«W er weiß, wo Wermelskirchen liegt?», fragt unser Redaktionsleiter in die Runde. Alle schweigen.
Von hinten ist die Stimme eines Kollegen zu hören: «Wermelskirchen ist eine Mittelstadt in Nordrhein-Westfalen südöstlich von Remscheid im Rheinisch-Bergischen Kreis mit den Ortsteilen Dhünn und Dabringhausen im Naturpark Bergisches Land. Die Entfernung zu Köln beträgt rund 35, die zu Düsseldorf etwa 45 Kilometer. Die benachbarten Kommunen heißen Remscheid, Hückeswagen, Wipperfürth, Kürten, Odenthal, Burscheid und Solingen. Das Stadtbild wird durch altbergische Schiefer- und Fachwerkhäuser geprägt.»
Angesichts dieses enormen geografischen Detailwissens komme ich mir wieder einmal äußerst ungebildet vor und drehe mich anerkennend zu dem Kollegen um, der in dem Moment sein Handy in die Sakkotasche zurückschiebt.
«Nachdem ihr nun Bescheid wisst», fährt unser Redaktionschef fort, «bleibt die Frage, wer von euch dort hinfährt. Es ist ein Überraschungstermin. Gibt es irgendwelche Freiwilligen?»
Auffordernd wandert sein Blick durch den Raum. Er will partout nicht verraten, worum es geht.
Ehe er eines seiner gefürchteten Ratespiele daraus macht, die bei mir Anflüge von Fremdschämen auslösen, hebe ich den Finger.
Er strahlt mich an:
«Herzlichen Glückwunsch! Du reist nach Wermelskirchen und wirst dort unseren Finanzminister treffen.»
Kurz zucke ich zusammen, versuche aber, mir meinen Schreck nicht anmerken zu lassen.
Ich verstehe nichts von Finanzpolitik und bin weit entfernt davon, mich mit Lindner auf Augenhöhe über Dinge wie die aktuelle Neuverschuldung, Risikoaufschläge auf Staatsanleihen oder die Vor- und Nachteile restriktiver Fiskalpolitik zu unterhalten.
Doch darum geht es zum Glück nicht.
«Lindner kehrt nächste Woche für einen Vortrag an sein altes Gymnasium in Wermelskirchen zurück. Ich bin sicher, dass dabei Stoff für uns abfällt. Setz dich dazu, mach dir Notizen und rede mit ihm. Der Termin steht bereits.»
Langsam erwärme ich mich für die Idee. Die Zeitreise eines Ministers an seine alte Schulstätte könnte Material für ein Porträt liefern, das sich von den üblichen Texten über Politiker abhebt. Außerdem würde ich gerne das Bild des öffentlichen Christian Lindners mit der Wirklichkeit abgleichen; seine ikonischen Schwarz-Weiß-Fotos aus dem Wahlkampf mit den bunten Bildern der Realwelt in Übereinstimmung bringen.
Wie bei jedem Interview lese ich mich vorher ein.
Schon während seiner Schulzeit startete Lindner eine vielversprechende Karriere als Unternehmensberater. Auf den schulischen Erfolg wirkte sich das unternehmerische Engagement überraschenderweise nicht nachteilig aus. Auf seinem Abiturzeugnis stand später ein Notendurchschnitt von 1,3.
Im Alter von 14 Jahren soll Lindner seine Liebe zur FDP entdeckt und erste Kontakte zur Partei geknüpft haben. Das sollte sich wenig später auszahlen: Seinen Zivildienst leistete er als Hausmeister bei der FDP -nahen Friedrich-Naumann-Stiftung ab. Nicht aus Gewissens-, sondern aus rein praktischen Gründen, wie er später erklärte. Es habe ihm ermöglicht, weiter seiner unternehmerischen Tätigkeit nachzugehen.
Anschließend widerrief Lindner seine Kriegsdienstverweigerung, bewarb sich als Reserveoffizier und arbeitete sich bis zum Major der Reserve hoch. Parallel kletterte er bei der FDP die Karriereleiter hinauf: Mit 19 Jahren im Führungsgremium der FDP Nordrhein-Westfalen, mit 21 jüngster Abgeordneter im Düsseldorfer Landtag, mit 30 Generalsekretär der FDP , mit 34 ihr Bundesvorsitzender. Wie in Siebenmeilenstiefeln eilte Lindner von Erfolg zu Erfolg.
