W er unvermittelt ein Ticket für eine Kreuzfahrt zugesandt bekommt, kann davon ausgehen, dass dies irrtümlicherweise oder in betrügerischer Absicht erfolgt. Dementsprechend skeptisch schaue ich auf die Nachricht in meinem Postfach.
Der Schriftsteller und Kolumnist Harald Martenstein lädt mich zu einer exklusiven Leserreise ein! Um präzise zu sein, erfolgt die Einladung durch seine Agentur beziehungsweise die Agentur des Veranstalters – ganz genau erschließt sich mir die Angelegenheit nicht. Außerdem gilt das Angebot nicht mir als Person, sondern mir als Reporter.
So oder so: Ich darf den gefragten Autor auf einer Flusskreuzfahrt mit 140 zahlenden Passagieren begleiten. «Das luxuriöse 5-Sterne-Superior-Schiff mit perfektem Service und erfahrenen Reiseführern macht diese Kreuzfahrt zu einem unvergesslichen Erlebnis», heißt es im beiliegenden Prospekt.
Herr Martenstein befinde sich in erwartungsvoller Vorfreude: «Ich werde Ihnen meine Heimatstadt Mainz zeigen, die ehemalige Bundeshauptstadt Bonn und einen der schönsten Flüsse Europas. Sie erwarten Weinproben, Stadtführungen und unterhaltsame Gesprächsrunden.» Außerdem gebe es abendliche Lesungen, in denen der berühmte Schriftsteller aus seinen Werken vortragen werde.
Alle Unkosten der Reise für Transfer, Unterbringung, Rahmenprogramm und Mahlzeiten würden übernommen. Bis auf die alkoholischen Getränke, wie es im Kleingedruckten ausdrücklich heißt.
Ich schaue im Internet nach: Die maritime Martenstein-Exkursion repräsentiert einen Gegenwert von etwa zweitausend Euro. Mir ist klar, dass nichts auf der Welt umsonst ist. Veranstalter und Agentur werden sich von meinem Bericht einen Werbeeffekt für ihre Leserreisen versprechen, betonen aber, ich sei frei in meiner Berichterstattung. Außerdem werde sich Martenstein Zeit für mich nehmen und alle Fragen beantworten.
Ich denke nach. Der Schriftsteller Harald Martenstein ist vor allem für seine kurzweiligen Kolumnen bekannt. Es gibt Menschen, die seine wöchentlichen Einwürfe bei Zeit und Welt kaum abwarten können. Die als Erstes «ihren» Martenstein verschlingen, bevor es an die Lektüre von Sport, Politik, Wirtschaft und Kultur geht. Seine im Radio vorgelesenen Beiträge erreichen beständig hohe Einschaltquoten, seine Online-Artikel werden zu Hunderttausenden geklickt. Kurz gesagt: Der Mann ist Deutschlands Kolumnen-Star!
Martenstein eckt aber auch an. So gehört er zu den Erstunterzeichnern des umstrittenen Appells für freie Debattenräume, in dem die angebliche Bedrohung der Meinungsfreiheit beklagt wird. Böse Zungen bezeichnen ihn als «eine Art Mario Barth für Zeit-Leser» und «Franz Josef Wagner für Bildungsbürger». Der eine ein Comedian mit einer plumpen und rückständigen Weltsicht, der andere ein von sich selbst und anderen Substanzen berauschter Boulevard-Schreiber von tragischer Verwirrtheit.
Wie kann es sein, dass ein Autor von vielen klugen Leuten verehrt und von vielen anderen, nicht minder klugen Leuten abgelehnt wird? Eine Frage, die mich schon lange beschäftigt und der ich endlich nachgehen könnte. Mit vor Aufregung zitternden Fingern tippe ich die Zusage ins Handy.
Einige Zeit später ist es so weit. Zusammen mit mehr als hundert anderen Reisenden werde ich per Bus von Berlin nach Köln transportiert. Martenstein ist nicht dabei. Er habe aus Zeitgründen den Flieger genommen, verrät mir die mitfahrende Gästebetreuerin.
«Sie werden ihn bei der Einschiffung in Köln treffen!» Und richtig: Als wir am Fähranleger eintreffen, steht der berühmte Autor dort mit Trenchcoat und wehenden graublonden Haaren.
Beim Verlassen des Busses werde ich fast umgerannt. Meine mehrheitlich älteren Mitreisenden stürmen auf Martenstein zu. Jeder will den berühmten Schriftsteller zuerst begrüßen.
Fasziniert beobachte ich die Szenerie, nehme meinen Rollkoffer entgegen und begebe mich zum Check-in an Bord.
