mit den Menschen da draußen ins Gespräch.»
Alle applaudieren begeistert. Precht tupft sich die Stirn mit einem schwarzen Seidentuch ab und deutet eine Verbeugung an. Ich bin beeindruckt. Jetzt weiß ich, was die Leute meinen, wenn sie von seinem Bühnencharisma schwärmen.
Precht weist darauf hin, dass er noch einige Minuten für Autogramme und Selfies zur Verfügung stehen würde. Außerdem sei neben dem Ausgang ein Büchertisch aufgebaut.
Blitzschnell hat sich eine lange Schlange gebildet. Precht lacht und scherzt mit jedem der Teilnehmer und Teilnehmerinnen, signiert Bücher und verkauft Seidenschals aus der Precht-Kollektion.
Es dauert weitere 40 Minuten, bis Precht alle Wünsche erfüllt hat und wir in unseren kleinen Tagungsraum «Aristoteles» zurückkehren. Erschöpft lässt er sich in den Stuhl fallen und füllt sein Glas mit Mineralwasser.
Nach einer kurzen Verschnaufpause sind wir wieder bei seinen Vorstellungen einer modernen Gesellschaft, dem Zusammenwirken von Mann und Frau und der Begegnung von Jung und Alt:
«In der modernen Gesellschaft erwartet die Frau bei der Partnerwahl das Unmögliche. Der Mann als emotionaler Erwartungs-Zwitter: als der, der in der Küche mithilft, und der, der mit dem Wolf tanzt. Gleiches gilt für das Zusammenspiel der Generationen. Der Generationenvertrag darf nicht zum Knebelvertrag verkommen, in dem Kevin und Chantal dafür schuften müssen, dass Jakob und Adele als Rentner auf Kreuzfahrt gehen können.»
Precht belässt es aber nicht bei Appellen: «Ich schlage zwei Gesellschaftsjahre vor: eins nach der Schule und eins beim Renteneintritt.» Es gehe darum, dass die jungen und alten Menschen Selbstwirksamkeit erfahren. Pflichten seien heutzutage für viele negativ besetzt, weil lustfeindlich. Das finde er schade: «Sich zu Pflichten zu verpflichten, entpflichtet von der Entpflichtung. Einer Selbstentpflichtung kann wiederum nur mit einer Selbstverpflichtung begegnet werden. Oder anders gesagt: Wer sich gegen Pflichten sträubt, will oft nur nicht erwachsen werden.»
Für die Finanzierung habe er eine Lösung. Das könne man locker mithilfe der Finanztransaktionssteuer bezahlen.
Als ich zu einer Frage ansetzen will, klingelt erneut das Telefon. Ein renommierter Hersteller von Kochtöpfen will Precht für die Weihnachtsfeier buchen. Der Philosoph denkt laut nach: «Die Frage finde ich hoch spannend. Kochen hat viel mit Zeitgeist zu tun. Wir erleben in Deutschland eine Kultur der Jetztzeitigkeit, eine Kultur der Sofortness. Alles muss schnell-schnell gehen. Auch gesellschaftlich wird da vieles in einen Topf geworfen, aber die Tugend des Umrührens ist verschwunden, und am Ende jammern alle, dass das Essen angebrannt ist. Das ist jedoch nicht das Ende. Demnächst kommen wir in eine Gesellschaft, in der kochen die Computer und die Roboter für uns. Also, was ich damit sagen will: Schicken Sie den Vertrag und die Adresse für die Rechnung an mein Sekretariat. Wir sehen uns dann bei Ihnen vor Ort. Ich freue mich, auf Wiederhören!»
Precht beendet das Telefonat und schaut mich an: «Wir haben es dann auch so weit, oder haben Sie noch Fragen?»
Ich schüttele den Kopf, da ich spüre, dass Precht das Interview beenden will.
Der Abschied fällt kurz und kühl aus, und schon stehe ich draußen vor der Tür. Mein Rückweg durch die Gartenanlage führt mich an einer Gartenbank vorbei, auf der Bruder Anselm sitzt und raucht. Ich bin etwas irritiert, aber nicke ihm freundlich zu. Hastig drückt er seine Zigarette aus und wirft die Reste in die Büsche.
