U nsere Redaktionssitzungen sind trotz Tagesordnung und Protokoll lockere Zusammenkünfte im kollegialen Kreis. Dies ändert sich an den Tagen, an denen ausnahmsweise der Verlagsleiter anwesend ist. Dann wird aus dem Routinetermin ein Prüfungstermin, und unser Redaktionsleiter kompensiert seine Nervosität mit einem Übermaß an Ernst und Beflissenheit, spricht in gestelztem Schriftdeutsch und bittet uns umständlich um «Inkenntnissetzung des aktuellen Sachstands».
Das führt dazu, dass selbst triviale Themen weitschweifig und in ermüdender Ausführlichkeit vorgestellt und mit einer Bedeutung aufgeblasen werden, die sie nicht verdienen.
Als ich nach meinen nächsten Interviewvorhaben gefragt werde, verfalle ich automatisch in das gleiche Umständlichkeitsmuster, laviere mich aber irgendwie durch. Unser Redaktionschef nickt und leitet zum nächsten Ressort über. Augenblicklich fällt die Spannung von mir ab, und ich höre nicht mehr konzentriert zu. So bekomme ich nicht mit, warum alle auf einmal über Thomas Gottschalk reden.
Unser Verlagsleiter schwelgt in Erinnerungen. Es fallen die üblichen Stereotype. Die von Gottschalk moderierte Fernsehsendung Wetten dass ..? sei lange Zeit «das Lagerfeuer der Nation» gewesen, um das sich die ganze Familie versammelt habe. Er könne sich gut daran erinnern, wie er und seine Geschwister frisch gebadet und mit flauschigen Frottee-Schlafanzügen vor dem Fernseher gesessen und fasziniert dabei zugeschaut hätten, wie ein Baggerfahrer mit der Schaufel seiner Baumaschine ein Feuerzeug entzündet, Basketbälle im Korb versenkt oder Fischstäbchen in der Pfanne gewendet habe. Über Jahrzehnte habe Gottschalks Samstagabendunterhaltung die Nation geeint und in einen Zustand wohliger Glückseligkeit versetzt.
Jeder im Raum verbindet mit dem TV -Format angenehme Erinnerungen. Es ist, als ob jemand einen Kübel Nostalgie ausgekippt hätte. Gottschalks extravagante Kleidung, die prominenten Wettpaten, die Auftritte internationaler Stars, die Wahl des Wettkönigs, die regelmäßig überzogene Sendungsdauer – kein Aspekt bleibt unerwähnt. Und natürlich erinnern sich alle an die außergewöhnlichen Wetten.
«Wisst ihr noch, wie jemand eine Wärmflasche durch Aufpusten zum Platzen brachte? Wie irgendwelche Leute dreißig Bierkästen aufeinanderstapelten? Oder wie der LKW -Fahrer sein Fahrzeug auf vier Biergläsern parkte?»
Über einen Zeitraum von mehr als zwei Jahrzehnten und mehr als 150 Folgen moderierte Gottschalk die Show und habe damit «das Unterhaltungsfernsehen geprägt wie kein anderer vor oder nach ihm», schwärmt unser Verlagsleiter.
Gottschalk war schon vor langer Zeit nach Kalifornien übergesiedelt und hatte im sonnigen Malibu ein stolzes Anwesen erworben. Dort hätte er die Zeit nach seinem Ruhestand genießen können, doch es kam anders: Sein Domizil brannte ab, und er verliebte sich nach langen Ehejahren in eine andere Frau. So kehrte er – für viele überraschend – nach Deutschland zurück.
Hier geriet er sofort ins Zentrum des öffentlichen Interesses, wobei es Gottschalk den Medien mit seiner quirligen Fröhlichkeit und aufgeschlossenen Zugewandtheit leicht machte. Er wirbelte durch die Formate, bespielte die sozialen Medien, war zu Gast bei Shows, Talks und Panels und moderierte mit großem Erfolg die Wetten, dass ..? -Jubiläumsshow.
Das sei der Beweis, dass Gottschalk auch im fortgeschrittenen Alter generationenübergreifend beliebt sei, erklärt unser Verlagsleiter und schaut dabei unseren Redaktionschef an: «Ich will Ihnen nicht ins Tagesgeschäft funken, aber ein Gottschalk-Porträt würde sicher viele Abnehmer am Kiosk finden.»
