Ich erinnere mich nicht mehr an die Heimfahrt oder daran, dass ich Bernie und Angela in ein Lyft-Auto setzte. Ich fiel ins Bett, ohne mich auszuziehen, und erwachte fünf Stunden später. Peter war gegangen und hatte einen Zettel hinterlegt, auf dem in glyphenartigen Buchstaben stand: »Einen schönen Nachgeburtstagstag.« Er hatte außerdem ein Kunstwerk von einem Frühstücksteller hergerichtet: ein Croissant mit einem Stück Robiola, einem meiner Lieblingskäses, umringt von Apfelsinenstückchen. Ich war ernstlich versucht, mich zu verlieben.
Während ich aß, sah ich mir die Lokalnachrichten an. Bernies Gerangel mit Coop hatte bei den Lokalreportern – egal ob Print, Rundfunk, Vlog oder Blog – nicht genug Interesse geweckt, um es vom Polizeifunk auf Twitter zu schaffen. Ein Segen, denn das hieß, Murray war in keinem der Newsticker, denen er folgte, auf Bernies Namen gestoßen, was wiederum hieß, dass Lydia Zamir – wenn sie es denn war – in Ruhe weiter in der Unterführung hausen und mit ihren Dämonen ringen konnte. Es hieß außerdem, dass die Northwestern Uni nichts von Bernies Zusammenstoß mit dem Gesetz erfuhr – was nicht nur ihr Eishockeystipendium, sondern ihre ganze Universitätskarriere gefährden könnte.
Die Person, die mich bei dem Ganzen am meisten beschäftigte, war jedoch nicht Zamir und erst recht nicht Bernie, sondern Coop. Bei seiner ultrakurzen Lunte konnte er Bernie leicht etwas antun, falls sie erneut zusammenstießen. Er war so prompt an Zamirs Seite erschienen, als Bernie und Angela dort waren, vielleicht tauchte er ja auch auf, wenn ich mich dorthin begab.
Es war schon nach zehn, später, als ich sonst gern in der Mittsommersonne schwimmen gehe, aber ich nahm meine beiden Hunde, fuhr zur Forty-seventh Street und ließ den Wagen an der Brache stehen, wo ich auch gestern geparkt hatte. Ich führte die Hunde angeleint auf der Fußgängerbrücke über den Lakeshore Drive bis ans Seeufer.
Die Ufermeile ist hier schroff und nicht sehr einladend, aber wenn man vorsichtig ein Stück die Felsen runterkraxelt, kommt man zu einem der besten Schwimmplätze in Chicago. Der Seegrund besteht aus Granit, also ist das Wasser klar, und sofern die Stadt hier keinen Strand anlegt wie gestern auf der SLICK-Versammlung beschrieben, halten die Felsen die Anzahl der Leute in Grenzen, die hier Pampers, Kondome und zerbrochene Flaschen hinterlassen. Die Rad- und Laufwege waren voll, sogar mitten an einem Werktag, aber sobald wir zum See runtergeklettert waren, waren wir drei allein.
Die Temperatur lag bei 34 Grad, was in Chicago eine elende Luftfeuchtigkeit mit sich bringt, aber das Wasser war kalt. Die Hunde und ich schwammen eine halbe Stunde, und als ich rauskam, warf ich noch ein paar Minuten Bälle für sie, bis ich trocken genug war, um mich anzuziehen.
Auf dem Rückweg band ich sie auf der östlichen Seite der Unterführung an einen Fahrradständer, da hatten sie Schatten, konnten aber nicht in Zamirs Nähe, die in ihrem Nest aus dreckigen Decken hockte, das Klavier hob sich knallrot gegen die Dunkelheit ab. Sie spielte nicht, aber als ich langsam auf sie zuging, hörte ich sie summen, und sie wiegte sich im Takt zu einem Rhythmus, den nur sie wahrnahm.
Hinter ihr stand eine Kiste mit Styroporpackungen ungegessener Fertiggerichte. Mir drehte sich der Magen um bei dem Gedanken, was an einem heißen Tag in einem Hühnchen- oder Krabbengericht gedeihen mochte. Ein Pappkarton enthielt ein Häufchen Kleidung.