Unternehmerisch ist seine Bilanz durchwachsen. In jungen Jahren gründete er mit zwei Kompagnons eine Internetfirma, die rasch in die Insolvenz geriet. Ein großer Teil des millionenschweren Fremdkapitals soll als Gehälter an die drei jungen Geschäftsführer geflossen sein.
Im Jahr 2017 hatte er als FDP -Chef die Chance, in einem Jamaika-Bündnis aus Schwarz, Gelb und Grün Regierungsverantwortung und einen Ministerposten zu übernehmen, doch für viele überraschend kündigte er die Sondierungsverhandlungen auf. Sein Satz «Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren» wurde zum geflügelten Wort und für und gegen ihn verwendet. Einige preisten ihn für seine Konsequenz, andere warfen ihm Verantwortungslosigkeit vor. Vier Jahre später trat die von ihm geführte FDP in die Ampel-Koalition aus Rot, Gelb und Grün ein und Lindner übernahm den Posten des Finanzministers.
Lindner ist mit einer Journalistin verheiratet, hat keine Kinder und liebt Autos, Boote und die Jagd.
Diese Informationen sollen mir als grobe Orientierung genügen, denke ich und mache mich zwei Wochen später auf den Weg nach Wermelskirchen.
Wenige Minuten vor Vortragsbeginn betrete ich die Schule. Im Foyer weisen Schilder auf die Veranstaltung hin. Ich folge den Pfeilen und gelange in einen Innenhof mit einer Bühne und gut gefüllten Stuhlreihen. Zum Glück entdecke ich einen freien Sitz in der ersten Reihe und nehme Platz.
Ich blicke mich um. Hier scheint die komplette Oberstufe versammelt zu sein und hat sich fein zurechtgemacht – die Jungs im Sakko, die Mädchen im Kleid oder in Rock und Bluse. Es herrscht munteres Plaudern. Ich kann die Szenerie nur kurz auf mich einwirken lassen, da verdunkelt sich das Saallicht, und Christian Lindner betritt die Bühne.
Der Schüler neben mir beginnt enthusiastisch zu klatschen, der Saal stimmt mit ein.
Wie Lindner in seinem dunklen Anzug und dem weißen Hemd vor uns steht, könnte er einen deutschen James Bond abgeben. Die Haare liegen perfekt, er ist sonnengebräunt und schaut uns gut gelaunt und herausfordernd mit leuchtend blauen Augen an.
Nach einer herzlichen Begrüßung erklärt er den Ablauf des Abends. Im ersten Teil des Vortrags gehe es um seine Vita. Das schulde er seiner alten Schule und der anwesenden neuen Schülergeneration. Im zweiten Teil spreche er über das Thema seines Lebens: die Freiheit und deren größte Bedrohung, die Verbotskultur.
Wie angekündigt beginnt er mit Geschichten aus seiner Schulzeit und seiner Firmengründung in der 13. Klasse. Er könne jedem der anwesenden Oberstufenschüler und -schülerinnen nur Mut machen, beizeiten unternehmerisch tätig zu werden. Das Alter sei kein Hinderungsgrund:
«Wenn man im Gespräch überzeugt durch Leistung, gerade auch durch Kompetenz, die nicht akademisch domestiziert ist, dann sagt der Kunde: Wir haben den richtigen Fang gemacht!»
Mut und Tatkraft seien die Devise!
«Viele haben nicht das Selbstbewusstsein, auch gegenüber nem mitfünfzigjährigen Geschäftsführer zu sagen: Das, was Sie bislang gemacht haben, das sind überkommene Strukturen. Die haben Ihnen in der Vergangenheit Erfolg gesichert, können ihn aber in der Zukunft nicht mehr garantieren. Sie müssen umdenken! »
Das Äußere würde das Innere widerspiegeln.