«Natürlich!», stimmt dieser beflissen zu. «Wir setzen da noch heute unseren besten Mann drauf an.» Er deutet auf mich.
Ich fühle mich angesichts des Superlativs geehrt, aber für diese Art von Porträts gibt es in unserer Redaktion nur mich. Insofern ist die Auszeichnung zwar zutreffend, aber nur bedingt aussagekräftig.
In den nächsten Tagen muss unsere Redaktionsassistenz Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt haben, um mir einen Termin bei Thomas Gottschalk zu organisieren. Und so kommt es, dass ich bereits kurze Zeit nach unserer Konferenz unterwegs nach Köln bin, in die Hauptstadt des Privatfernsehens.
Gottschalk und ich sind im Savoy Hotel verabredet, einer von außen trostlos wirkenden, aber hochklassigen Edel-Herberge direkt an einer viel befahrenen Straße. Das Savoy genießt bei Promis und Medienleuten einen legendären Ruf. Hier quartieren die Fernsehproduktionen ihre Stars und Sternchen ein. Hier schläft man Zimmer an Zimmer mit Bambi-Besitzern, Goldene-Kamera-Gekrönten und Oscar-Prämierten. Hier kann man an der Hotelbar im obersten Stock den Leuten begegnen, die man sonst nur vom roten Teppich kennt.
An eben jener Bar bin ich mit Gottschalk verabredet.
Ich betrete das Hotel, fahre mit dem Aufzug nach oben und bin positiv überrascht. Der Raum ist geschmackvoll dekoriert und stimmungsvoll ausgeleuchtet. Der Innenarchitekt hat ganze Arbeit geleistet: die Sitzmöbel in rotem Samt und Plüsch, Akzente in Gold und Glas, violette Leuchtstreifen, und an den Wänden großformatige und farblich in Szene gesetzte Fotografien von Marlene Dietrich, Romy Schneider und Maria Callas. Ich fühle mich wie in einer anderen Welt.
Thomas Gottschalk sitzt an der Bar und winkt mir zu, ich hätte ihn aber auch ohne diese Geste bemerkt. Er trägt ein goldschimmerndes Barock-Sakko, einen mit Pailletten besetzten Schottenrock samt geblümter Strumpfhose, an dem einen Fuß einen Gummistiefel mit Louis-Vuitton-Aufdruck, an dem anderen Fuß einen Westernstiefel im Cowboy-Stil. Passend dazu trägt er rosarote Handschuhe, eine neongrüne Fliege und einen Zweispitz, den man auch unter dem Namen Napoleons-Hut kennt. Vor ihm steht eine große Glasschüssel mit Gummibärchen.
Weil ich aufgeregt bin, stelle ich mich eine Spur zu förmlich vor und deute eine Verbeugung an.
Gottschalk begrüßt mich auf seine bekannt herzliche Weise:
«Ja, Grüß Gott, willkommen hier in … Ja Servus, Herrschaftszeiten, wenigstens das hätte ich mir merken können.»
Ehe ich «Köln» antworten kann, redet er weiter und bietet mir das Du an:
«Den Herrn Gottschalk lassen wir mal schön stecken. Ich bin der Thommy, war der Thommy und werde, jedenfalls solange der Herrgott mir dies gestattet, auch weiter der Thommy sein.»
Ich will ihm ebenfalls das Du anbieten, komme aber nicht dazu, denn Gottschalk möchte etwas essen.
«Keine Ahnung, wie es Ihnen geht, aber ich bin hungrig.»
Wir wechseln vom Tresen an einen kleinen Tisch. Gottschalk winkt einen Kellner herbei.
«Bringen Sie mir ein Zi…, ein Zi…». Immer wieder bricht er ab. Der Ober schaut ihn ratlos an und fragt:
«Ziegenkäse? Zitronensorbet? Zimtkuchen?»
«Ach was, Herrschaftszeiten. Bringen Sie mir einfach ein Schnitzel nach ungarischer Art.»
Der Ober verschwindet.
Gottschalk rollt mit den Augen. Einmal habe er im WDR bei einer Talkshow das «Z-Wort» benutzt. «Da war was los, das kann ich Ihnen sagen! Die haben mich fast gelyncht. Kam mir vor wie ein Schwarzer in den Fängen des Ku-Klux-Klans.»