Ich hatte auf ein Blatt mit meinem Briefkopf eine Nachricht geschrieben, ganz schlicht: Wenn sie medizinische Versorgung oder jemanden zum Reden wollte, sollte sie mich anrufen. Ich hatte ein paar Zwanziger hineingefaltet und legte die Botschaft zusammen mit einem Liter Gatorade neben das Klavier. Dann zog ich mich aus ihrer Zone zurück und hockte mich ein paar Schritte entfernt hin, sagte nichts, war nur da, falls sie sprechen wollte. Sie hörte auf zu summen und zog ihr Klavier an die Brust, wiegte es, aber nachdem ich mich drei, vier Minuten weder bewegt noch etwas gesagt hatte, entspannte sie sich ein wenig und schob das Klavier auf Armeslänge von sich. Noch etwas später fing sie an, Töne anzuschlagen und erneut zu summen.
Ich stand ganz langsam auf und massierte meine Kniesehnen. Dann trat ich noch ein paar Schritte zurück, bevor ich sagte: »Ich heiße Vic. Meine Telefonnummer steht in dem Brief. Rufen Sie an, wenn ich helfen kann.«
Gerade als ich zu meinen Hunden zurückkam, spazierte Coop mit Bär um die Ecke. Die drei Hunde wirkten erfreut über die Begegnung, nur der Mann stellte prompt die Nackenhaare auf.
»Was suchen Sie hier unten?«, verlangte er zu wissen.
»Ich hab einen Pass«, versicherte ich ihm. »Alles ganz legal.«
»Nicht, wenn Sie sie nicht in Ruhe lassen, oh nein.« Er nickte in Richtung der Klavierspielerin.
Mitch, meinem großen schwarzen Labradormischling, gefiel Coops Ton nicht. Er schob sich zwischen uns und machte in seiner Kehle ein hässliches Geräusch.
»Na, passt du gut auf deine Person auf?« Coop beugte sich über Mitch, die Stimme ganz plötzlich weich und schmeichelnd.
Mit der Stimme änderte sich sein ganzer Habitus: Auf einmal wirkte er geschmeidig statt sehnig, und Mitch reagierte, indem er sich von Coop die Ohren kraulen ließ. Bär und Peppy, meine Retrieverhündin, drängten sich an Coops Beine und verlangten ihren Anteil seiner Zuwendung.
»Ihr zwei seid mir ja schöne Wendehälse, was?«, sagte ich streng zu meinen Hunden, die grinsten.
Coop richtete sich wieder auf. »Wenn Sie solche Hunde haben, können Sie nicht ganz übel sein. Halten Sie sich einfach aus Sachen raus, die Sie eh nicht verstehen. Wir hier unten mögen es nicht, wenn sich Außenstehende in unser Leben einmischen. Weder Sozialarbeiter noch Gutmenschen.«
»Zum Glück bin ich keins von beidem. Andererseits bin ich jemand, der Drohungen nicht gut verträgt, also versuchen Sie es doch mal ein, zwei Dezibel leiser. Tun Sie, als wär ich ein Hund, mit dem Sie gut klarkommen möchten.«
Das entlockte ihm ein Lachen. »Welche Rasse?«
»Halb Rottweiler, halb Pitbull. Ich bin loyal, aber stur. Und zu meinem Netzwerk von Schutzbefohlenen gehört die junge Frau, die Sie heute früh von den Cops haben abschleppen lassen. Wieso waren Sie derartig prompt vor Ort? Und warum haben Sie sich nicht zu Ihrem Beitrag zu dem Gerangel bekannt?«
»Mein Beitrag war sicherzustellen, dass niemand ihr Stress macht, und das gilt auch für Ihr ›Netzwerk von Schutzbefohlenen‹.« Er nickte in Richtung der Pianistin. »Sie hat schon genug aushalten müssen, das langt für drei Leben. Wenn Leute wie Sie oder diese Kleine daherkommen, zieht ihr das die Haut von den Wunden, und sie fangen an wieder zu bluten.«
»Ein Grund mehr, ihr Hilfe zu besorgen.«
»Ein Grund mehr, dass Sie sich um Ihren eigenen Scheiß kümmern.« Sein Ton wurde wieder grob.
Ich bekam langsam Schleudertrauma von dem Versuch, dem Wechselspiel zwischen netter Coop und böser Coop zu folgen. In übertrieben sanftmütigem Ton sagte ich: »Sagen Sie mir doch, wie ich Sie erreiche, Coop, dann kann ich vorab klären, ob meine Vorhaben bei Ihnen Alarm auslösen.«
Er musterte einen Augenblick mein Gesicht, dann antwortete er erstaunlich gelassen: »Ich weiß nicht, wer Sie sind, nur was Sie darüber sagen. Ich weiß nicht, wem Ihre Loyalität gilt oder wer Sie bezahlt. Da ich das alles nicht weiß, kann ich Ihnen nicht trauen. Als Ihr Mädchen mitten in der Nacht hier angerückt ist, hat mir das die helle Panik in die Knochen gejagt. Es wäre ganz typisch –«
Er brach mitten im Satz ab. Ich versuchte nachzufragen: ›typisch‹ für wen oder was, aber er schüttelte nur den Kopf und sagte kein Wort mehr.