«Wenn Schüler sehr aktiv sind, wenn sie leistungsbereit sind, sehr motiviert sind, wenn sie auch mal mit Krawatte in die Schule gehen, dann hat das Auswirkungen auf ein pädagogisches Klima, meint man.»
Die Schulzeit sei für ihn oft eine Qual gewesen.
«Wenn man in der Schule sitzt und man sitzt seine Zeit ab und weiß, dass man telefonieren, den Kunden besuchen oder Arbeit erledigen müsste, dann kommt man sich so vor, als sei die Zeit durch den Schredder gelaufen.»
Zum Schluss hat er ein paar allgemeine Ratschläge für die Schüler und Schülerinnen:
«Der eine wartet, dass die Zeit sich wandelt, der andere packt sie an und handelt. Meine Maxime: Ran an die Arbeit – Arbeit bewältigen! Probleme sind nur dornige Chancen.»
Stolz schaut er ins Publikum und wartet den Applaus ab.
Mein Sitznachbar dreht sich nach hinten zu einem Mitschüler und deutet auf sein Handy: «Lol, Alter. Das waren eins zu eins die Worte, die er in einem Interview mit 18 hier an der Schule rausgehauen hat. Eins zu eins. Kann man auf YouTube nachschauen.»
Wir sind beim zweiten Teil des Vortrags angelangt. Lindner hält eine flammende Rede über die Freiheit. Dabei handele es sich nicht nur um ein Wort: «Freiheit ist ein Lebensgefühl. Freiheit ist der zentrale Ausgangspunkt und Wert unserer Demokratie.»
Der Staat solle sich so wenig wie möglich in das Leben seiner Bürger einmischen. Verbote seien kontraproduktiv und freiheitseinschränkend.
Lindners Performance als Redner ist beeindruckend. Er hält den Blickkontakt, wandert lässig auf der Bühne hin und her und redet frei und ohne Manuskript.
Selbst als unabhängiger Beobachter fühle ich mich von seinem Plädoyer für die Freiheit abgeholt, empfinde sogar etwas wie Sympathie für ihn und klatsche zum Schluss begeistert mit.
Nun seien wir beim Fragenteil angelangt, erklärt Lindner. Um zu beweisen, dass Verbote der Freiheit entgegenstehen würden, habe er vor der Veranstaltung darum gebeten, ihm Verbote zu nennen, die auf den Prüfstand gehören. Er würde dann erklären, warum die Verbote unnötig seien. Einer der Schüler, er deutet auf meinen Sitznachbarn, habe Vorschläge gesammelt und eine Auswahl getroffen.
Der Schüler holt ein Ringbuch aus dem Rucksack, geht auf die Bühne und tauscht am Rand einige Worte mit Lindner aus. Die Atmosphäre scheint kurzzeitig angespannt, aber aus der Entfernung lässt sich das schwer einordnen.
Beide treten ins Rampenlicht zurück und nehmen in der Bühnenmitte auf zwei eilig herbeigeschafften Stühlen Platz.
Als Erstes sei der Themenkomplex «Auto und Verkehr» dran, moderiert der Schüler die Fragerunde an.
Er schaut in seine Kladde.
Jemand habe gefragt, ob man wirklich verbieten müsse, alkoholisiert Auto zu fahren, und ob dies nicht ein typischer Fall von Eigenverantwortung sei.
«Sie haben vollkommen recht. Außerdem schädigt ein derartiges Verbot unsere Volkswirtschaft. Keinem ist damit gedient, wenn wir den Spirituosenhandel mit unsinnigen Limitationen und Regularien seiner Wettbewerbsfähigkeit berauben. Wir brauchen mehr Vertrauen in das Individuum!»
Daran schließt sich die Frage an, wie Lindner zum Verbot von bleihaltigem Benzin stehe.
Die Antwort kommt wie aus der Pistole geschossen:
«Die Verteufelung von Chemie nimmt groteske Züge an. Ich weiß, in Ihrer Welt würde man die Autos am liebsten mit Mineralwasser betanken, und selbst dann würde sich irgendein grünes Analyselabor finden, das über den zu hohen Magnesium-Wert meckert.»