Ich betrete ein «Luxusschiff der neuesten Generation», wie es in der Reisebeschreibung selbstbewusst, aber zutreffend heißt. Ein schwimmendes 5-Sterne-Hotel mit achtzig komfortablen Kabinen und Suiten, zwei Restaurants, einer großen Panorama-Lounge und einem großzügigen Sonnendeck.
Mir wird das Glück einer Juniorsuite mit einem französischen Balkon auf dem sogenannten Rubindeck zuteil. «Zur Alleinnutzung», wie mir die freundliche Rezeptionistin mitteilt.
Meine Kabine ist nicht nur überaus elegant ausgestattet, sondern bietet einen Panoramablick auf Rhein, Hohenzollernbrücke und Kölner Dom. Ich stelle einen Stuhl vor die raumbreite Fensterfront und genieße die meditative Aussicht. Jetzt würde ich gerne auf den zugesagten Balkon treten und eins mit der Landschaft werden, aber dieser ist schlicht nicht vorhanden.
Kurz erwäge ich, mich an der Rezeption über das fehlende Ausstattungsmerkmal zu beschweren, verwerfe dies jedoch, da es mir undankbar vorkommt. Bei einem Tischgespräch einen Tag später erfahre ich, dass ein französischer Balkon nur eine Art Geländer vor dem Fenster bezeichnet, und bin doppelt froh, es nicht getan zu haben.
Da klopft es an der Tür. Es ist die Gästebetreuerin.
«Wir legen gleich ab. Für 19:00 Uhr ist das Abendessen geplant. Sie dürfen heute mit Herrn Martenstein speisen. Sie sind ihm bereits angekündigt.»
Kurze Zeit später finde ich mich an einem festlich gedeckten Tisch im Schiffsrestaurant wieder, der sechs Personen Platz bietet: Martenstein, mir und zwei etwas aufgeregten Berliner Ehepaaren mittleren Alters, die das Abendessen als Teil eines «Meet-and-Greet»-Angebots gebucht haben: Ein Steuerberater namens Winfried aus Berlin-Zehlendorf nebst Gattin Sabine und ein Lehrer-Pärchen aus Charlottenburg: Axel, Deutsch und Geschichte, sowie Susanne, Französisch und Kunst.
Auf unseren Tischen liegen eigens für diesen Abend gedruckte Kärtchen mit der Speisenfolge aus. Es gibt gebackenes Kokosnuss-Garnelen-Küchlein mit Zuckerschoten-Püree, Sesam-Algensalat und Chili-Crème-fraîche. Dann eine klare Rinderbouillon mit Gemüsestreifen und getrüffeltem Eierstich und auf der Haut gebratenes Zanderfilet mit Garnele, Limetten-Buttersoße, Rosmaringemüse und frittierten Reisballen mit Fetakäse. Und als letzter Gang warte warmer Grand-Marnier-Schokoladenkuchen auf uns.
Ich bin eine derartige gastronomische Bandbreite nicht gewohnt und fühle mich kulinarisch überfordert.
Da erscheint der Kellner und fragt, ob wir mit dem Tischwein vorliebnehmen oder einen anderen Getränkewunsch hätten. Routiniert schraubt er eine der Weinflaschen auf und schaut Martenstein fragend an. Sofort deckt dieser die Öffnung seines Glases mit der Hand ab: «Nennen Sie mich einen wohlstandsverwöhnten alten weißen Mann, aber ich kann einer Flasche Wein mit Schraubverschluss nichts abgewinnen. Ich brauche das intime Stelldichein von Korkenzieher und Korken – das degustative ius primae noctis des Weinverkosters.»
Augenblicklich verneinen auch die anderen Gäste die Frage des Kellners. In herzlicher Einigkeit wird beschlossen, sich die Weinkarte bringen zu lassen.
Ich kann zu der Diskussion nichts beitragen, denn ich trinke keinen Alkohol. Außerdem bin ich Vegetarier.
«Kein Problem!», sagt der Kellner. «So jemanden haben wir immer mal wieder dabei. Die Küche zaubert Ihnen da was Leckeres.»
Das bietet Martenstein die Gelegenheit, sich zu den Essgewohnheiten des modernen Durchschnitts-Großstädters zu äußern:
«Neulich verirrte ich mich in einen jener neumodischen Bio-Läden, die heutzutage die Reformhäuser abgelöst haben. Im Regal türmten sich die Packungen: Soja-Milch, Hafer-Milch, Irgendwas-Milch … Nur echte Milch gab es nicht. Wie sehr kann man Kühe hassen, frage ich mich.»