Ich nahm die Hunde und fuhr langsam in mein Büro. Wenn irgendeine böswillige Person es auf Lydia abgesehen hatte, war sie nicht schwer zu finden. Die plausibelste Erklärung, die ich für das Ganze fand, war, dass Coop selbst auf einem schmalen Grat zwischen Wahn und Wirklichkeit balancierte und dass Lydia eine bestimmte Rolle in seiner Phantasiewelt spielte. Welche jetzt wohl auch Bernie und ich bevölkerten.
Als ich am Schreibtisch saß, machte ich einen Kontrollanruf bei Bernie, schon um die polizeiliche Anweisung, sich von Lydia Zamir fernzuhalten, mit Nachdruck zu verstärken. Sie war immer noch ziemlich gedämpft und bußfertigen Gemüts.
»Ich verspreche es, Vic. Sowieso hab ich bloß eine Woche, um Softball zu lernen. Das ist meine neue Aufgabe als Coach, glaubt man das? Fußball ist wenigstens ein bisschen wie Eishockey, da geht es immer hin und her, aber Softball – rumstehen und Kaugummi kauen. Wie soll man denn Teamgeist mobilisieren, während man wie beim Arzt im Wartezimmer darauf wartet, dass etwas passiert?«
»Lass sie doch im Chor ›Savage‹ singen«, schlug ich vor. »Das wird alle in Stimmung bringen, während sie warten.«
Bevor sie auflegte, sagte Bernie in beiläufigem Ton: »Vic, erinnerst du dich an Leo? Leo Prinz?«
»Ich glaube nicht«, sagte ich.
»Er hielt die Rede über den Strand am Lake Michigan, und dieser Verrückte wollte sich auf ihn stürzen. Du warst dabei.«
»Stimmt«, bestätigte ich. Die Aufregung um Zamir, Coop und Bernies nächtliche Festnahme hatte die SLICK-Versammlung aus meinem Gedächtnis verdrängt. »Was ist mit ihm?«
»Sie wollen jetzt doch, dass er seinen Vortrag zu Ende hält. Offenbar hat irgendwer aus dem Viertel der SLICK-Frau klargemacht, dass sie sich nicht wie ein Diktator benehmen kann, also soll er die ganze Präsentation vorstellen. Ich hab versprochen, dass ich komme. Ich dachte, du kommst vielleicht mit. Du weißt schon, falls ihn wieder jemand angreift.«
»Nimm deinen Eishockeyschläger mit«, schlug ich vor. »Du bist stürmischer als Leo und ich zusammen.«
»Nein, bitte, Vic. Angela muss an dem Tag mit ihren Mädchen nach Blue Island. Ich will jemand dabeihaben, den ich kenne.«
»Du kennst doch Leo«, sagte ich.
»Ich sims dir noch Tag und Uhrzeit«, sagte sie leichthin, als hätte ich zugestimmt.
»Bernie!«, rief ich entrüstet, aber sie hatte aufgelegt.
Fünf Minuten später bekam ich ihre SMS mit dem Termin der SLICK-Versammlung, angesetzt in ein paar Tagen. Ich löschte die Nachricht, aber beim Abendessen mit Peter beklagte ich mich über Bernies rigorose Ansprüche.
Peter lachte. »Sie ist ungestüm genug für zwei bis drei. So wie du auch, Vic. Nur bei dir kommt noch der Wunsch dazu, die Welt besser zu machen, was bedeutet, dass du dauernd versuchst, dich um allerlei Strolche zu kümmern, auch wenn du dich über sie beklagst.«
»Ist das ein Kompliment oder eine Beschwerde?«, sagte ich.
»Es ist das, wofür ich dich liebe«, sagte er ruhig. »Und der Grund, warum ich mir Sorgen mache, wenn deine Leidenschaft dich auf gefährliche Pfade führt.«
Meine Kehle wurde eng; ich konnte nichts sagen, langte aber über den Tisch, um seine Hand zu drücken.
Am nächsten Tag hatte ich ein Klientenmeeting im South Loop, nur zehn Minuten Fahrt von der Unterführung, in der Zamir hauste. Sie spielte nicht, und ich brauchte einen Augenblick oder zwei, um sie in ihrem Nest auszumachen, ihre Lumpen verschwammen fast konturlos mit der dreckigen Betonwand. Darum hatte ich sie übersehen, als ich gestern vorbeiging. Ich stand etwas zu lange da und betrachtete sie – sie bemerkte mich, wimmerte und umklammerte ihr Piano, das unter einer Decke begraben gewesen war.