Ich erinnere mich an den Vorfall und die anschließende Diskussion, in die sich später der Zentralrat der Sinti und Roma eingeschaltet hatte. Ich frage ihn, ob es ihm leidtue, dass er mit seiner Wortwahl womöglich Menschen verletzt habe, und ob er die Notwendigkeit für eine Richtigstellung oder Entschuldigung sehen würde.
«Herrschaftszeiten, das muss mir doch nicht leidtun. Das sind Dinge, wo ich sage, ich habe nichts Böses auch nur ansatzweise damit gesagt oder gemeint. Und von den zwei Millionen Problemen, die unsere Welt hat, gehört das Problem, um das es ging, ungefähr auf Platz 987321. Die meisten, die sich darüber beschwert haben, waren ja nicht mal betroffen. Und die zwei, drei Hanseln, die sich betroffen gefühlt haben … ja, mei … Da halte ich mich lieber an die, die sagen: Mir ist das völlig egal, an mir geht das vorbei, das beleidigt mich nicht. Und wenn Sie mich schon so direkt fragen: Leid muss mir überhaupt nichts tun. Leid müssen einem Dinge tun, mit denen man bewusst Menschen beleidigt. Das habe ich aber nicht. Selbst im Fall von Dieter Bohlen, der mal wahrheitswidrig gesagt hat, ich würde ein Haarteil tragen, denn Kinder, Besoffene und Dieter Bohlen dürfen alles sagen.»
Ich wende vorsichtig ein, dass von Diskriminierung betroffene Personen bestimmte Bezeichnungen unter Umständen als Alltagsrassismus wahrnehmen würden.
«Ach, Alltagsrassismus . Wenn ich das schon höre. Was ist das schon wieder für ein Wort? Die sind doch nicht richtig im Kopf. Es gibt Probleme, die echte Probleme sind. Es gibt Ungerechtigkeiten an Kindern, an Frauen, an Migranten, an was auch immer. Dieses gehört nicht dazu. Es kann so empfunden werden, aber wenn irgendjemand keine anderen Probleme hat als dieses, dann ist er nicht dicht im Kopf.»
Ich bin erschrocken. So wütend habe ich Gottschalk noch nie erlebt. Er redet weiter.
«In einer Fernsehkritik wurde ich neulich dafür beschimpft, dass ich als alter Mann im Fernsehen nichts anderes tue, als Lieder von Status Quo zu singen, und man muss sich rechtzeitig in Sicherheit bringen. Das hat mich auch getroffen. Deswegen sieht der andere noch lange keinen Grund, sich bei mir zu entschuldigen. Ich bin ein alter weißer Mann, über den kann man alles sagen, und wenn er noch im Fernsehen auftritt, kann man erst recht alles sagen. So schauts doch aus, Herrschaftszeiten!»
Nach einer unangenehmen Pause macht Gottschalk weiter.
«Ich hätte ja auch zum Ober sagen können: Bringen Sie mir ein Schnitzel mit einer Sauce ohne festen Wohnsitz , wie es neulich meine Freundin Barbara Schöneberger auf so unnachahmliche Weise getan hat. Dann wäre was los gewesen. Dann hätte ich sofort einen Shitstorm an der Backe gehabt.»
Jetzt wirkt er nicht nur verstimmt, sondern bitter.
Ich bin froh, dass ein Mann an unserem Tisch erscheint und damit für eine Unterbrechung sorgt.
«Na, Sie wollen bestimmt ein Autogramm. Dann sagen Sie doch was. Ich beiße nicht!»
Der Mann hustet verlegen und tritt von einem Bein auf das andere. «Entschuldigung, ich wollte nur wissen, wo es hier zur Toilette geht.»
Der Mann verschwindet, und der Kellner erscheint mit dem Schnitzel.
Gottschalk legt die Hand auf seinen Arm: «Haben Sie noch einen Salzstreuer für mich? Oh, pardon, nicht, dass ich wieder etwas falsch mache. Heutzutage muss man wahrscheinlich sagen: Haben Sie einen Salzstreuer oder eine Salzstreuerin für mich. Oder man umgeht das und fragt nach einem Gefäß mit unbestimmtem Geschlecht und durchlöchertem Deckel, aus dem Salz rieseln kann .»