Auch über das Thema Eier habe er sich Gedanken gemacht:
«Ich lege hier ein Geständnis ab: Ich habe neulich den Eierschneider an ein Ei gelegt, und ich kann Ihnen nicht sagen, ob es aus Boden-, Freiluft-, Käfig- oder Weltraumhaltung kommt. Und wenn ich es wüsste: Was wäre besser? Manche sagen so, manche sagen so. Währenddessen beiße ich lustvoll in mein Frühstücksbrötchen – mit Ei.»
Meine Tischnachbarn kichern verzückt. «Ja, genau so ist es, Herr Martenstein! Genau so!»
Ich komme mir ausgegrenzt vor, kann aber an anderer Stelle punkten. Ich habe bei der Vorstellung verraten, dass ich Journalist sei und mir deshalb gelegentlich Notizen machen würde. Als ich Papier und Stift aus der Tasche hole, werde ich von Martenstein ausdrücklich gelobt. Das sei das einzige Handwerkszeug, das ein Reporter brauche, außer seiner Beobachtungsgabe und Neugier! Auch er habe es so gehalten, als er in den frühen Achtzigern seine journalistische Karriere bei der Stuttgarter Zeitung begonnen habe.
Artig nehme ich das Kompliment an, komme mir aber wie ein Betrüger vor, denn ich habe nur zu Papier und Stift gegriffen, weil der Akku meines Handys leer war.
Mittlerweile ist Martenstein bei seinen Anfängen beim Tagesspiegel in Berlin angelangt. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie eine ältere Dame an einem Nachbartisch immer wieder zu uns herüberschaut und sich ebenfalls Notizen macht. Eine Kollegin? Unwahrscheinlich. Ich sei der einzige Medienvertreter an Bord, hatte man mir beim Check-in versichert. Deshalb vermute ich eher einen Martenstein-Fan, der an den Lippen seines Idols hängt, wie die beiden Paare an meinem Tisch.
Martenstein ist ein perfekter Unterhalter. Zu jedem aufkommenden Thema hat er eine Anmerkung samt Pointe parat. Der Tisch ist ein einziges Juchzen, Jauchzen und Frohlocken. Zwischendurch werden neue Gänge serviert, was ebenfalls große Begeisterung auslöst und fachmännisch kommentiert wird. Nur ich stochere etwas gequält in meinem matschigen Gemüse und den weichen Kroketten.
Endlich ist das Essen vorbei. Der Kellner erscheint: «Einen Espresso?»
Das Angebot wird dankend angenommen. Die Wartezeit überbrückt Martenstein mit einigen Betrachtungen über den Kaffeegenuss damals und heute.
Früher habe man umstandslos eine Tasse Kaffee bestellen können. Heutzutage müsse man Kaffeewissenschaften studiert haben und mehrere Fremdsprachen beherrschen. «Haben Sie schon mal versucht, bei Starbucks eine Tasse Filterkaffee zu bestellen? Da bekommen Sie Fragen, die kann nicht mal meine Frau beantworten. Und die hat ein Vordiplom in Englisch.» Der ganze Tisch lacht.
Martenstein ahmt einen Starbucks-Mitarbeiter nach: «Wollen Sie einen Pumpkin Spice Vanilla Cream Frappuccino mit laktosefreier Milch, Karamell-Sirup und Kokosflocken in Small, Medium oder Large?» Er macht eine Kunstpause und fährt mit seiner normalen Martenstein-Stimme fort: «Nein, ich will einfach nur ne Tasse Kaffee! Und zwar plötzlich, wenn ich bitten darf!»
Mit dem falschen Namen auf dem Becher gehe es weiter: «Ich bin allerhand gewohnt an negativen Zuschreibungen, Verbalinjurien und Invektiven und nehme alles dankend an. Warum also nicht auch Herold als neuer Rufname? Das war im Mittelalter ein offizieller Bote eines Lehnsherrn, eine Vorform des Diplomaten. Es gibt weitaus schlimmere Beleidigungen, denke ich.»
Triumphierend schaut er in die Runde.
«Sie sind so lustig, Herr Martenstein», sagt Sabine, die Steuerberater-Gattin, und alle pflichten ihr bei. Martenstein sei nicht nur ein Meister des Wortes, sondern habe das gewisse Etwas, das ihn für die große Bühne prädestiniere.
Als sich alle beruhigt haben, frage ich Martenstein, ob er mir nach dem Abendessen für ein kurzes Interview zur Verfügung stehen würde.