Nun leitet der Moderator zum Sachgebiet «Wirtschaft und Steuern» über und fragt Lindner, wie er zu Steuerhinterziehung stehe.
«Wenn wir wollen, dass in Deutschland Steuern gezahlt werden, dürfen wir Steuerhinterziehung nicht sanktionieren, denn die sorgt mittelbar für Steuerflucht in andere Länder. Und damit kann keinem gedient sein.»
Auf das Thema Geldwäsche angesprochen, reagiert er in scharfem Tonfall:
«Sie verwenden da ein Framing, das unterstellt, dass es schmutziges Geld gebe. Die Akteure im Markt mögen interessengeleitet handeln. Geld per se ist jedoch neutral und muss sich keiner moralischen Bewertung unterziehen. Alles andere ist ein Mythos der links-grünen Twitter-Bubble.»
Die nächste Frage widmet sich dem Mindestlohn und dem Verbot, diesen zu umgehen.
«Kaum etwas ist so arbeitnehmerfeindlich wie der sogenannte Mindestlohn. Er unterbindet den freien Wettbewerb der Beschäftigten untereinander und verbietet es ihnen, unternehmerisch nach den Gesetzen von Angebot und Nachfrage zu handeln. Diese Motivationsbremse muss weg!»
Wir sind beim Themenbereich «Natur und Umwelt» angelangt. Die erste Frage dreht sich um die Ganzjahresfütterung von Vögeln.
«Das Füttern von Vögeln ist eine verdeckte Subventionsleistung, die wir ablehnen. Solche Subventionen kosten viel, nützen meist nur wenigen und schaden dem Gemeinwohl. Wir müssen Anreize setzen, dass sich die Vögel eigenverantwortlich um ihr Futter kümmern.»
Er wird gefragt, ob es verboten gehöre, seinen Ölwechsel im Wald durchzuführen.
«Ich wüsste nicht, warum man ausgerechnet heute untersagen sollte, Altöl im Wald abzulassen. Wir sind Millionen Jahre ohne ein derartiges Verbot ausgekommen, und es sind immer noch genug Bäume für alle da. Hahaha!»
Jetzt gehe es um Fragen der körperlichen Integrität, führt der Moderator aus und nennt das Verbot von Organhandel. Lindner ist skeptisch:
«Die Marktwirtschaft hilft uns, schnell Lösungen für die Herausforderungen der Zukunft zu entwickeln. Das gilt insbesondere für den Handel mit Organen. Wer hier vonseiten des Staates eingreift, sorgt dafür, dass Menschen sterben.»
Auch das Verbot von Mord müsse auf den Prüfstand, denn Eingriffe in Grundrechte müssten verhältnismäßig sein.
«Wer diesen Grundsatz infrage stellt, betreibt autoritäre Politik. Außerdem, das mag dem einen oder anderen makaber erscheinen, aber es ist nun mal so, sorgt jeder Mord für zusätzliche Impulse im Bestattungsgewerbe.»
Der junge Moderator blättert in seinem Ringbuch. Was Lindner sagen würde, wenn jemand kurzärmlige Hemden und das Tragen von Sandalen verbieten wolle.
«Verbote von kurzärmeligen Hemden schaffen nicht einen einzigen zusätzlichen Quadratmeter mehr an Schrankplatz. Wir müssen andere Lösungen für bezahlbaren Schrankraum zuwege bringen, statt den Leuten ihre Hemden wegzunehmen. Und wegen der Sandalen mit Socken kann ich Ihnen versichern, dass dies nicht meinem Stil entspricht. Trotzdem halte ich nichts von Bekleidungsverboten, sondern verweise in diesem Zusammenhang gerne auf Voltaire: Ich mag verdammen, dass du Sandalen mit Socken trägst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du sie tragen darfst. »
Er lacht. Alle lachen mit.
Nun taucht die Frage auf, wie Lindner dazu stehe, wenn Politiker oder deren Mitarbeiter ihren eigenen Wikipedia-Beitrag fälschen.
