N un wollen Sie bestimmt wissen, wie es weitergegangen ist. Das kann ich Ihnen jedoch nicht sagen, weil ich es selbst nicht weiß.
Wie Sie sicher in den Medien erfahren haben, kam es zu einer Fusion meines Verlagshauses mit unserem größten Mitbewerber. Entgegen allen anfänglichen Beteuerungen führen derlei Zusammenschlüsse immer zu Personalabbau, so auch bei uns.
Meine Stelle sei nicht unmittelbar bedroht, teilte man mir mit, doch man wünsche sich ein «Perspektivgespräch». Die Frage sei, wie ich mir die Zukunft vorstellen würde, denn eines sei klar: So, wie es bislang gelaufen sei, könne es nicht weitergehen. Der Journalismus befände sich im Wandel, und wer stehen bleibe, falle unweigerlich zurück.
Das trifft nur zu, wenn die anderen die Zeit nutzen, um weiterzugehen, während man steht, aber vielleicht brauchen die anderen auch eine Pause, und dann fällt man nicht zurück, weil ja alle stehen, denke ich, traue mich aber nicht, irgendetwas zu sagen.
Vor dem Personalgespräch mit dem neuen Führungsteam flüstert mir mein Redaktionsleiter zu: «Bitte verstehe, wenn ich dich im beruflichen Umfeld nicht mehr duzen kann. Ich muss jeden Eindruck einer Bevorzugung vermeiden. Das ist letztendlich positiv für dich, also für Sie, wollte ich gemeint haben. Das ist positiv für Sie!»
Ich bin also nicht überrascht, als ich vor dem neuen fünfköpfigen Führungsgremium Platz nehme und mein bisheriger Vorgesetzter mich fast wie einen Fremden begrüßt.
«Willkommen zum Mitarbeitergespräch! Ihre Arbeit ist allen hier im Raum wohlbekannt. Sie haben viel für unser Haus geleistet, und wir sind uns einig, dass Sie viel können. Wir sind uns aber ebenso einig, dass Sie uns längst noch nicht alles gezeigt haben, was Sie können. Uns geht es darum, die Mitarbeiter auf eine Weise zu fördern, die es ihnen möglich macht, das meiste aus sich herauszuholen. Deshalb die Frage: Was können wir tun, damit Sie besser werden? Damit noch mehr Leser und Leserinnen Ihre Texte lesen, damit noch mehr Leute zum Kiosk gehen oder ein Abo abschließen. Das würden wir gerne von Ihnen wissen. Darüber wollen wir mit Ihnen sprechen.»
Ich schlucke und fühle mich in meine Schulzeit zurückversetzt. Noch heute träume ich gelegentlich von der mündlichen Abiturprüfung mitsamt der Angst zu versagen.
«Ich, ja also, ich …», druckse ich herum.
Ein Mann, der sich als CEO und Co-Founder der neu gegründeten Media Group vorstellt, unterbricht mich.
«Sie haben mit vielen inspirierenden Persönlichkeiten gesprochen, aber, und das soll keine Kritik sein, das kann jeder. Ich könnte auch meine 15-jährige Nichte Laura zu Madonna schicken und sie käme mit einem interessanten Interview zurück, denn der Star ist nicht die Nichte, sondern Madonna, verstehen Sie?»
Ich nicke. Natürlich verstehe ich. Nicht die Nichte, sondern Madonna ist der Star.
Der «Head of Communication and Public Success Management» hat eine Idee. Ein Pro- und Contra-Format wäre toll, aber nicht in der althergebrachten Weise.
«Wir sollten Experten einladen und sie zu Dingen befragen, die für die Leser relevant sind. Also keine theoretischen Diskussionen über abstrakte Problemstellungen, die keine Auswirkungen auf das Alltagsleben haben, sondern Streitgespräche über Themen, die in der Bevölkerung auf Widerhall treffen.»
Er habe konkrete Ideen:
«Man müsste zwei anerkannte Corona-Experten wie Christian Drosten und Hendrik Streeck für ein Pro und Contra gewinnen, in dem jeder dem anderen seinen Standpunkt klarmacht, aber nicht auf ihrem sonst üblichen Themenfeld, sondern zum Beispiel zur Frage, ob Nutella mit oder ohne Butter aufs Brot gehört. Oder man lässt den Dalai Lama und den Papst erklären, warum der eine seine Pommes mit dem Airfryer und der andere sie mit der Fritteuse zubereitet. Oder zwei Physik-Nobelpreisträger müssen in einem Pro und Contra begründen, warum der eine Schuhe mit Schnürsenkeln und der andere welche mit Klettverschluss bevorzugt. Das sind Themen, die die Menschen da draußen wirklich bewegen.»
Nun ist mein alter Redaktionsleiter an der Reihe, der sich als frischgebackener «Head of Content Strategy» vorstellt.
Wir würden unsere Gesprächspartner zu oft mit Fragen konfrontieren, die von diesen als aggressiv oder provokant empfunden werden oder in eine negative Richtung führen. Dieses Gefühl übertrage sich auf die Leser und Leserinnen.
«Warum nicht ein Gesprächsformat entwickeln, bei dem der oder die Befragte nur positiv reagieren und ausschließlich mit Ja antworten kann? Das wäre noch einen Schritt weiter als das, was die Fachleute als Constructive Journalism bezeichnen.»