Peters Beschreibung war mir zu grandios – dass ich versuche, die Welt besser zu machen –, aber es stimmt, dass jemand so Versehrtes und Hilfsbedürftiges wie diese Frau in mir den Drang auslöst, etwas zu unternehmen. Mir fiel nur nichts ein, was ich tun könnte und nicht schon getan hatte. Spontan schrieb ich meine Privatadresse und Festnetznummer auf die Rückseite einer meiner Karten und ließ sie am Rand ihrer Decke liegen.
»Bitte rufen Sie mich an oder kommen Sie vorbei, wenn Sie das Gefühl haben, dass ich Ihnen helfen könnte.«
Immerhin tauchte bei diesem Besuch kein Coop auf. Aber zwei Tage später platzte er mit bestialischem Furor in mein Leben.
Ich kam gerade von einem frühen Lauf mit den Hunden, da standen er und Bär vor meinem Haus. Sobald Coop mich erblickte, stürmte er auf mich los, in der Hand eine zerknüllte Zeitung. »Haben Sie das verbrochen? Nachdem ich Ihnen extra eingeschärft habe, wegzubleiben?«
»Was denn verbrochen?«, fragte ich. »Eine Zeitung auf Ihrem Rasen liegen lassen? Ich weiß gar nicht, wo Sie wohnen, und selbst wenn, würde ich nicht in Ihr Leben platzen wie der Ätna beim Ausbruch.«
»Verdammte Scheiße, spielen Sie hier nicht die Unbeteiligte.« Er zitterte vor Wut, so sehr, dass er die Zeitung fallen ließ, als er sie mir vor die Nase halten wollte.
Ich hob sie auf und drehte ihm den Rücken zu, damit ich sie lesen konnte. Der Textkasten über dem Knick war fett gedruckt und schwarz umrandet.
Unter dem Knick waren zwei Fotos von Lydia. Das erste war bei einem Auftritt im Queen Elisabeth Theatre in Vancouver entstanden. Da trug sie eine schlichte weiße Tunika über schwarzen Hosen. Der Fotograf hatte sie mit den Händen auf den Tasten eingefangen, die Augen halb geschlossen, die Miene angespannt, als sie sich ganz auf den Ort in ihrem Inneren konzentrierte, wo die Musik lebte.
Das zweite Bild zeigte sie in der Unterführung. Wie der Schnappschuss vom Konzert war es ohne Zamirs Wissen aufgenommen, mit Weitwinkelobjektiv, und zeigte sie in ihren verdreckten Decken sitzend, wild auf ihr Piano einhämmernd. Wie auf dem Konzertfoto waren ihre Augen halb geschlossen, die Aufmerksamkeit ganz nach innen gerichtet. Ein Spuckefaden hing aus ihrem Mundwinkel.
Mir drehte sich der Magen um. WAS GESCHAH MIT DER BRILLANTEN MUSIKERIN?, fragte die Headline, doch bevor ich den Artikel lesen konnte, hatte Coop mir die Zeitung entrissen.
»Und? Wollen Sie etwa leugnen, dass Sie das angezettelt haben?«
»Ich hab das nicht angezettelt«, sagte ich. »Also es war nur, weil –«
»Gottverdammte Scheiße!« Er zerknüllte die Zeitung und schleuderte sie zu Boden. »Wo ich Ihnen extra noch gesagt habe – Sie gewarnt habe –«
»Ich hab Ihnen letztes Mal schon gesagt, dass ich auf Drohungen nicht reagiere. Mitch! Peppy! Wir gehen.«
Ich marschierte an ihm vorbei, aber er packte von hinten meine Schulter, als ich gerade die Haustür aufschloss. »Nein!«, fauchte ich, duckte mich unter seinem Arm weg und rammte ihm den Ellbogen in die Rippen.
Ich drehte mich um und ging in Stellung, die Tür im Rücken, bereit zuzutreten, wenn er mich erneut anging, aber der Hieb in die Rippen wirkte wie eine kalte Dusche. Er ließ die Arme sinken und trat ein paar Schritte zurück. Seine Gesichtsfarbe wechselte von Rostrot zu normaler Sonnenbräune.
Alle drei Hunde hatten scharf aufgebellt – Gefahr! –, aber gezögert, ob sie eingreifen mussten: Was sollten sie tun, wenn zwei gute Hundemenschen aufeinander losgingen? Sie hörten auf zu bellen, als Coop zurücktrat, aber umkreisten uns weiter angespannt hechelnd.