Lindner ist plötzlich ernst, hoch konzentriert und scharf im Ton. «Sehen Sie, das Wort Fälschen gefällt mir in diesem Zusammenhang nicht. Es geht um die Rückeroberung der Deutungshoheit über die eigene Biografie, und ich kann darin nichts Schädliches erkennen. Und nebenbei bemerkt: Nichts repräsentiert den Erfinder- und Unternehmergeist der derzeitigen Generation mehr als die kreative Ausgestaltung von Erwerbsbiografien. Wenn wir die Zwanzigerjahre zu einem Gestaltungsjahrzehnt machen wollen, sollten wir dies nicht unterdrücken, sondern honorieren.»
Wir sind am Schluss angelangt. Unser Moderator bedankt sich bei Lindner für die erschöpfenden Auskünfte. Der Nachmittag habe allen Anwesenden großen Spaß gemacht, er bitte um einen Riesenapplaus für den prominenten Gast.
Nachdem der Beifall abgeebbt ist, versuche ich, zu Lindner zu gelangen, doch ein Leibwächter weist mich ab. Ratlos verlasse ich Saal und Schule. Lindner muss einen anderen Ausgang genommen haben, denn er steht bereits vor der Tür und drückt jedem der herausströmenden Schüler und Schülerinnen einen Briefumschlag in die Hand.
«Ein Flyer mit Informationen über mich und die Partei der Freiheit. Aber ich will Sie nicht in Ihrem Wahlverhalten beeinflussen. Hahaha. War gelogen, will ich natürlich schon. Hahaha.»
Auf einer Bank gegenüber hat es sich mein Sitznachbar mit einigen Freunden gemütlich gemacht. Einer der Jungs öffnet seinen Briefumschlag, und wie in Zeitlupe fallen ein Zwanzig- und ein Zehneuroschein zu Boden und wehen mir entgegen.
Ich hebe die Geldscheine auf und überreiche sie dem Eigentümer. Wie der Zufall es will, komme ich mit den Jungs ins Gespräch. Es stellt sich heraus, dass mein Sitznachbar sich Anfang der 13. Klasse als Eventmanager selbstständig gemacht hat und für die Organisation des Nachmittags zuständig war.
Ich frage ihn, wie es dazu gekommen sei.
Er habe es auf die Weise getan, wie Lindner es im Alter von 18 Jahren gemacht hätte. Die Deutsche Welle habe damals ein Porträt über Lindner drehen wollen. Darauf habe der junge Lindner ein Schulzimmer gemietet und seine Klassenkameraden als Statisten im Bild platziert. Ähnliches habe er Lindner als Dienstleistung angeboten und prompt die Zusage bekommen.
Ich bin perplex.
«Das heute waren aber keine Komparsen, oder?»
Er grinst mich an: «Denken Sie allen Ernstes, zu dem Termin wäre irgendjemand von uns freiwillig gekommen? Denken Sie im Ernst, jemand hätte sich freiwillig diese Klamotten angezogen? Denken Sie im Ernst, jemand hätte sich das alles unbezahlt angetan?»
«Und als Sie auf der Bühne waren und mit Lindner gesprochen haben?»
«Da habe ich das Honorar neu verhandelt. Für jeden von uns 30 statt der ursprünglich vereinbarten 10 Euro, und für mich eine Fulfillment-Prämie von 500 Euro. Sonst hätte ich alle vorzeitig nach Hause geschickt. Lindner hatte akuten Bedarf und konnte zu dem Zeitpunkt schwer Vergleichsangebote einholen. Er musste zustimmen. Das ist das Gesetz von Angebot und Nachfrage. So funktioniert unsere Marktwirtschaft.»
Ich bin fassungslos. Mein Blick wandert zwischen ihm und Lindner hin und her, der weiter damit beschäftigt ist, Briefumschläge zu verteilen. Ich frage ihn, ob er gar kein schlechtes Gewissen habe, dass er die Vereinbarung gebrochen und Lindners Notlage ausgenutzt habe.
In aller Ruhe zündet sich der Schüler eine Zigarette an und antwortet mit verstellter Stimme:
«Der eine wartet, dass die Zeit sich wandelt, der andere packt sie an und handelt. Meine Maxime: Ran an die Arbeit – Arbeit bewältigen! Probleme sind nur dornige Chancen.»