Er springt auf: «Darf ich Sie noch zu Ihrem Auto bringen?» Er schaut sich um und fleht eindringlich: «Bitte!»
Warum nicht, denke ich und willige ein. Er fragt mich: «Sie sind doch von der Presse, oder?» Er würde sich mir gerne anvertrauen und ob ich ihm Vertraulichkeit zusichern könne. Es ginge im weitesten Sinne um Precht und sein «Geschäftsmodell».
Mittlerweile sind wir an meinem Auto angelangt. Ich biete ihm den Beifahrersitz an.
Bruder Anselm beginnt mit etwas, das er ein «Geständnis» nennt. Eigentlich heiße er Gerhard und sei lange arbeitssuchend gewesen. Vor ein paar Jahren habe er im Internet ein Stellenangebot für Komparsen entdeckt und sich spontan beworben. Daraufhin habe sich Precht bei ihm gemeldet und ihm eine Festanstellung im Kloster angeboten.
Precht habe die Abtei mit EU -Fördermitteln erworben und zu einer Art Themen-Park für Philosophie-Interessierte umbauen lassen.
Ich verstehe nicht, worauf er hinauswill, und frage ihn, was das mit seiner angeblichen Komparsentätigkeit zu tun habe.
«Bei uns ist das wie bei Disney. Da läufst du den einen Tag im Pluto-Kostüm rum, den anderen Tag bist du Micky Maus und machst den ganzen Tag Selfies mit den Besuchern.»
Ich verstehe immer noch nicht. Er erklärt weiter.
«Heute bin ich Bruder Anselm in einer fiktiven Benediktinerabtei. Nächste Woche tagt bei uns der Hausfrauenbund. Dann sind wir ein buddhistisches Retreat, alles riecht nach Duftkerzen, und ich laufe in Orange rum und bin Swami Anselmanda. Und Precht zieht sich seine geblümten Leggings an, macht Yoga mit den Damen und spricht über die positiven Einflüsse von Achtsamkeit und so Sachen.»
Anselm, beziehungsweise Gerhard, schlägt den unteren Rand seiner schwarzen Mönchskutte um, und in der Tat: Die Rückseite ist orangefarben unterlegt. Es scheint eine Art Wendekutte zu sein.
Aus einem regulären Arbeitsvertrag sei nie etwas geworden. Seine Tätigkeit sollte als Gesellschaftsjahr über die Finanztransaktionssteuer abgerechnet werden. Dazu sei es jedoch nie gekommen, Precht vertröste ihn von Jahr zu Jahr. Mittlerweile sei dies sein fünftes freiwilliges Gesellschaftsjahr.
Auf einmal zucke ich zusammen. Precht steht neben uns und schaut durch das offene Autofenster: «Sie haben mein Buch vergessen. Habe ich doch extra für Sie signiert.»
Ich kann mich nicht daran erinnern, ihn um ein Exemplar seines Buchs gebeten zu haben, aber nehme es dankend entgegen.
Neben Precht stehen zwei stämmige Männer in schwarzen Anzügen und mit Sonnenbrille.
Seufzend und mit einem Anflug von Resignation wendet sich Precht an meinen Begleiter: «Ach, Bruder Anselm. Das hatten wir doch alles schon mal. Sie steigen aus und begleiten uns wieder ins Haupthaus zurück, nicht wahr?»
Der Angesprochene blickt mich eindringlich an. Ich lasse ihm die Wahl: «Das müssen Sie entscheiden. Sie sind ein freier Mann.»
Seine Blicke wandern nervös zwischen mir, Precht und den beiden Männern hin und her, bis er sich durchringt und aussteigt. Die Gruppe verabschiedet sich, und ich fahre davon.
Zu Hause übertrage ich das Interview in Reinform. Normalerweise ist damit meine Arbeit beendet, aber das Erlebnis mit Bruder Anselm will mir nicht aus dem Kopf gehen. Also lasse ich Tage später eine Kollegin mit unterdrückter Rufnummer im Kloster anrufen und sowohl nach einem Bruder Anselm als auch einem Gerhard verlangen.
Beide Namen waren dort nicht bekannt.