Der Lärm hatte Mr. Contreras aufgeschreckt. Er kam in seinem magentarosa Pyjama aus dem Haus gestürmt und schwenkte einen Hammer. »Was ist hier los? Wer ist dieses Scheusal? Ich hab gesehen, wie er dich angepackt hat, Cookie – soll ich ihm Vernunft einbläuen?«
Coop sagte: »Ich weiß nicht, wer Sie sind, aber das Scheusal hier ist Ihre Cookie: Sie hat einer extrem zerbrechlichen Frau einen Aasgeier auf den Hals gehetzt.«
»Was zum Teufel wollen Sie damit sagen, junger Mann?«, empörte sich Mr. Contreras.
»Murray«, sagte ich rasch, bevor mein Nachbar einen Gang höher schaltete. »Er hat eine Story über eine Frau geschrieben, die in einer Unterführung haust. Wie sich zeigt, war sie früher eine bedeutende Songschreiberin. Murray fand, das könnte die Auflage steigern oder die Anzeigenkunden des Star glücklich machen.«
Mr. Contreras brauchte einen Augenblick, um das zu verdauen: Er ist über neunzig, noch glasklar, gesund und munter, aber manches dauert einfach ein bisschen länger. Nach einer Pause fragte er mich: »Du hast Ryerson da hingeschickt, um diese Frau zu behelligen?«
»Nein«, sagte ich im selben Moment, als Coop »Ja« sagte.
»Mit Ihnen rede ich nicht«, sagte Mr. Contreras zu Coop. Mich fragte er: »Was ist passiert?«
Ich erzählte ihm, was ich von Lydias Geschichte wusste. »Ihre Musik war was ganz Eigenes, als sie noch auftrat – sie hat Klassik mit Beats und Rhythmen von indigenen Völkern beider Amerikas verwoben. Dieser Typ hier, er nennt sich Coop –«
»Weil das mein scheiß Name ist«, knurrte Coop.
»Achten Sie in Gegenwart von Damen auf Ihre Sprechweise, junger Mann«, rügte Mr. Contreras.
Coop öffnete und schloss ein paarmal den Mund, sagte aber nichts – diese Wirkung hat Mr. Contreras häufig auf jüngere Männer.
»Also jedenfalls will er Lydia unbedingt beschützen, er hat Bernie und mich gewarnt, sie ja in Ruhe zu lassen. An meinem Geburtstag hab ich Peter Sansen und Sal von ihr erzählt, und Murray war dabei. Er fand, es könnte ein interessanter Stoff für eine Serie werden. Ich hatte das völlig vergessen wegen der Aufregung um Bernies Festnahme – die Coop ihr eingebrockt hat!«
Ich starrte ihn finster an, aber er war schon wieder auf hundertneunzig. »Also war es doch Ihre Schuld«, brüllte er. »Wir hatten heute früh mehrere Fernsehteams da unten. Ich halte ihre Identität geheim, weil sie nicht will, dass Leute sie anbaggern, aber dank Ihnen und Ihrem Freund Murray ist sie fast unter einem Zug gelandet. Sie ist vor den Kameras weggerannt, die Treppen hoch und auf die Gleise.«
»Ist sie verletzt?«, rief ich.
»Fahrgäste haben sie gerade noch rechtzeitig von den Schienen geholt.«
»War sie beim Arzt?«, drängte ich. »Wo ist sie jetzt?«
»Warum sollte ich Ihnen denn sagen, wo sie steckt? Damit Sie den nächsten Reporter auf sie hetzen? Die gottverdammte Story hat die Behörden auf den Plan gerufen, Cops und Stadtreinigung. Die haben alles weggetragen – absolut alles – und irgendwo entsorgt. Ich kann das Piano nicht finden, ich weiß nicht, wo ihr Schlafsack ist – Sie verfluchtes scheiß Miststück!«
»Kein Grund, so zu reden, junger Mann. Sie müssen dringend Manieren lernen«, sagte Mr. Contreras.
»Ach Scheiße, ich rede, wie es mir passt. Und Sie, Cookie, lassen Sie verdammt noch mal Lydia in Ruhe.« Er rief Bär bei Fuß und marschierte davon.
Sein Aufbruch wirkte wie die Ruhe nach dem Sturm. Die Empörung hatte ihn hierher zur North Side getrieben, aber er hatte wohl gar nicht gewusst, was er eigentlich unternehmen wollte, wenn er mich fand. Vielleicht einfach nur irgendwen zusammenbrüllen angesichts einer Situation, gegen die er machtlos war.