Er lacht und winkt unvermittelt den um uns herumsitzenden Gästen zu: «Danke! Danke! Habe die Ehre! Servus, Herrschaftszeiten!»
Er steht auf, verteilt kleine Tüten mit Gummibärchen an die Anwesenden und kehrt wieder zum Tisch zurück.
«Sorry, Verpflichtungen aus einem alten Werbevertrag … Wo waren wir stehen geblieben? Ach ja, Meinungsfreiheit und der Umgang miteinander. Einer anderen Meinung zu sein, darf Widerspruch und meinetwegen auch Widerstand erzeugen. Aber keinen Hass!»
Er sieht mich vorwurfsvoll an.
Ich antworte, dass ich zwar anderer Meinung sei, aber keineswegs Hass empfinden würde.
Er unterbricht mich.
«Sehen Sie, jetzt wollen Sie mir wieder den Mund verbieten. Das ist eine ganz unheilvolle Entwicklung, die unsere Gesellschaft da nimmt. Ich behaupte weiterhin bockig, dass die Sieben Zwerge Schneewittchen das Leben gerettet haben und dass die Welt kein bisschen besser wird, wenn es dann doch Sieben Kleinwüchsige waren. Und werfen Sie mir nicht behindertenfeindlichen Ableismus vor. Für eine derartige Argumentation bin ich taub und blind, hahaha.»
Ich weiß nicht, was ich antworten soll, werde aber erneut vom Zufall gerettet. Ein Liebespaar tritt an unseren Tisch. Schüchtern deutet der Mann auf sein Handy.
«Das ist das harte Los des Promis», seufzt Gottschalk gespielt, springt auf, zwängt sich zwischen das Pärchen, legt die Arme um die beiden und schaltet wie auf Knopfdruck sein strahlendstes Gottschalk-Lächeln zum Selfie an.
Der Mann druckst herum: «Verzeihung, wir wollten nur fragen, ob Sie vielleicht ein Foto von uns machen können.»
Wortlos fotografiert Gottschalk das Paar und setzt sich wieder zurück an unseren Tisch.
«Ich weiß, dass ich vieles heute nicht mehr sagen könnte, was mir einst Lacher und Beifall beschert hat. Ich habe es damals ohne Arg gesagt und weiß, dass ich dabei öffentlich niemandem zu nahe treten, geschweige denn ihm wehtun wollte. Es ist in diesem Lande jede Diskursfähigkeit verloren gegangen. Das ist eine gewisse Tragik. Aber was ich da von mir gebe, ist eine Meinung, man kann anderer Meinung sein, und ich finde das völlig in Ordnung. Man konnte mal streiten, ohne sich zu beschimpfen. Das scheint mir verloren gegangen zu sein.»
Ich habe keine Ahnung, worauf er anspielt, habe aber keine Chance nachzufragen, denn Gottschalk ist längst nicht am Ende.
«Vor einiger Zeit habe ich auf Twitter mal geschrieben: Hab meine DNA aufschlüsseln lassen. Afrika war ja klar. Aber über 50 Prozent Osteuropäer! Deswegen hab ich als Kind so geklaut. Da ist mir ein Hass sondergleichen entgegengeschlagen. Ich würde rassistische Vorurteile gegenüber Menschen aus Osteuropa schüren, und der Witz sei xenophob. Musste ich erst mal im Fremdwörterbuch nachschlagen, was damit gemeint war … Es geht mittlerweile immer um alles. Die Guten gegen die Bösen. Woke oder tot. Die Aufgewachten gegen die Entschlafenen. Dazwischen gibt es nichts. Ich vermisse diesen Freiraum. Im Graubereich zwischen Richtig und Falsch durfte man ein Suchender sein, der zwar immer strebend sich bemüht, aber eben auch irrlichtert, blödelt und provoziert. Ich bin wahrscheinlich der größte Rassismusfeind auf dieser Erde. Ich habe mal auf einer Kostümparty aus grundtiefer Verehrung für Jimi Hendrix eine schwarze Perücke getragen und mir das Gesicht schwarz angemalt. Das war kein Rassismus, das war eine Huldigung! Außerdem gleich das Geständnis, ehe Sie es herausfinden: Ich bin nie dem falschen Geschlecht zugeordnet worden, ich habe mich beim Kinderfasching als Indianer verkleidet und meinen Hustensaft arglos in der Mohrenapotheke gekauft! Und wenn jemand daraus einen Shitstorm machen will, dann sage ich nur: Bitteschön, meine Herrschaften, aber ohne mich! »
Vorsichtig merke ich an, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der sich Sprache und Bewusstsein wandeln würden und in der Diskussion und Kritik erlaubt sein müssten.