Die nächste Idee kommt vom «Creative Development Director»:
«Sie müssen sich von herkömmlichen Gedankenmustern lösen. Warum immer nur Menschen interviewen? Das machen alle, das Konzept hat sich totgelaufen. Dabei gibt es Tausende, was sage ich, Millionen von Tieren, die Interessantes erlebt haben. Wie hat sich der Affe gefühlt, nachdem ihm ein US -Gericht die Rechte an seinem selbstgeschossenen Selfie abgesprochen hat? Wie reagiert die Krake Paul auf die Vorwürfe einzelner Wissenschaftler, ihre WM -Vorhersagen seien manipuliert? Wie fühlen sich die Nachfahren von Klon-Schaf Dolly, und werden sie auf der Weide oft auf ihre berühmte Herkunft angesprochen? Diese Art von Gesprächen hätte zudem den Vorteil, dass Sie als Interviewer nicht immer so sklavisch dicht am Original-Wortlaut bleiben müssen wie bei Ihren bisherigen Gesprächen.»
Er macht eine bedeutungsvolle Pause und ergänzt: «Tiere haben keine Anwälte.»
Beifallheischend blickt er in die Runde. Alle nicken.
Er ist weiter im Ideenrausch. Ob wir jemals ein Interview mit einem Gegenstand gelesen haben und warum nicht?
Alle schweigen.
«Da tun sich doch hoch spannende Themenfelder auf. Wie war es für die Tür, als Martin Luther seine Thesen an sie nagelte? Was dachte die Zange, als sie bei Albert Einsteins Geburt mithalf? Was fühlt ein Geldschein, wenn er in einem Moment für einen Blumenstrauß und im nächsten Moment für Drogen ausgegeben wird? Warum erfahren wir darüber so wenig? Was will man uns verschweigen?»
Der CEO und Co-Founder der Media Group lobt die Anwesenden für die bisherigen Vorschläge, ist aber nicht zufrieden.
«Wir müssen out of the box denken, und wir müssen die Leute dort abholen, wo sie sind. Wie mir meine Nichte Laura verraten hat, ist man heutzutage bei TikTok. Ich hab mir das mal zeigen lassen. Das ist die Zukunft. Da müssen wir auch hin!»
Alle nicken.
«Warum nicht einen Newsroom auf TikTok gründen und Sie führen Ihre Interviews dort? Warten Sie, wir holen uns das Mädchen mal eben per Zoom ins Meeting.»
Er drückt ein paar Knöpfe, und auf einem großen Flachbildschirm ist uns Laura zugeschaltet, ein 15-jähriges kaugummikauendes Mädchen mit Zahnspange.
«Hallo, Laura! Du hast mir doch neulich von TikTok erzählt. Wir haben da diesen Mann, mit dem wir vielleicht den ersten europäischen Newsroom für TikTok aufbauen werden. Er soll da die Interviews übernehmen. Magst du ihn dir mal anschauen?»
Er winkt mich zu sich hinter das Notebook. Ich winke unbeholfen in die Kamera.
Laura druckst herum. Sie finde mich lame.
«Sorry, aber den swipen die Leute sofort weg. Habt ihr nicht jemanden mit einer weirden Narbe, einer Augenklappe, einem crazy Gesichts-Tattoo, einem witzigen Hut oder so? Und das Outfit ist viel zu business, geht ja gar nicht. Der muss nen Rock tragen, einen Onesie oder Schwimmflossen und ne Tauchermaske. Auf jeden Fall etwas, was auffällt, was die Leute catcht. Kann er tanzen?»
Der CEO schaut mich fragend an. Ich schüttele den Kopf.
«Really? Das ist shit. Wenn das viral gehen soll, muss er die Interviews tanzen und seine Talkgäste am besten auch. Und die Videos nicht länger als eine Minute und mindestens 20 Zwischenschnitte, sonst wird das zu öde, ja?»
Unser CEO verabschiedet sich von seiner Nichte, und ich nehme wieder auf meinem Stuhl Platz.
Alle schauen mich an.
Mir wird heiß und kalt, und ich höre ein Summen in meinem Kopf. Ich huste nervös.
Mein Redaktionsleiter fragt mich, ob damit alles geklärt sei.
«Noch nicht so richtig im Detail …», antworte ich, aber eigentlich bin ich vollkommen ratlos, was von mir erwartet wird. Mir ist das alles zu viel, und ich wünsche mir die alten Zeiten zurück.
«Ich habe neulich einen Mitarbeiter von der Haustechnik getroffen. Den würde ich gerne für ein paar Monate bei seiner täglichen Arbeit begleiten. Streikende Aufzüge, defekte Klimaanlagen, zickende Rauchmelder … Ich finde das total spannend und würde gerne in seine Rolle schlüpfen.»
Schnell schiebe ich hinterher: «Das könnte der Auftakt einer neuen Serie von Sozialreportagen sein.»
Nun meldet sich noch mal der CEO :
«Sie als Hausmeister, also entschuldigen Sie. Das ist doch wirklich abwegig. Das meinen Sie nicht im Ernst.»
Leise murmele ich «Haustechniker», aber er hört mir nicht zu.
«Sehen Sie, wir haben Ihnen ein frisch gesatteltes Pferd hingestellt, aber aufsitzen und es reiten müssen Sie schon selbst. Das können wir Ihnen nicht auch noch abnehmen. Ich erwarte Ihren Entwurf der neuen Stellenbeschreibung bis zum nächsten Dienstag. Begeistern Sie uns und erklären Sie, warum es für Sie hier weitergehen soll! Aber jetzt heißt es erst mal Auf Wiedersehen, und wenn Sie draußen sind, sagen Sie bitte dem Nächsten Bescheid, dass er reinkommen kann.»