«Tut mir leid, aber nein . Gleich bin ich mit den beiden Herrschaften», er zwinkert Winfried und Axel zu, «an der Bar zur Nachbesprechung verabredet. Nicht wahr, meine Herren?»
Die stutzen erst, pflichten ihm dann aber feixend bei.
Nach dem Essen ziehe ich mich in meine Kabine zurück. Der Fernseher bleibt ausgeschaltet. Stattdessen genieße ich die Aussicht auf das vorüberziehende Rheinufer und gleite in einen erholsamen und traumlosen Schlaf.
Am nächsten Morgen sitze ich mit Martenstein und anderen Gästen am Frühstückstisch. Erneut geht es um Kaffee: «Seit Kurzem bin ich ja stolzer Besitzer eines Kaffeevollautomaten.» Martenstein schaut uns an. «Na und, werden Sie sagen, weil Sie vielleicht alle Fachinformatiker für Systemintegration sind. Ich bin das nicht. Ich bin ein normaler Mensch, der einen Knopf drücken will, und dann kommt der Kaffee.»
Fortschritt sei gut und notwendig, aber manchmal wünsche er sich die guten alten Zeiten und eine stinknormale Tasse Filterkaffee zurück. Und apropos, da käme ihm eine Geschichte aus seiner Jugend in den Sinn:
«Ich war ein Pennäler mit einem Hang zu Dingen, die Pennäler eben so tun. Und so schrieb ich eines Tages an die Toilettentür: Willst Du Schwangerschaft verhüten, nimm Melitta-Filtertüten. Für diesen Dumme-Jungs-Streich gäbe es heutzutage 2000 Euro Strafe und 12 Monate Einzelhaft im Umerziehungslager für Political Correctness. Zur selben Zeit schaut die Polizei untätig zu, wie Rauschgifthändler aus Nordafrika im Stadtpark Drogen an Kinder verkaufen. Verstehen tue ich das nicht, aber vielleicht muss man satt und gut versorgt in einer warmen Amtsstube sitzen, um derlei Angelegenheiten kompetent beurteilen zu können.»
Der weitere Tag vergeht wie im Flug. Wir unternehmen einen Rundgang durch die Altstadt von Bonn und besuchen das Geburtshaus von Beethoven. Mittags legen wir wieder ab, fahren den Rhein entlang Richtung Mainz und besichtigen das Geburtshaus von Harald Martenstein.
Für den Abend ist eine Lesung in der Lounge angekündigt.
Als ich erscheine, sind schon alle Plätze belegt, sodass ich im hinteren Teil stehen muss – direkt neben der älteren Dame, die sich tags zuvor so fleißig Notizen gemacht hatte. Wir nicken uns kurz zu.
Bevor Martenstein mit der eigentlichen Lesung beginnt, erzählt er, was ihm im Verlauf des Tages alles so aufgefallen sei. Er fragt: «Ist es erlaubt, sich über einen fehlenden Korkenzieher in der Kabine zu ärgern, obwohl in anderen Ländern die Menschen hungern? Ja, denn wenn nur diejenigen klagen dürften, deren Probleme am größten sind, dann hätte nur noch eine einzige Menschengruppe das Recht, sich zu beschweren.»
Als er sich vorhin seine langen Haare geföhnt habe, sei ihm ein Aufkleber aufgefallen, der ihn vor Verbrennungen warnen sollte. «Ein perfektes Beispiel für unsere Illusion, dass man alle Lebensrisiken ausschließen könne, den Wunsch nach Belehrung und die Lust an der Unmündigkeit.»
Martenstein beginnt die eigentliche Lesung. Zunächst geht es um die von ihm erlebte Diskriminierungserfahrung als alter, weißer Mann: «Was mir auffällt, ist, dass wir älteren Herren inzwischen die einzige Gruppe sind, auf die jeder mit der verbalen Flinte schießen darf, ohne dass ihm oder ihr Diskriminierung vorgeworfen wird. Aber ich will nicht wehleidig klingen. Ich stelle es nur fest.»
Er ächzt: «Altherrenliteratur , Altherrenhumor , Altherrensex , Altherrenmode . Wenn es in unserer Gesellschaft einen Fußabtreter gibt, dann ist es der sogenannte alte weiße Mann. Wir sind nach neuer Rechtsprechung allesamt notgeile Faschisten, aber ich bleibe gelassen. Das bringt das Alter so mit sich.» Alle lachen.