«Natürlich. Kritik ist immer berechtigt, auch an dem, was ich sage. Gegen Kritik ist nichts zu sagen, aber dieses Zusammenbrechen, dieses schmerzverzerrte Zusammenbrechen, das versteh ich nicht. Mein Gott, der Gottschalk hat was gesagt, gemacht oder getan, was ich nicht gut fand. Ja, mein Gott. Kommt klar damit! Bei einer Wette, bei der es um das Stapeln von Bierdosen ging, hab ich die Dosen-Türme mal als Hartz- IV -Stelzen bezeichnet. Da wollten auch wieder alle eine Entschuldigung haben, ich hätte Erwerbslose verhöhnt und indirekt als Säufer bezeichnet.»
«Und haben Sie sich entschuldigt?»
«Ja, in der Bild . Den Wortlaut habe ich noch im Kopf: Na klar, ich entschuldige mich für den Witz – und ich rasiere mich, werfe den Hut weg. Es haben sich nämlich viel mehr Anrufer über mein Aussehen beschwert als über den Hartz- IV -Witz. Die meisten haben geschimpft, ich sähe aus wie ein Penner. Bei denen entschuldige ich mich auch gleich. »
Ich würde gerne darauf eingehen, aber Gottschalk wendet sich an mich:
«Jetzt komme ich zu Ihnen. Mein Problem ist, dass ich jedem Menschen, der mich was fragt, eine Antwort gebe. Aber diese Antwort ist für diesen einen Menschen bestimmt. Und wenn du es zertrittst, wenn du es analysierst, wenn du es aus dem Zusammenhang reißt, dann ist es eben plötzlich was anderes als das, was ich sagen wollte. Ich habe den Sinn dieser Art von Gesprächen inzwischen begriffen, dass man die Wahrheit sagt, nur ist es in meinem Fall einfach problematisch, wie wir ja gerade wieder gemerkt haben. Da kriegen Sie ja immer wieder Schnappatmung, wenn ich Ihnen nicht exakt das sage, was Sie hören möchten.»
Ich fühle mich falsch verstanden und protestiere.
«Sehen Sie, Ihr Widerspruch bestätigt mich nur. Es gibt heute überall Maulkörbe, die relativ schnell auf einen niedersausen. Ich bin jetzt in einem Alter, in dem ich das für mich nicht will, also erst recht nicht will. Deswegen habe ich gut überlegt, ob ich mich für dieses Interview zur Verfügung stelle. Und unser Gespräch hat mich auf traurige Weise bestätigt: Du darfst nicht mehr sagen, was du denkst. Ich traue mich jedenfalls nicht mehr und breche das Gespräch daher an dieser Stelle ab.»
Ich bin schockiert und weiß nicht, was ich sagen soll.
Gottschalk ruft den Kellner und bezahlt. Verwirrt und ratlos begleite ich ihn zum Aufzug. Dort fängt uns ein älterer Mann ab.
«Entschuldigen Sie die Störung, aber meine Frau ist ein Riesen-Fan von Ihnen, und wir feiern bald unsere Goldene Hochzeit. Da wollte ich Sie fragen, ob Sie uns ein Autogramm geben können?»
«Natürlich, guter Mann! Ich freue mich ja, wenn ich meine ganzen alten Autogrammkarten verbrauchen kann. Danach fragt ja keiner mehr. Heutzutage wollen ja alle nur Selfies.»
Gottschalk holt eine Karte aus dem Jackett, auf der er deutlich jünger wirkt.
«Für wen darf ich schreiben?»
«Schreiben Sie bitte: Für Rita, Dein André. »
«Ist das Ihr Name?»
«Nein, das ist doch Ihr Name, Herr Rieu.»
Ich habe dann lieber den nächsten Aufzug genommen.