Es geht um Minderheiten, die den Mehrheiten auf der Nase herumtanzen, um Migranten, Moslems, Transmenschen und Quotenfrauen. Es geht um die Genderdebatte, angeblichen Rassismus, Denk- und Redeverbote. Martenstein befürchtet, dass Kinder statt Mama und Papa bald Elternteil 1 und Elternteil 2 sagen müssen, die Moslems uns das Schweinefleisch verbieten und wir vielleicht schon morgen in einer Art DDR leben. Für jede seiner Thesen hat er Beispiele aus Staat und Gesellschaft parat.
Er ist am Ende angelangt und genießt erschöpft den Schlussapplaus. Glücklich schaut er in die Runde und leitet zum Fragenteil über.
Es kommen die zu erwartenden Wortmeldungen: Zu welchen Tageszeiten fallen ihm die Ideen zu seinen Kolumnen ein? Wurde schon mal ein Thema abgelehnt? Und wie lange braucht er für eine seiner Kolumnen?
Da meldet sich die Dame neben mir. Die von Martenstein vorgetragenen Beispiele zur angeblichen Herrschaft der Minderheiten über die Mehrheit seien vielfach widerlegt, verzerrt oder aus dem Zusammenhang gerissen. Sie habe ihm das mehrfach geschrieben und die entsprechenden Nachweise beigelegt. Warum er derlei Narrative trotzdem weiterverbreiten würde?
«Ich glaube, Sie haben sich uns gar nicht vorgestellt, meine Dame», antwortet Martenstein.
«Nix Dame. Ich bin die Inge. Inge Röhrig. Deine rote Inge. Das war in den 70er-Jahren, als du einige Jahre Mitglied der DKP warst und mit mir zusammen die Welt verändern wolltest.»
Martenstein wirkt verunsichert. An den Namen Röhrig könne er sich nicht erinnern, seine damalige DKP -Mitgliedschaft sei eine Jugendsünde, und überhaupt sei er jetzt müde und müsse zu Bett, denn – nervöses Lachen – er sei ja ein alter weißer Mann.
Beim Hinausgehen frage ich ihn nach einem Interviewtermin. «Nicht so ungeduldig, wir sind noch viele Tage auf dem Schiff. Ich laufe Ihnen schon nicht weg.»
Am nächsten Tag stehen ein Stadtrundgang in Mainz und der Besuch des Gutenberg-Museums an. Danach soll ein «Dialoggespräch» zwischen Harald Martenstein und der Direktorin des Gutenberg-Museums stattfinden. Das Thema ist die Geschichte der modernen Massenmedien und die Bedeutung der Presse von damals und heute für unsere Gesellschaft.
Wie der Zufall es will, treffe ich Frau Röhrig, und wir beschließen, die Veranstaltung zu schwänzen und erst zum vereinbarten Ablegezeitpunkt zum Schiff zurückzukehren. Inge, wie ich sie mittlerweile nennen darf, holt den ausgedruckten Tagesplan aus der Tasche, der jeden Morgen unter unserer Kabinentür durchgeschoben wird. «Das ist um 15:00 Uhr.»
Gemeinsam bummeln wir durch Mainz, und sie erzählt mir einiges aus Martensteins Geschichte, das nicht in seinem Wikipedia-Eintrag steht. Die Zeit vergeht wie im Fluge, ich komme mit dem Notieren kaum hinterher.
Als wir kurz vor 15:00 Uhr am Ablegepunkt sind, sehen wir das Schiff in weiter Ferne. Wir haben die Abfahrt verpasst!
Schockiert holt Inge ihren Tagesplan heraus, ich den meinen. Und siehe da: Bei mir steht 14:00 Uhr als Ablegezeitpunkt, also eine Stunde früher. Mit einem Anflug von Panik schauen wir auf den weiteren Plan. Es ist ein Stopp am Abend vorgesehen. Wenn wir uns ein Taxi nehmen, könnten wir das Schiff einholen.
Ein Taxifahrer kutschiert uns zum nächsten Zwischenstopp, doch unsere Bemühungen bleiben erfolglos: Der Fluss-Dampfer lässt den Stopp ausfallen, und wir stehen erneut allein am Kai.
Verzweiflung macht sich breit. Meiner Erinnerung nach fährt das Schiff die Nacht durch und legt erst am nächsten Morgen in Rüdesheim wieder an.
Ich telefoniere mit der Gästebetreuerin. Sie spricht von einer bedauerlichen Angelegenheit und dass man unser Gepäck an unsere Heimatadressen senden würde. Damit ist das Gespräch beendet.
Das Letzte, was ich höre, bevor auf der anderen Seite aufgelegt wird, ist die Zusicherung, dass Herr Martenstein mir jederzeit und äußerst gerne für ein Interview zur Verfügung stehe.